S. 214 / Nr. 39 Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr (d)
BGE 66 I 214
39. Urteil des Kassationshofes vom 4. November 1940 i. S. Schenkel gegen
Polizeirichteramt der Stadt Zürich.
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Regeste:
Art. 46 Abs. I MFV verbietet das Überholen der haltenden Strassenbahn nicht
schon deswegen, weil ein Fahrzeug entgegen kommt, mit dem das vorfahrende
kreuzen muss, sondern nur, wenn wegen des zu kreuzenden Fahrzeuges Vorfahren
und Kreuzen nicht gleichzeitig bequem ausgeführt werden können.
Die ganz besondere Gefahr, die dem Fussgänger aus der Befugnis gleichzeitig
dieselbe Strassenstrecke benützender Fahrzeuge zum Vorfahren und Kreuzen des
haltenden Tramzuges erwachsen kann, macht die peinliche Einhaltung der
Vorschrift des Art. 61 Abs. 3 MFV, dass nur im Schrittempo vorgefahren werden
dürfe, zur unerlässlichen Notwendigkeit.
L'art. 46 RA n'interdit de dépasser une voiture de tramway arrêtée et de
croiser simultanément un autre véhicule que dans le cas où cela ne peut se
faire commodément.
Cette manoeuvre, toutefois, peut faire courir au piéton un risque
particulièrement sensible. Il est donc indispensable que le conducteur qui
l'exécute observe scrupuleusement l'art. 61 al. 3 RA, selon lequel le
dépassement ne peut avoir lieu qu'à l'«allure d'un homme au pas».
L'art. 46 OrdLCAV vieta di oltrepassare una vettura tramviaria ferma e
d'incrociare simultaneamente un altro veicolo soltanto nel caso in cui ciò non
si possa eseguire comodamente.
Una siffatta manovra può tuttavia esporre il pedone ad un rischio
particolarmente sensibile. È dunque indispensabile che il conducente,
eseguendola, osservi scrupolosamente l'art. 16 cp. 3 dell'Ord LCAV, secondo
cui l'oltrepassare è permesso soltanto «a lenta andatura (passo d'uomo)».
A. - Der Beschwerdebeklagte Schenkel fuhr am Nachmittag des 17. Juli 1939 mit
seinem Personenwagen auf der Seestrasse in Zürich stadtwärts. Bei der
Tramhaltestelle Billoweg fuhr er mit einer Geschwindigkeit von etwa 25 km/Std.
der ebenfalls stadteinwärts gerichteten, stillstehenden Strassenbahn und damit
zugleich zwei hinter dieser anhaltenden Personenautomobilen vor. Aus der
entgegengesetzten Richtung nahten zu gleicher Zeit
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zwei weitere Fahrzeuge, die den Wagen des Nichtigkeitsbeklagten kreuzten. Das
Polizeirichteramt Zürich büsste ihn deswegen am 9. August 1939 in Anwendung
der Art. 26 MFG und 46 sowie 61 MFV mit 5 Fr. Der Gebüsste verlangte
gerichtliche Beurteilung, worauf der Einzelrichter in Strafsachen des
Bezirksgerichts Zürich mit Entscheid vom 18. Juni 1940 ihn der Übertretung von
Verkehrsvorschriften nicht schuldig erklärte, mit der Begründung: die Strasse
sei am Tatort infolge ihrer Breite und Geradlinigkeit übersichtlich und die
zum Überholen erforderliche Strassenstrecke frei gewesen; denn sie enthalte
vier Fahrbahnstreifen nebeneinander, in der Mitte je zwei für die
Strassenbahn, und links und rechts davon je einen für den übrigen Verkehr.
Art. 46 MFV beziehe sich aber nur auf Strassen mit einer Breite, die lediglich
Platz für zwei aneinander vorbeifahrende Fahrzeuge biete, und wolle lediglich
den ungehinderten Verkehr entgegenfahrender Fahrzeuge sicherstellen. Eine
Büssung wegen Widerhandlung gegen Art. 61 MFV könne unterbleiben, nachdem die
Polizeiorgane selbst die eingehaltene Geschwindigkeit als angemessen erachtet
hätten und daher zur Ausfällung einer Busse auf Grund einer nicht
zweifelsfreien Rechtslage keine Veranlassung bestehe
B. - Mit rechtzeitig erhobener Nichtigkeitsbeschwerde beantragt der
Polizeirichter die Aufhebung dieses Entscheides und die Rückweisung der Sache
zu neuer Beurteilung. Es wird geltend gemacht: Art. 46 Abs. 1 MFV sei nicht
teleologisch, sondern grammatikalisch auszulegen; es dürfe darnach nur
überholt werden, wenn die Raumverhältnisse es zuliessen, nicht auch beim
Entgegenkommen anderer Fahrzeuge; auch nach den örtlichen Verhältnissen hätte
nicht überholt werden dürfen. Gegen Art. 61 Abs. 3 MFV habe der Beklagte
dadurch verstossen, dass er das Vorfahrmanöver mit einer Geschwindigkeit von
25 km/Std. ausgeführt habe.
C. - Der Beschwerdebeklagte beantragt die Abweisung der Beschwerde.
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Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.- Der für das Überholen eines Fahrzeuges geltende Grundsatz möglichster
Rücksichtnahme auf die übrigen Strassenbenützer gilt auch für das Vorfahren an
einem stillstehenden Fahrzeug; wer an einem stationierenden Fahrzeug
vorbeifährt, hat, besonders wenn er hiefür die linke Strassenseite benützen
muss, mit vermehrter Vorsicht zu fahren, das Vorfahren insbesondere zu
unterlassen, wenn die Strasse Biegungen oder Kreuzungen aufweist, wenn die zum
Vorfahren erforderliche Strassenstrecke aus irgendwelchen Gründen nicht frei
und übersichtlich ist (Art. 26 Abs. 3 MFG), oder wenn er die entgegenkommenden
Fahrzeugen zugewiesene Zone nicht vor ihrer Ankunft wieder freigeben könnte
(Art. 26 Abs. 1 ). Art. 46 MFV wiederholt diese Grundsätze, gestattet aber
(Abs. 1) das Überholen, auch wenn die dazu erforderliche Strassenstrecke frei
ist, nur, wenn kein anderes Fahrzeug entgegenkommt. Diese Fassung ist
missverständlich. Sie könnte so verstanden werden, wie der Beschwerdeführer es
tut, dass die für das Vorfahren erforderliche Strassenstrecke beim
Entgegenkommen eines andern Fahrzeuges überhaupt nicht als frei betrachtet
werden dürfe. Käme ihr dieser Sinn zu, so ginge sie über das Gesetz hinaus,
das für diesen Fall kein absolutes Vorfahrverbot aufstellen wollte, soweit
nicht die Rücksichtnahme auf die übrigen Strassenbenützer dies gebietet. Sie
kann daher nur besagen, dass das Vorfahren nicht schon deswegen verboten ist,
weil ein Fahrzeug entgegenkommt, mit dem das vorfahrende kreuzen muss, sondern
nur, wenn wegen des zu kreuzenden Fahrzeuges Vorfahren und Kreuzen nicht
gleichzeitig bequem ausgeführt werden können, wenn also die für das Vorfahren
erforderliche Strassenstrecke nicht für ein gleichzeitiges Kreuzen neben dem
zu überholenden Fahrzeug frei ist. Die Notwendigkeit eines absoluten
Vorfahrverbotes bei gleichzeitigem Kreuzen wäre für
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genügend breite Strassen, die beide Manöver bequem zulassen, auch gar nicht
einzusehen.
Dem Beschwerdebeklagten stand für das Vorfahren und Kreuzen eine
Strassenbreite von 5,5 m zur Verfügung. Rechnet man mit einer Breite der
beiden Fahrzeuge von je 2 m und Abständen vom Strassenrand bezw. zwischen den
drei Fahrzeugen von je 50 cm, so liess sich die Durchfahrt, die ja auch
tatsächlich nicht zu einem Zusammenstoss führte, noch bewerkstelligen. Dass
die örtlichen Verhältnisse derart gewesen seien, dass mit einem grösseren
seitlichen Abstand des entgegenkommenden Fahrzeuges vom Strassenrand habe
gerechnet werden müssen, ist aus den Akten und tatsächlichen Feststellungen
nicht zu entnehmen; das Urteil stellt gegenteils die Geradlinigkeit und
Übersichtlichkeit der Strasse ausdrücklich fest. Man mag es missbilligen, dass
der Beschwerdebeklagte das Recht vorzufahren für sich in Anspruch nahm, obwohl
zwei andere Fahrzeuge hinter dem Tramzug anhielten; doch liegen die
Verhältnisse nicht so eindeutig, dass bei Beobachtung der dem Wagenführer
zuzumutenden Vorsicht nicht hätte vorgefahren werden dürfen.
2.- Die haltende Strassenbahn darf nach Art. 61 Abs. 3 MFV beim Fehlen einer
Schutzinsel nur in langsamer Fahrt (Schrittempo) überholt werden. Auch das ist
durch das Gebot der Rücksichtnahme auf die übrigen Strassen- und insbesondere
die Strassenbahnbenützer gefordert, die vor dem Einsteigen in den Tramzug oder
bei dessen Verlassen ihn und die Strasse selbst kreuzen und vom Lenker des
vorfahrenden Fahrzeuges erst auf ganz kurze Distanz wahrgenommen werden
können. Die Sachlage wird für diese Strassenbenützer umso gefährlicher, wenn
der vorfahrende gleichzeitig einen entgegenkommenden Wagen kreuzt, weil der
Fussgänger dann regelmässig nur das letztere, nicht auch das erste der beiden
Fahrzeuge wahrnehmen wird. Diese ganz besondere Gefahr, die dem Fussgänger aus
der Befugnis gleichzeitig dieselbe Strassenstrecke benützender Fahrzeugführer
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Vorfahren und Kreuzen erwachsen kann, macht die peinliche Einhaltung der
Vorschrift, dass nur im Schrittempo vorgefahren werden dürfe, zur
unerlässlichen Notwendigkeit. Ohne diese besondere Vorsichtsmassregel hätte
das Linksüberholen der haltenden Strassenbahn, das in kantonalen Reglementen
ausdrücklich verboten war (BGE 58 II 215), im Interesse der Verkehrssicherheit
nicht gestattet werden können. Nur ihre Beobachtung ermöglicht es dem
Automobilisten, das Fahrzeug vor einem plötzlich Tram und Strasse von rechts
nach links kreuzenden Fussgänger nötigenfalls sofort anzuhalten, oder, wenn
sich der Tramzug bereits wieder in Bewegung setzt, bevor das Vorfahrmanöver
beendigt ist, davon abzulassen, wenn nach den Strassenverhältnissen die
fahrende Strassenbahn nur rechts überholt werden darf.
Der Beschwerdebeklagte hat dieser Vorschrift offensichtlich zuwidergehandelt.
Denn er fuhr der Bahn nach den verbindlichen tatsächlichen Feststellungen der
Vorinstanz mit einer blosses Schrittempo (allure d'un homme au pas) d. h. etwa
5 km/Std., weit übersteigenden Geschwindigkeit vor. Darauf, dass ihm in diesem
Punkt das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit gefehlt habe, kann er sich bei der
ausdrücklichen und klaren Verordnungsvorschrift nicht berufen. Dass die
Polizei die Fahrweise nicht beanstandete (und eine Toleranz von 20 km zulassen
soll), vermag jedenfalls den Angeklagten nicht zu entlasten, der sich
bezüglich des Art. 46 MFV gegenüber der abweichenden Auffassung der Polizei
ebenfalls auf die einschlägigen Gesetzesbestimmungen stützte. Wenn die
Vorinstanz das Verhalten nicht ahndete, geschah es nicht, weil in diesem
Punkte keine Anklage erhoben worden und deshalb eine Verurteilung nicht
möglich sei, sondern weil die Polizei nicht dagegen Stellung genommen habe und
die Rechtslage als zweifelhaft erscheine. Die Bussenverfügung des
Polizeirichters bezeichnete Art. 61 MFV ausdrücklich als übertreten. Unter
diesem Umständen ist es nicht eine Frage des kantonalen Prozessrechts, ob
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die Widerhandlung bestraft werden könne, sondern beruht das freisprechende
Erkenntnis insoweit auf einer Verletzung von Bundesrecht. Es ist daher
aufzuheben und zu neuer Entscheidung und Bestrafung des Beschwerdebeklagten
wegen Übertretung von Art. 61 Abs. 3 MFV zurückzuweisen.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil des
Einzelrichters in Strafsachen des Bezirksgerichtes Zürich aufgehoben und die
Sache zur Bestrafung des Beschwerdebeklagten wegen Übertretung von Art. 61
Abs. 3 MFV zurückgewiesen.