S. 23 / Nr. 5 Organisation der Bundesrechtspflege (d)

BGE 72 I 23

5. Urteil vom 11. März 1946 i. S. Stähli und Genossen gegen Regierungsrat des
Kantons Glarus.

Regeste:
Aufhebung eines Beschlusses der Gemeindeversammlung durch die staatliche
Aufsichtsbehörde. Beschwerde wegen Verletzung der verfassungsmässigen
Gemeindeautonomie. Beschwerdelegitimation des einzelnen stimmberechtigten
Gemeindeeinwohners?
Annulation d'une décision d'une assemblée communale par l'autorité de
surveillance, organe de l'Etat. Recours pour violation du principe
constitutionnel de l'autonomie communale. Tout habitant de la commune qui
jouit du droit de vote a-t-il qualité pour recourir?
Annullamento d'una decisione d'un'assemblea comunale da parte dell'autorità di
vigilanza, organo dello Stato. Ricorso per violazione del principio
costituzionale dell'autonomia comunale. Ha il singolo abitante del comune la
veste per ricorrere?


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(Gekürzter Tatbestand.)
Die Versammlung der Ortsgemeinde Netstal (Kt. Glarus) beschloss, allen
«Diensttuenden» der Gemeinde (Militär, Hilfsdienst, freiwilliger Hilfsdienst,
Luftschutz, Ortswehr), die seit dem 1. September 1939 mehr als 30 Tage Dienst
geleistet hatten, für jeden während des Wohnsitzes in der Gemeinde geleisteten
Diensttag eine Entschädigung von 30 Rp. auszurichten. Auf Beschwerde von
Gemeindeeinwohnern hob der Regierungsrat des Kantons Glarus diesen Beschluss
auf, weil er über den der Gemeinde zugewiesenen Wirkungskreis (§ 6 des
Gemeindegesetzes) hinausgehe und auch wegen der finanziellen Folgen gegen das
staatliche Recht verstosse (§ 34 des Gemeindegesetzes = Art. 73 KV, §§ 96, 97
des kantonalen Steuergesetzes). Nach § 6 des glarnerischen Gesetzes über das
Gemeindewesen sind die Gemeinden befugt, alle auf den innern Haushalt und das
Gemeinwohl bezüglichen Gesetze und Verordnungen zu erlassen und Beschlüsse zu
fassen, soweit diese nicht Verfassung, Gesetzen oder Verordnungen des Bundes
oder Kantons widersprechen. § 34 des nämlichen Gesetzes (wörtlich
übereinstimmend mit Art. 73 KV) bestimmt, dass das vorhandene
Gemeindevermögen, ausserordentliche Bedürfnisse vorbehalten, ungeschmälert
erhalten bleiben müsse und der bisherigen Zweckbestimmung nicht entfremdet
werden dürfe; zugleich zieht er, in Verbindung mit dem kantonalen
Steuergesetz, der Erhebung von Gemeindesteuern bestimmte Schranken.
Gegen den Entscheid des Regierungsrates haben drei stimmberechtigte Einwohner
von Netstal wegen Verletzung der verfassungsmässigen Gemeindeautonomie die
staatsrechtliche Beschwerde ergriffen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. ­ Der Grundsatz der Gemeindeautonomie bezieht sich auf die rechtliche
Stellung der Gemeinde als öffentlichrechtlicher Körperschaft gegenüber dem
Staate. Der

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Gemeinde als solcher, dem Gemeindeverband wird dadurch eine gewisse
Selbstbestimmung, von staatlichen Eingriffen freie Sphäre selbständigen
Handelns eingeräumt. Staatliche - Verfügungen, welche diese Selbstbestimmung
antasten, berühren demnach nur die Rechtsstellung der Gemeinde selbst, nicht
des einzelnen Gemeindegenossen. Nur sie kann infolgedessen dagegen
staatsrechtliche Beschwerde erheben (Art. 88 OG). In einigen frühern
Entscheidungen hat freilich das Bundesgericht die Befugnis hiezu auch dem
einzelnen stimmberechtigten Gemeindeeinwohner zuerkannt, falls die staatliche
Aufsichtsbehörde den Beschluss nicht bloss einer Gemeindebehörde, sondern der
Gemeindeversammlung aufgehoben hatte oder deren Befugnisse durch Einsetzung
einer ausserordentlichen staatlichen Verwaltung (Bevormundung, «mise sous
régie» der Gemeinde) ganz oder teilweise ausgeschaltet worden waren (BGE 20 S.
808 E. 2; 42 I S. 191 E. 1). Doch ist diese Rechtsprechung schon in BGE 46 I
S. 383
E. 1 angezweifelt worden. Die Frage brauchte damals nicht entschieden
zu werden, weil die Beschwerdelegitimation aus einem anderen Grunde als
gegeben angesehen wurde. Auch seither ist sie offen gelassen worden, da die
Beschwerde sich jeweilen ohnehin materiell als offenbar unbegründet erwies
(nicht veröffentlichte Urteile vom 8. Februar 1935 i. S. Rieder und vom 8. Mai
1936 i. S. Weber; im Urteile vom 6. November 1936 i. S. Jolissaint und
Mitbeteiligte ­ Unterstellung der Gemeinde unter eine ausserordentliche
staatliche Verwaltung ­ ist darüber stillschweigend hinweggegangen worden).
Die Auffassung der früheren Urteile ist denn auch nicht haltbar, wenigstens
soweit, wie im vorliegenden Falle, die Aufhebung eines bestimmten, einzelnen
Gemeindebeschlusses wegen inhaltlicher Unzulässigkeit im Streite liegt. Wie es
sich in dem anderen Falle der Bevormundung der Gemeinde und damit der
Ausschaltung der Zuständigkeiten der Gemeindeversammlung überhaupt verhält,
kann dahingestellt bleiben. Massgebend war dabei die Erwägung, dass

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durch eine solche staatliche Verfügung mittelbar auch in das aus der
Mitgliedschaft bei der Gemeinde fliessende Recht des Gemeindebürgers
eingegriffen werde, an der Gemeindeverwaltung (durch Stimmabgabe)
teilzunehmen. Allein dieses Recht kann sich nur auf Beschlüsse beziehen, die
zu fassen die Gemeinde berufen und befugt ist. Der einzelne stimmberechtigte
Gemeindeeinwohner wäre darin nur beeinträchtigt, wenn er von der Stimmabgabe
in einer solchen Angelegenheit ausgeschlossen würde. Es wird dagegen nicht,
auch nicht mittelbar dadurch in Frage gestellt, dass die staatliche
Aufsichtsbehörde einen von der Gemeinde gefassten Beschluss deshalb aufhebt,
weil er über den den Gemeinden eingeräumten Wirkungskreis hinausgehe oder
sonst inhaltlich gegen übergeordnetes staatliches Recht verstosse. Wenn
dadurch in rechtlich geschützte Interessen eingegriffen wird, so können es nur
solche der Gemeinde als Körperschaft sein, die mit den natürlichen Personen,
aus denen sie besteht, nicht identisch ist, keinesfalls das Stimmrecht des
einzelnen Gemeindegenossen. Nur ihr wird eine angeblich bestehende Befugnis
entzogen, nämlich die betreffende Angelegenheit durch Körperschaftsbeschluss
selbständig, vom Staate unabhängig zu ordnen. Darüber aber, welche
Angelegenheiten die Gemeinde als in ihre freie Entschliessung fallend für sich
zur selbständigen Erledigung in Anspruch nehmen will, befindet ausschliesslich
sie selbst durch Organe, die zum Handeln für sie berufen sind. Unterzieht sie
sich dem staatlichen Aufsichtsentscheid, der ihr jene Befugnis in einer
bestimmten Sache abspricht, indem sie ihn nicht weiterzieht, und anerkennt sie
damit stillschweigend dessen Rechtmässigkeit, so kann es einer Minderheit von
Gemeindeeinwohnern nicht zukommen, ihre abweichende Ansicht der Mehrheit
aufzuzwingen. Jedenfalls läset sich die Befugnis hiezu nicht aus dem Anspruch
auf Teilnahme bei der Willensbildung innert der Gemeinde herleiten. Bei der
Beschwerde wegen Übergriffs der vollziehenden Gewalt in die gesetzgebende
Gewalt des Volkes oder wegen

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Missachtung des Finanzreferendums genügt freilich nach der Praxis für die
Legitimation das Stimmrecht des Bürgers, sein Recht auf Mitwirkung bei der
Gesetzgebung oder bei bestimmten Ausgabebeschlüssen (BGE 71 I S. 311 und dort
zitierte Urteile; nicht veröffentlichter Entscheid i. S. Stuber vom 19.
November 1945). Dieser Unterschied lässt sich aber damit rechtfertigen, dass
die Garantie des Mitwirkungsrechts des Volkes in Gesetzgebung und Verwaltung
im Gegensatz zur Gewährleistung der Gemeindeautonomie nicht speziell den
Schutz einer öffentlichrechtlichen Korporation bezweckt, sondern allgemein und
unmittelbar den einzelnen Bürger schützt. Das Stimmvolk als Gesamtheit ist als
blosses Staatsorgan nicht zur Beschwerde wegen Verletzung der Gewaltentrennung
an Stelle des einzelnen Bürgers befugt und hat übrigens auch die für eine
solche Beschwerdeführung nötige Organisation nicht (vgl. KIRCHHOFER,
Legitimation zum staatsrechtlichen Rekurs, in Z. f. Schw. R. N. F. 55 S. 152
ff.; HUBER, Garantie der individuellen Verfassungsrechte, in Verhandlungen des
Schweiz. Juristenvereins 1936 S. 126 a ff., 134 a/135 a).
Was für die Berufung auf die kantonalrechtliche Gewährleistung der
Gemeindeautonomie zutrifft, gilt aber auch für die Rüge der Verletzung von
Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV, soweit sie auf einen unzulässigen Eingriff in das
Selbstbestimmungsrecht der Gemeinde gestützt wird.
Dass die Beschwerdeführer in einer anderen Eigenschaft denn als
stimmberechtigte Bürger durch den angefochtenen Entscheid persönlich betroffen
wären, etwa als a Diensttuende», denen der streitige Ehrensold ebenfalls
zukommen würde, wird nicht geltend gemacht. Als Steuerzahler können sie durch
die Aufhebung eines Beschlusses, der für die Gemeinde vermehrte Ausgaben nach
sich ziehen würde, von vorneherein nicht benachteiligt sein. Es braucht daher
nicht geprüft zu werden, ob eine solche Rückwirkung genügen könnte, um die
Beschwerdelegitimation herzustellen (vgl. inbezug auf die Erhöhung der

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Steuerlast den neuesten Entscheid vom 22. Dezember 1945 i. S. Odermatt und
Mitbeteiligte gegen Landrat Nidwalden E. 2).
2.- Auf die Beschwerde ist noch aus einem andern Grunde nicht einzutreten. Wie
in anderen Kantonen, so werden auch in Glarus die Befugnisse der Ortsgemeinde,
ihr eigener Wirkungskreis, nicht durch die Verfassung, sondern durch das
Gesetz umschrieben (Art. 72 KV). Auch Art. 73 KV bestimmt infolgedessen den
Umfang der staatlichen Aufsichtsgewalt nicht erschöpfend, sondern erwähnt nur
einen einzelnen Tatbestand, für den sie jedenfalls vorbehalten bleibt, und
schliesst die Erweiterung auf andere Fragen durch die Gesetzgebung nicht aus.
Durch die Übernahme in das Gemeindegesetz (§ 34) sind überdies die Grundsätze
des Art. 73 KV ebenfalls zu einem Bestandteil der Gesetzgebung geworden und im
Zusammenhang mit dieser auszulegen. Die Anwendung einfachen kantonalen
Gesetzesrechts kann aber der Staatsgerichtshof nur im beschränkten Rahmen von
Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV, der Willkür und Rechtsverweigerung, nachprüfen. Nur in diesem
beschränkten Rahmen steht ihm deshalb auch die Überprüfung der Frage zu, ob
durch einen staatlichen Aufsichtsentscheid die gesetzlichen Vorschriften über
das Selbstbestimmungsrecht der Gemeinden missachtet worden seien (nicht
veröffentlichte Urteile vom 6. Mai 1921 i. S. Einwohnergemeinde Baden E. 1,
vom 8. Mai 1936 i. S. Weber, vom 6. November 1936 i. S. Jolissaint E. 4). Zur
Begründung der staatsrechtlichen Beschwerde hätte deshalb die Behauptung
gehört, dass der Regierungsrat sich durch den angefochtenen Entscheid einer
willkürlichen Überschreitung der ihm zustehenden Aufsichtsgewalt schuldig
gemacht, die in Betracht kommenden Gesetzesvorschriften in einer Weise
ausgelegt habe, die mit deren klarem Wortlaut und Sinn unvereinbar, mit keinen
sachlichen Überlegungen vertretbar sei. Diese Rüge wird aber nicht erhoben.
Die Beschwerdeführer begnügen sich vielmehr, ihre eigene Gesetzesauslegung
derjenigen des Regierungsrates

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entgegenzusetzen und diese als irrtümlich hinzustellen. Es fehlt demnach an
der Geltendmachung eines Mangels des angefochtenen Entscheides, der die
Zuständigkeit des Staatsgerichtshofes begründen könnte.
Demnach erkennt das Bundesgericht: Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 72 I 23
Datum : 01. Januar 1946
Publiziert : 11. März 1946
Quelle : Bundesgericht
Status : 72 I 23
Sachgebiet : BGE - Verwaltungsrecht und internationales öffentliches Recht
Gegenstand : Aufhebung eines Beschlusses der Gemeindeversammlung durch die staatliche Aufsichtsbehörde...


Gesetzesregister
BV: 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
OG: 88
BGE Register
46-I-381 • 71-I-308 • 72-I-23
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
gemeinde • regierungsrat • gemeindeautonomie • stimmberechtigter • kv • frage • staatsrechtliche beschwerde • gemeindegesetz • weiler • bundesgericht • gemeindeversammlung • beschwerdelegitimation • entscheid • autonomie • kantonales steuergesetz • verfassung • stimmabgabe • legitimation • verfassungsrecht • stimmvolk
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