S. 197 / Nr. 34 Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr (d)

BGE 65 I 197

34. Urteil des Kassationshofs vom 25. September 1939 i. S. Contat gegen Bern,
Generalprokurator.

Regeste:
Bemessung der zulässigen Geschwindigkeit unmittelbar nach dem Abblenden der
Scheinwerfer. - Unbeleuchteter landwirtschaftlicher Fuhrwerkzug:
Berücksichtigung einer Gesichtstäuschung beim Autoführer (Art. 25, 33 MFG).
Appréciation de la vitesse admissible lorsque le conducteur vient d'éteindre
ses grands phares. - Véhicule agricole sans éclairage: Illusion d'optique du
conducteur prise en considération par le juge (art. 25 et 33 LA).
Valutazione della velocità ammissibile subito dopo che il conducente ha
interrotto la luce abbagliante dei fari. Veicolo agricolo non illuminato:
illusione ottica del conducente presa in considerazione dal giudice (art. 25 e
33 LCAV).

A. - Am 8. November 1938 um 17.45 Uhr fuhr der Landwirt Ernst Tschanz mit
einem zweispännigen Grasfuder und einem daran angehängten leeren Mistwagen,
vom Felde heimkehrend, ohne Licht auf der Strasse Thun-Bern von Rothachen nach
Oppligen. In dem Momente, als das vordere von zwei in der Gegenrichtung
heranfahrenden Automobilen das Grasfuder kreuzte, wurde der Mistwagen von
hinten von dem ihn einholenden Personenautomobil

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es Dr. Contat mit dessen rechter Wagenseite angefahren und zertrümmert, worauf
Contat dem Grasfuder links vorfuhr und kurz vor demselben am rechten
Strassenrande anhielt. Der Sachschaden am Mistwagen belief sich auf ca. Fr.
60. -, derjenige am Auto Contat auf Fr. 214. - .
B. - Contat zog das ihn wegen Nichtbeherrschens des Fahrzeugs und Überholens
bei entgegenkommendem Fahrzeug gemäss Art. 25 Abs. 1 MFG und 46 Abs. 1 MFV zu
einer Busse von Fr. 20. - verurteilende Eventualurteil weiter, worauf ihn der
Gerichtspräsident von Konolfingen mit Urteil vom 9. Januar 1939 freisprach. In
den Erwägungen wird ausgeführt, es bestehe kein Grund zur Annahme, dass Contat
mit dem Überholen des Grasfuders nicht bis nach beendeter Vorbeifahrt des
entgegenkommenden Autos hätte warten wollen; vielmehr erscheine es
glaubwürdig, dass er den angehängten Mistwagen zu spät erblickt habe. Im
Lichte seiner noch unabgeblendeten Scheinwerfer habe er das Grasfuder gesehen,
hinter dem der niedrige Mistwagen nicht aufgefallen sei. Nach Abblendung
seiner Scheinwerfer habe er den optischen Eindruck des Grasfuders festgehalten
und den Mistwagen nun auch aus kleinerer Distanz nicht wahrnehmen können. Es
müsse aber angenommen werden, dass er hinter dem Grasfuder hätte anhalten
können und wollen und nur um dem zu spät erblickten Mistwagen auszuweichen das
Vorfahrmanöver noch probiert habe.
C. - Auf Appellation des Bezirksprokurators hat das Obergericht des Kantons
Bern mit Urteil vom 12. Mai 1939 den Angeschuldigten wegen Nichtbeherrschens
des Fahrzeugs und Nichtanpassens der Geschwindigkeit gemäss Art. 25 Abs. 1 MFG
zu einer Busse von Fr. 50. - und den Kosten verurteilt. In der Begründung
führt die Vorinstanz aus, die subjektive Täuschung über den Fuhrwerkzug
entschuldige den Autoführer nicht. Er habe mit abgeblendeten Scheinwerfern
nicht schneller fahren dürfen, als dass er bei Auftauchen des Mistwagens im
Lichtkegel noch vor demselben hätte anhalten können Er habe sich nicht

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darauf verlassen können, dass die Strasse im Schatten des Grasfuders frei sei;
es hätte statt eines angehängten Mistwagens auch ein Fussgänger, ein Stück
Vieh, ein Handkarren usw. dem Graswagen folgen können. Dass solche Hindernisse
gleich wie vom Felde heimkehrende landwirtschaftliche Fuhrwerke nicht
beleuchtet sein müssen, habe er wissen müssen, ebenso dass oft zwei solche
Fuhrwerke zusammengehängt seien.
D. - Mit der vorliegenden Nichtigkeitsbeschwerde beantragt Dr. Contat
Aufhebung des obergerichtlichen Urteils und Freisprechung. Die Vorinstanz
verweist auf ihre Erwägungen und verzichtet auf Gegenbemerkungen.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
Das obergerichtliche Urteil weicht vom erstinstanzlichen nur hinsichtlich der
Bemessung der vom Beschwerdeführer zu verlangenden Sorgfalt in der
Fahrzeugbeherrschung und Herabsetzung der Geschwindigkeit nach Abblendung der
Scheinwerfer, nicht aber bezüglich des tatsächlichen Hergangs des Unfalls ab.
Demnach darf als festgestellt gelten, dass der Beschwerdeführer in dem
Momente, da er wegen der entgegenkommenden Autos abblenden musste, das
Grasfuder erblickt, die Art dieses Fuhrwerks erkannt und sich dessen
Entfernung gemerkt hatte und seine Geschwindigkeit darauf einstellte, sich
hinter dem Fuder zu halten, bis das entgegenkommende Auto vorbei und die linke
Strassenseite zum Vorfahren frei sein würde. Nun ist zweifellos der von der
Vorinstanz angerufene Grundsatz richtig, dass der Fahrzeugführer jederzeit
seine Geschwindigkeit nach der Länge der gerade von ihm überblickten, also der
nachts von seinen Scheinwerfern erleuchteten, und als frei befundenen
Strassenstrecke richten muss. Auf gerader Überlandstrecke ohne seitliche
Einmündungen, Häuser etc. ist es aber natürlich und nicht zu beanstanden, dass
der Führer sich in den dem Abblenden folgenden paar Augenblicken noch an das
Wahrnehmungsbild hält, das er unmittelbar vor dem Abblenden noch im grossen
Lichtkegel aufnahm, und nicht damit rechnet, dass ein Hindernis

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innerhalb der als frei festgestellten Strecke plötzlich aus dem Nichts
auftauche. Im vorliegenden Falle nun hat tatsächlich der Beschwerdeführer im
Lichte seiner offenen Scheinwerfer die Strasse bis zum Grasfuder überblickt
und die Wahrnehmung festgehalten, dass bis zu jenem Fuder nichts auf der
Strasse war; und dieses als nächstes und einziges Hindernis erblickte
Grasfuder sah er auch nach Abblendung wenigstens als Silhouette weiterhin vor
sich und richtete danach seine Geschwindigkeit. Anders wäre es, wenn der
Beschwerdeführer bei schon abgeblendeten Lichtern die Masse des Grasfuders aus
der Dunkelheit hätte auftauchen sehen und sich darauf verlassen hätte, dass
die Strasse bis zu demselben frei sei. Nach der Darstellung der 1. Instanz hat
aber der Beschwerdeführer die Strecke zwischen ihm und dem Graswagen noch bei
offenen Scheinwerfern überblickt und trotzdem nichts gesehen.
Dieser Gesichtseindruck erwies sich nun allerdings als eine optische
Täuschung, die sich leicht damit erklärt, dass sich in der axialen Rückansicht
der niedrige, leere Mistwagen in das Fahrgestell des Graswagens symmetrisch
hineinprojizierte, sich mit ihm deckte und zum Bild eines einzigen Fuhrwerks
verschmolz. Eine entsprechende optische Täuschung wäre mit den von der
Vorinstanz als Beispiele genannten allfälligen andern im Profil des Grasfuders
sich bewegenden Hindernissen höchstwahrscheinlich eben nicht eingetreten: ein
Fussgänger, ein Stück Vieh hätte infolge der ganz andern Kontur und Bewegung
sich vom vorausfahrenden Grasfuder wahrnehmbar unterschieden, und ein Hand-
oder Kinderwagen fährt nicht allein daher. Der Beschwerdeführer ist bei aller
vermeintlichen Aufmerksamkeit das Opfer einer Gesichtstäuschung geworden, die
aber entschuldbar ist, insbesondere auch in Ansehung der ganzen Situation:
Wenn schon das Gesetz die vom Felde heimkehrenden landwirtschaftlichen
Fuhrwerke von dem Minimum von Sorgfalt entbindet, das in der Anbringung
wenigstens eines Katzenauges läge, so wäre es unbillig, die durch diese
Nachsicht mitbedingten

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Unfalle mit umso grösserer Strenge dem Automobilisten zur Last zu legen, für
den es schliesslich im entscheidenden Momente der Begegnung auf der
Überlandstrasse keinen Unterschied ausmacht, ob das diese befahrende Fuhrwerk
vom Felde kommt oder nicht. Es darf und muss einem durch diese
Ausnahmebehandlung begünstigten Irrtum jedenfalls in strafrechtlicher
Beziehung Rechnung getragen werden.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil
aufgehoben und der Beschwerdeführer von Schuld und Strafe freigesprochen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 65 I 197
Datum : 01. Januar 1938
Publiziert : 25. September 1939
Quelle : Bundesgericht
Status : 65 I 197
Sachgebiet : BGE - Verwaltungsrecht und internationales öffentliches Recht
Gegenstand : Bemessung der zulässigen Geschwindigkeit unmittelbar nach dem Abblenden der Scheinwerfer. -...


Gesetzesregister
MFV: 46
BGE Register
65-I-197
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