S. 165 / Nr. 26 Organisation der Bundesrechtspflege (d)

BGE 68 I 165

26. Urteil vom 15. Juni 1942 i. S. Meyer gegen Kriminal- und Anklagekommission
des Obergerichtes des Kantons Luzern.


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Regeste:
Gegen blosse Zwischenentscheide in Zivil- und Strafprozesssachen ist die
staatsrechtliche Beschwerde wegen Rechtsverweigerung nur dann zulässig, wenn
der Entscheid für den Beschwerdeführer bereits einen bleibenden rechtlichen
Nachteil nach sich zieht, der selbst durch ein ihm günstiges Endurteil in der
Sache nicht mehr oder doch nicht vollständig behoben werden könnte.
Das gilt uneingeschränkt auch für Überweisungsbeschlüsse in Strafsachen.
Le recours de droit public pour arbitraire formé contre un jugement incident,
civil ou pénal, n'est recevable que dans le cas où le jugement cause déjà à
l'intéressé un préjudice juridique permanent et qui, lors même que le jugement
qui met fin à l'instance lui serait favorable, ne pourrait plus être réparé ou
tout au moins ne pourrait pas l'être complètement.
Cette règle s'applique aussi aux ordonnances de renvoi et aux arrêts de mise
en accusation.
Il ricorso di diritto pubblico per diniego di giustizia contro una sentenza
incidentale civile o penale è ricevibile soltanto se questa sentenza causa già
all'interessato un pregiudizio giuridico permanente che, anche se il giudizio
di merito gli fosse favorevole, non potrebbe più essere riparato o non
potrebbe almeno essere riparato completamente.
Questa regola è applicabile anche ai decreti di messa in istato d'accusa.

A. ­ Gegen den Rekurrenten Meyer sind Strafanzeigen (-klagen) eingereicht
worden:
1. von Frau Lindenmeier-Suter, Frau Bachmann, Ernst und Fritz Suter wegen
Betruges, eventuell Unterschlagung oder ungetreuer Geschäftsführung;
2. von Ernst Jost wegen Unterschlagung, eventuell Wuchers oder ungetreuer
Geschäftsführung.
Im Falle 1 erkannte die Kriminalkommission des Statthalteramtes Luzern-Stadt
nach durchgeführter Untersuchung am 15. Dezember 1941, die Sache eigne sich
zur kriminellen Beurteilung. Sie nahm an, dass Betrug im kriminellen Betrage
vorliege. Eventuell wäre der

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Tatbestand der beschwerten Unterschlagung nach § 216 Ziff. 2 litt. a
KriminalStrG gegeben (ebenfalls ein kriminelles Vergehen) oder der ungetreuen
Geschäftsführung nach § 116 PolStrG.
Im Falle 2 verneinte der Amtsstatthalter von Luzern-Stadt den Tatbestand der
Unterschlagung, nahm dagegen Wucher und ungetreue Geschäftsführung nach § 110
und § 116 PolStrG an. Das Erkanntnis des Amtsstatthalters vom 19. Januar 1942
ging deshalb dahin, dass sich die Sache wegen dieser Vergehen zur kriminellen
Mitbeurteilung eigne, mit Rücksicht auf den ausserdem hängigen Fall
Lindenmeier.
Gegen beide Erkanntnisse rekurrierte Meyer an die Kriminal- und
Anklagekommission des Obergerichtes. Er beantragte:
a) die Untersuchung sei an das Statthalteramt zurückzuweisen zur
Vervollständigung (durch Beiziehung bestimmter Urkunden, Einvernahme je eines
Zeugen und im Falle Jost überdies des Privatklägers);
b) die Sache sei fallen zu lassen unter Kostenfolge für die Privatkläger.
Durch Entscheid vom 28. April 1942 erkannte indessen die Kriminal- und
Anklagekommission des Obergerichtes:
«Meyer ist in Anklagezustand versetzt und dem Kriminalgericht zur Beurteilung
überwiesen.»
Die Begründung lautet kurz dahin, dass es dem Strafrichter überlassen werden
müsse, zu prüfen, ob der Tatbestand des Betruges «ohne Vervollständigung»
nicht schon dadurch erfüllt sei, dass der als Inkassomandatar zur
Auskunftserteilung verpflichtete Beklagte den Auftraggebern die Höhe des ohne
Prozess erzielten Ergebnisses verschwiegen und dadurch Saldoquittungen
veranlasst habe, die bei Kenntnis des Sachverhalts kaum ausgestellt worden
waren. Gemeint ist, auch wenn die Tatsachen bewiesen würden, auf die sich die
beantragten Ergänzungen der Untersuchung beziehen sollten, bliebe noch immer
der dadurch nicht berührte und durch das übrige Untersuchungsergebnis
gerechtfertigte Verdacht (§§ 52, 62 StrV)

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eines Betrugs durch Verschweigen im angegebenen Sinne bestehen.
B. ­ Mit der vorliegenden staatsrechtlichen Beschwerde stellt Meyer das
Begehren: der Entscheid der Kriminal- und Anklagekommission des Obergerichts
sei aufzuheben und die Sache an die beschwerdebeklagte Behörde zurückzuweisen
zu neuer Beurteilung und «Entgegennahme der Rekursanträge».
Als Beschwerdegrund wird Verletzung von Art. 4
SR 101 Costituzione federale della Confederazione Svizzera del 18 aprile 1999
Cost. Art. 4 Lingue nazionali - Le lingue nazionali sono il tedesco, il francese, l'italiano e il romancio.
BV (materielle und formelle
Rechtsverweigerung) geltend gemacht und ausgeführt: die neuere Rechtsprechung
des Bundesgerichtes lasse zwar die staatsrechtliche Beschwerde gegen
Überweisungsbeschlüsse in Strafsachen grundsätzlich nicht mehr zu, sondern
verweise den Beschwerdeführer auf die Anfechtung eines ihm ungünstigen
Endurteils (BGE 63 I S. 313). Immerhin sei eine Ausnahme für den Fall
vorbehalten worden, dass der Beschwerdeführer ein unmittelbares und genügendes
Interesse daran dartun könne, die Verfassungswidrigkeit der angefochtenen
Verfügung schon jetzt, vor dem Endurteil feststellen zu lassen. Ein solches
Interesse liege aber jedenfalls dann vor, wenn
a) der Überweisungsbeschluss auf einer Aktenwidrigkeit beruhe,
b) diese Aktenwidrigkeit zur Folge gehabt habe, dass auf
Vervollständigungsbegehren nicht eingetreten und der Beschwerdeführer so um
die ihm im Untersuchungsstadium zustehenden Parteirechte gebracht worden sei.
Hier sei die Voraussetzung, auf die sich die Überweisung des Beschwerdeführers
an das Kriminalgericht stütze, nämlich die angebliche Verschweigung des
Inkassoergebnisses gegenüber den Auftraggebern im Falle Lindenmeier,
offensichtlich aktenwidrig (was nachzuweisen versucht wird). Andererseits habe
sich die Anklagekommission des Obergerichts deshalb mit den
Vervollständigungsbegehren des Beschwerdeführers überhaupt nicht befasst, wozu
sie sonst (ohne die Annahme eines schon in jenem Verschweigen liegenden
kriminellen Tatbestandes, Betruges) nach kantonalem Prozessrecht verpflichtet
gewesen wäre.

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Auch bei Behebung der gerügten Aktenwidrigkeit bliebe zwar noch die
Möglichkeit der Überweisung an das Amtsgericht wegen der vom Statthalteramt ­
zum Teil eventuell ­ angenommenen korrektionellen Tatbestände (ungetreue
Geschäftsführung, Wucher). Die verlangte Aktenvervollständigung werde aber
ergeben, dass auch diese Gesetzesbestimmungen nicht zuträfen. Schon das blosse
Erscheinen als Angeklagter vor Kriminalgericht belaste zudem den Betroffenen
mit einem lange nachwirkenden Makel.
Im Erkanntnis des Statthalteramtes vom 19. Januar 1942 werde freilich die
Frage aufgeworfen, ob der Beschwerdeführer nicht auch im Falle Jost einen
Betrug begangen habe, zwar nicht zum Nachteil des Strafklägers, aber der
Gegenpartei. In der Untersuchung sei aber dem Beschwerdeführer dieser Vorhalt
nie gemacht worden. Er habe deshalb nicht nachträglich in das Verfahren
einbezogen werden dürfen, ohne dass dem Beschuldigten Gelegenheit zur
Verteidigung dagegen gegeben worden sei. Zum mindesten hätte infolgedessen die
Rekursinstanz auf den dazu gestellten Vervollständigungsantrag eintreten
müssen. Dass sie dies abgelehnt habe, bilde eine weitere Rechtsverweigerung,
die als selbständiger Beschwerdegrund geltend gemacht werde.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. ­ Nach feststehender Rechtsprechung ist die staatsrechtliche Beschwerde
wegen Verletzung von Art. 4
SR 101 Costituzione federale della Confederazione Svizzera del 18 aprile 1999
Cost. Art. 4 Lingue nazionali - Le lingue nazionali sono il tedesco, il francese, l'italiano e il romancio.
BV (Rechtsverweigerung, Willkür) in Zivil- und
Strafprozesssachen nur gegen das Endurteil zulässig, nicht gegen blosse
Zwischenentscheide in einem noch hängigen Prozessverfahren. Eine Ausnahme gilt
nach der grundsätzlichen Entscheidung vom 17. November 1934 i. S.
Schönenberger (BGE 60 I S. 279) nur da, wo der angefochtene Zwischenentscheid
für den Beschwerdeführer bereits einen bleibenden rechtlichen Nachteil nach
sich zieht, der selbst durch ein ihm günstiges Endurteil in der Sache nicht
mehr

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oder doch nicht vollständig behoben werden könnte. Als ein solcher Nachteil
ist die blosse Verlängerung des Verfahrens, d. h. die Tatsache noch nicht
anzusehen, dass durch die Aufhebung des Zwischenentscheides der Prozess
beendigt würde, während er anderenfalls weitergeht (BGE 64 I S. 98).
Zu den Zwischenentscheiden gehört auch der sog. Überweisungsbeschluss in
Strafsachen, d. h. die Verfügung, wodurch jemand nach abgeschlossener
Strafuntersuchung unter der Anklage eines bestimmten Vergehens vor den
Strafrichter gestellt wird. Trotzdem ist in früheren Entscheidungen die
selbständige Beschwerdeführung gegen einen solchen Beschluss zugelassen
worden. Das Bundesgericht liess sich dabei von der Erwägung leiten, dass durch
die «Überweisung» die rechtliche Stellung des Beschwerdeführers dauernd
verändert werde; aus einem Angeschuldigten werde er zum Angeklagten. In dem
vom heutigen Beschwerdeführer angeführten Urteil vom 21. November 1937 (BGE 63
I S. 313
) ist jedoch diese Auffassung aufgegeben worden. Wenn die
Überweisungsverfügung die rechtliche Stellung des Beschwerdeführers in der
erwähnten Weise ändert, so ist doch damit noch kein nicht mehr zu behebender
Nachteil verbunden. Der Beurteilung der Schuldfrage wird durch die Überweisung
nicht vorgegriffen. Sie bleibt nach wie vor in vollem Umfange dem Strafrichter
vorbehalten. Spricht er den Angeklagten frei, so ist dieser ebenso wirksam
rehabilitiert wie durch einen Beschluss auf Einstellung des Verfahrens. Gegen
ein verurteilendes Enderkenntnis aber steht dem Verurteilten die
staatsrechtliche Beschwerde aus Art. 4
SR 101 Costituzione federale della Confederazione Svizzera del 18 aprile 1999
Cost. Art. 4 Lingue nazionali - Le lingue nazionali sono il tedesco, il francese, l'italiano e il romancio.
BV offen.
Wenn gleichwohl auch hier der Fall vorbehalten wurde, wo der Beschwerdeführer
ausnahmsweise ein genügendes unmittelbares Interesse an der sofortigen
Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Verfügung besitzen sollte, so kann
auch damit nur ein bleibender rechtlicher Nachteil im oben angegebenen Sinne
gemeint sein, den die Überweisung aus anderen Gründen als dem eben nicht

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ausreichend erklärten im besonderen Falle für den Beschwerdeführer zur Folge
hätte. Sonst würde sich die Entscheidung mit dem Grundsatz in Widerspruch
setzen, der allgemein für die selbständige Anfechtbarkeit von
Zwischenentscheiden gilt. Das folgt zudem auch schon daraus, wie auf S. 314
oben der Begriff des «intérêt immédiat et suffisant» erläutert wird («Tel est
le cas lorsque le recourant subit ou pourrait subir, du fait de la décision
attaquée, un préjudice juridique, que le jugement au fond, dans l'éventualité
où il lui serait favorable, ne ferait pas ou ne ferait pas entièrement
disparaître».
Auf die Natur des ordentlichen Strafgerichts, vor das der Beschwerdeführer
verwiesen wird, ob korrektionelles Gericht oder Gericht höherer Ordnung
(Kriminal-, Schwurgericht), kann es dabei nicht ankommen; die rehabilitierende
Wirkung eines freisprechenden Urteils ist in beiden Fällen die gleiche.
Ebensowenig darauf, ob mit der Überweisung die Ablehnung eines Antrages auf
vorhergehende Ergänzung der Untersuchung verbunden war, den der
Beschwerdeführer bei der Überweisungsbehörde gestellt hatte. Ein bleibender
Nachteil würde daraus nur hervorgehen, wenn der Angeklagte infolge dieser
ablehnenden Stellungnahme der Überweisungsbehörde mit den davon betroffenen
Beweismitteln auch vom Strafrichter nicht mehr gehört werden könnte. Das wird
aber hier nicht behauptet. Wenn der Beschwerdeführer damit ausgeschlossen sein
sollte, so könnte es nicht die Folge des angefochtenen Entscheides, sondern
nur anderer Umstände sein, die er zu vertreten hat (StrV §§ 173, 175, 193).
Unerheblich ist ferner, unter welcher Bezeichnung die Annahme beanstandet
wird, dass der begründete Verdacht einer strafbaren Handlung (§ 62 StrV)
bestehe, ob wegen «Aktenwidrigkeit» oder allgemeiner wegen willkürlicher
Würdigung der Beweise (d. h. des Untersuchungsergebnisses). Auch die
Aktenwidrigkeit ist bei der staatsrechtlichen Beschwerde aus Art. 4
SR 101 Costituzione federale della Confederazione Svizzera del 18 aprile 1999
Cost. Art. 4 Lingue nazionali - Le lingue nazionali sono il tedesco, il francese, l'italiano e il romancio.
BV nur
eine Erscheinungsform der Rechtsverweigerung, Willkür. Wollte man die

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Anfechtung schon der Überweisungsverfügung statt erst des Endurteils zulassen,
wenn sich die Bestreitung des Schuldverdachts auf jenen Vorwurf stützt, so
müsste sie in allen Fällen gestattet werden, wo der Überweisungsbehörde
Willkür bei der Annahme dieses Verdachtes vorgehalten wird. Damit würde aber
die in BGE 63 I S. 313 ausgesprochene Beschränkung der selbständigen
Beschwerdeführung gegen Überweisungsbeschlüsse auf gewisse allenfalls denkbare
Ausnahmetatbestände praktisch bedeutungslos.
Auch dass der Beschwerdeführer über die eventuelle rechtliche Qualifikation
des Tatbestandes im Falle Jost als Betrug gegenüber der Gegenpartei des
Privatklägers in der Untersuchung nicht vernommen worden wäre, vermag keine
Ausnahme zu begründen, sobald ihm die Verteidigung dagegen vor dem Sachrichter
(Kriminalgericht) in tatsächlicher und rechtlicher Beziehung offensteht. Dass
dies nicht mehr der Fall wäre, wird aber nicht geltend gemacht und es liegt
dafür nichts vor.
Im übrigen würde auch eine gesetzliche Ordnung nicht gegen Art. 4
SR 101 Costituzione federale della Confederazione Svizzera del 18 aprile 1999
Cost. Art. 4 Lingue nazionali - Le lingue nazionali sono il tedesco, il francese, l'italiano e il romancio.
BV
verstossen, nach der der Überweisungsbeschluss lediglich die dem Angeklagten
zur Last gelegten Tatsachen bezeichnet und sich auch die vorangehende
Untersuchung nur hierauf zu erstrecken hat, während die rechtliche
Qualifikation des Vergehens vollständig in das Verfahren vor dem Strafrichter
verwiesen wird (BGE 46 I S. 321 E. 6).
Die Voraussetzungen, unter denen der Staatsgerichtshof schon vor dem Endurteil
angerufen werden könnte, liegen demnach nicht vor.
Demnach erkennt das Bundesgericht.
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.
Vgl. auch Nr. 20 und 23. ­ Voir aussi nos 20 et 23.
Informazioni decisione   •   DEFRITEN
Documento : 68 I 165
Data : 31. dicembre 1942
Pubblicato : 15. giugno 1942
Sorgente : Tribunale federale
Stato : 68 I 165
Ramo giuridico : DTF - Diritto amministrativo e diritto internazionale pubblico
Oggetto : Gegen blosse Zwischenentscheide in Zivil- und Strafprozesssachen ist die staatsrechtliche...


Registro di legislazione
Cost: 4
SR 101 Costituzione federale della Confederazione Svizzera del 18 aprile 1999
Cost. Art. 4 Lingue nazionali - Le lingue nazionali sono il tedesco, il francese, l'italiano e il romancio.
Registro DTF
46-I-313 • 60-I-278 • 63-I-313 • 64-I-97 • 68-I-165
Parole chiave
Elenca secondo la frequenza o in ordine alfabetico
truffa • ricorso di diritto pubblico • decisione incidentale • tribunale federale • usura • affare penale • sospetto • decisione • accusato • motivo di ricorso • tribunale penale • fattispecie • conoscenza • querelante • convenuto • opposizione • procedura • autorizzazione o approvazione • inchiesta penale • motivazione della decisione
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