S. 142 / Nr. 24 Familienrecht (d)

BGE 73 II 142

24. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 26. Juni 1947 i. S.
Einwohnergemeinde Bern gegen Leuenberger.


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Regeste:
Unterstützungspflicht der Geschwister, Art. 329 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 329 - 1 Der Anspruch auf Unterstützung ist gegen die Pflichtigen in der Reihenfolge ihrer Erbberechtigung geltend zu machen und geht auf die Leistung, die zum Lebensunterhalt des Bedürftigen erforderlich und den Verhältnissen des Pflichtigen angemessen ist.
1    Der Anspruch auf Unterstützung ist gegen die Pflichtigen in der Reihenfolge ihrer Erbberechtigung geltend zu machen und geht auf die Leistung, die zum Lebensunterhalt des Bedürftigen erforderlich und den Verhältnissen des Pflichtigen angemessen ist.
1bis    Kein Anspruch auf Unterstützung kann geltend gemacht werden, wenn die Notlage auf einer Einschränkung der Erwerbstätigkeit zur Betreuung eigener Kinder beruht.464
2    Erscheint die Heranziehung eines Pflichtigen wegen besonderer Umstände als unbillig, so kann das Gericht die Unterstützungspflicht ermässigen oder aufheben.465
3    Die Bestimmungen über die Unterhaltsklage des Kindes und über den Übergang seines Unterhaltsanspruches auf das Gemeinwesen finden entsprechende Anwendung.466
ZGB.
Der Ausdruck «günstige Verhältnisse», den der deutsche Gesetzestext verwendet,
ist entsprechend dem französischen und italienischen Text im Sinne von
«Wohlstand» auszulegen.
Obligation d'entretien des frères et soeurs, art. 329 al. 2 CC.
L'expression «günstigeVerhältnisse» dont se sert le texte allemand doit
s'entendre dans le sens qu'ont en français le mot «aisance» et en italien les
mots «condizioni agiate».
Obbligo di assistenza dei fratelli e delle sorelle. Art. 329 op. 2 CC.
La dicitura «günstige Verhältnisse», che ricorre nel testo tedesco di
quest'articolo, dev'essere intesa nel senso che hanno in francese la parola
«aisance» e in italiano le parole «condizioni agiate».

3. ­ Während die deutsche Fassung von Art. 329 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 329 - 1 Der Anspruch auf Unterstützung ist gegen die Pflichtigen in der Reihenfolge ihrer Erbberechtigung geltend zu machen und geht auf die Leistung, die zum Lebensunterhalt des Bedürftigen erforderlich und den Verhältnissen des Pflichtigen angemessen ist.
1    Der Anspruch auf Unterstützung ist gegen die Pflichtigen in der Reihenfolge ihrer Erbberechtigung geltend zu machen und geht auf die Leistung, die zum Lebensunterhalt des Bedürftigen erforderlich und den Verhältnissen des Pflichtigen angemessen ist.
1bis    Kein Anspruch auf Unterstützung kann geltend gemacht werden, wenn die Notlage auf einer Einschränkung der Erwerbstätigkeit zur Betreuung eigener Kinder beruht.464
2    Erscheint die Heranziehung eines Pflichtigen wegen besonderer Umstände als unbillig, so kann das Gericht die Unterstützungspflicht ermässigen oder aufheben.465
3    Die Bestimmungen über die Unterhaltsklage des Kindes und über den Übergang seines Unterhaltsanspruches auf das Gemeinwesen finden entsprechende Anwendung.466
ZGB die
Unterstützungspflicht der Geschwister davon abhängig macht, dass sie «sich in
günstigen Verhältnissen befinden», fordern die romanischen Fassungen, dass sie
«vivent dans l'aisance», «si trovino in condizioni agiate». Die Verhältnisse,
in denen die Geschwister sich befinden müssen, wenn sie zur
Verwandtenunterstützung verpflichtet sein sollen, werden damit genauer
umschrieben, als es im deutschen Text mit dem an sich wenig bestimmten
Ausdruck «günstig» geschieht. Die deutlichere Fassung gibt im Zweifel den
Ausschlag. Um als günstig im Sinne von Art. 329 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 329 - 1 Der Anspruch auf Unterstützung ist gegen die Pflichtigen in der Reihenfolge ihrer Erbberechtigung geltend zu machen und geht auf die Leistung, die zum Lebensunterhalt des Bedürftigen erforderlich und den Verhältnissen des Pflichtigen angemessen ist.
1    Der Anspruch auf Unterstützung ist gegen die Pflichtigen in der Reihenfolge ihrer Erbberechtigung geltend zu machen und geht auf die Leistung, die zum Lebensunterhalt des Bedürftigen erforderlich und den Verhältnissen des Pflichtigen angemessen ist.
1bis    Kein Anspruch auf Unterstützung kann geltend gemacht werden, wenn die Notlage auf einer Einschränkung der Erwerbstätigkeit zur Betreuung eigener Kinder beruht.464
2    Erscheint die Heranziehung eines Pflichtigen wegen besonderer Umstände als unbillig, so kann das Gericht die Unterstützungspflicht ermässigen oder aufheben.465
3    Die Bestimmungen über die Unterhaltsklage des Kindes und über den Übergang seines Unterhaltsanspruches auf das Gemeinwesen finden entsprechende Anwendung.466
ZGB gelten zu können,
muss die Lage der Geschwister demnach so beschaffen sein, dass sie die
Bezeichnung Wohlstand, Wohlhabenheit verdient.
In dem von der Klägerin angezogenen Entscheide BGE 42 II 540 heisst es
freilich, die Worte «vivent dans l'aisance» seien nicht buchstäblich im Sinne
von «vivent effectivement dans l'aisance» auszulegen, sondern es komme ihnen
die gleiche Bedeutung wie der deutschen Fassung zu, wonach es genüge, dass die
Geschwister sich «dans une situation favorable» befinden. Damit wollte jedoch
das Bundesgericht, wie aus seinen weitern

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Erwägungen hervorgeht, keineswegs sagen, dass die Geschwister nicht «aisés» zu
sein brauchen, um zur Verwandtenunterstützung herangezogen zu werden. Es
sollte vielmehr nur festgestellt werden, dass ihre wirkliche Lebensführung
nicht diejenige eines Wohlhabenden zu sein brauche, sondern dass ihre
Unterstützungspflicht schon dann zu bejahen sei, wenn sie «peuvent vivre dans
l'aisance», d. h. wenn ihre Verhältnisse ihnen ein Leben im Wohlstande
erlauben.
Vom Erfordernis hablicher Verhältnisse ist das Bundesgericht auch in seiner
seitherigen Rechtsprechung nicht abgewichen. In BGE 45 II 511 wurde zwar
gesagt, als «günstig» seien die Verhältnisse des Belangten nicht nur dann zu
betrachten, wenn ihm der Besitz von Vermögen, sondern auch wenn ihm sein
Erwerb «die Unterstützung ohne wesentliche Beeinträchtigung der eigenen
Lebenshaltung gestattet». Wörtlich genommen, würde diese Formel den Kreis der
unterstützungspflichtigen Geschwister stark erweitern, da schliesslich auch
der wenig Bemittelte in der Regel noch etwas (sei es auch nur ein ganz
Geringes) abgeben kann, ohne dadurch in seiner Lebenshaltung wesentlich
beeinträchtigt zu werden, d. h. ohne sich wesentlich mehr einschränken zu
müssen, als er es vielleicht sonst schon tun muss. Eine Auslegung, welche die
Geschwister fast immer unterstützungspflichtig werden lässt und sie lediglich
bei der Bemessung der Beiträge gegen eine «allzu starke Beeinträchtigung der
eigenen Bedürfnisse» schützt, ist jedoch mit dem Wortlaut des Gesetzes
schlechthin unverträglich. Aus dem erwähnten Entscheide (der lediglich die
Frage betraf, ob eine verheiratete Schwester ohne jedes eigene Vermögen und
ohne jeden eigenen Erwerb zur Unterstützung herangezogen werden könne) dürfen
daher keine so weitgehenden Schlüsse gezogen werden. Vielmehr ist anzunehmen,
dass jener Entscheid dort, wo er von der eigenen Lebenshaltung spricht,
stillschweigend diejenige eines Wohlhabenden voraussetzt, und dass er demnach
die Unterstützungspflicht der

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Geschwister dem Grundsatze und dem Masse nach davon abhängig machen will, ob
und wieweit sie ohne wesentliche Beeinträchtigung einer derartigen
Lebenshaltung Unterstützungsbeiträge aufbringen können. Auf dieser Auffassung
beruht BGE 59 (1933) II 2, wo erklärt wurde, die Verhältnisse des Belangten,
der (beim damaligen niedrigen Stande der Lebenskosten!) über ein Vermögen von
Fr. 40,000.­ und ein Einkommen von Fr. 10,500.­ verfügte, seien angesichts der
Tatsache, dass er nur für sich und seine Ehefrau sorgen müsse, «noch» als
günstige zu bezeichnen, und der geforderte Beitrag von Fr. 60.­ pro Monat sei
nicht übersetzt, da der Belangte ohne Zweifel so viel abgeben könne, ohne dass
dadurch seine eigene (d. h. die seinen hablichen Verhältnissen entsprechende)
Lebenshaltung wesentlich beeinträchtigt würde.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 73 II 142
Date : 01. Januar 1947
Published : 25. Juni 1947
Source : Bundesgericht
Status : 73 II 142
Subject area : BGE - Zivilrecht
Subject : Unterstützungspflicht der Geschwister, Art. 329 Abs. 2 ZGB.Der Ausdruck «günstige Verhältnisse»...


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