S. 44 / Nr. 11 Versicherungsvertrag (d)

BGE 64 II 44

11. Urteil der II. Zivilabteilung vom 21. Januar 1938 i. S. Assicuratrice
Italiana gegen Bertschi.

Regeste:
Unfallversicherung. Verhältnis der Ausschlussklausel der «offenbaren
Trunkenheit» zu derjenigen der grobfahrlässigen Verursachung (Art. 33
SR 221.229.1 Bundesgesetz vom 2. April 1908 über den Versicherungsvertrag (Versicherungsvertragsgesetz, VVG) - Versicherungsvertragsgesetz
VVG Art. 33 - Soweit dieses Gesetz nicht anders bestimmt, haftet das Versicherungsunternehmen für alle Ereignisse, welche die Merkmale der Gefahr, gegen deren Folgen Versicherung genommen wurde, an sich tragen, es sei denn, dass der Vertrag einzelne Ereignisse in bestimmter, unzweideutiger Fassung von der Versicherung ausschliesst.
VVG).

A. - Der Spenglermeister Emil Bertschi hatte bei der Assicuratrice Italiana
eine Einzelunfallversicherung mit einer Leistung von Fr. 10000.- im Todesfalle

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abgeschlossen. Die Allgemeinen Bedingungen der Police enthalten folgende
Ausschlussklauseln: «Ausgeschlossen von der Versicherung sind alle Unfälle,
welche der Versicherte erleidet ... im Zustande offenbarer Trunkenheit...
Ausgeschlossen sind Unfälle durch eigene grobe Fahrlässigkeit...».
Am 25. November 1935 transportierte Bertschi in einer querüber auf dem
Soziussitz seines Motorrads mit Stricken festgebundenen, 60 cm langen
Blechkiste Ofenbodenplatten von Dällikon nach Dielsdorf. Bei der zweiten Fahrt
mit einer Ladung von 38 kg geriet er beim Dorfeingang Dielsdorf bei einer
Fahrgeschwindigkeit von ca. 30 km plötzlich links über die Strasse, stiess an
eine Telefonstange und erlitt einen tödlichen Schädelbruch. Die
gerichtsmedizinische Sektion der Leiche ergab eine Alkoholkonzentration, nach
welcher der Verunfallte sich in einem Zustande befunden haben musste, der am
besten mit dem Ausdruck «Angetrunkenheit bis leichter Rausch» umschrieben
werde. Die Hinterbliebenen erhoben gegen die Versicherung Klage auf Zahlung
von Fr. 10000.- nebst Zins zu 5% seit 1. Dezember 1935. Sie bestritten, dass
der Unfall auf grobe Fahrlässigkeit, nämlich Fahren in angetrunkenem Zustande,
zurückzuführen sei; die Ursache desselben liege in einem plötzlichen
seitlichen Verrutschen der plattengefüllten Blechkiste auf dem Motorrad und
der daherigen Gleichgewichtsstörung, die der Fahrer nicht habe parieren
können. Die Beklagte hielt an ihrem Standpunkte fest, wonach der Unfall durch
die Angetrunkenheit Bertschis verursacht worden sei; wenn, was nicht sicher
sei, die Kiste sich verschoben habe, so hätte ein nüchterner Fahrer die
Herrschaft über das Fahrzeug nicht verloren.
B. - In Bestätigung des Urteils des Bezirksgerichts Dielsdorf hat das
Obergericht des Standes Zürich die Klage im vollen Betrage gutgeheissen....
Mit der vorliegenden Berufung beantragt die Beklagte Abweisung derselben,
eventuell Rückweisung an die Vorinstanz.

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Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Das Verhältnis der Ausschlussklausel der offenbaren Trunkenheit zu der der
groben Fahrlässigkeit ist, entgegen der Auffassung der Vorinstanz, nicht das
der lex specialis zur lex generalis in dem Sinne, dass die erstere den
Tatbestand der Trunkenheit schlechthin aus allen denkbaren Fällen
grobfahrlässigen Verhaltens heraushebe und abschliessend dahin regle, dass
überhaupt nur offenbare Trunkenheit, eine solche geringeren Grades dagegen
grundsätzlich nicht als Ausschlussgrund in Frage käme. Der Unterschied
zwischen beiden Klauseln liegt vielmehr darin, dass die der offenbaren
Trunkenheit einen absoluten Ausschlussgrund bildet ganz ohne Rücksicht darauf,
ob dieser Zustand für den Eintritt des Unfalls kausal war oder nicht, während
die zweite einen Kausalzusammenhang erfordert. Wer im Zustande offenbarer
Trunkenheit einen Unfall erleidet, hat daraus keinen Anspruch aus der
Versicherung, selbst wenn die Trunkenheit mit dem Unfall nichts zu tun hat.
Dieser Sinn der Klausel geht klar aus deren sprachlicher Fassung hervor,
wonach ausgeschlossen sind «Unfälle, welche der Versicherte erleidet ... im
Zustande offenbarer Trunkenheit», nicht etwa «infolge» dieser.
Im Gegensatz dazu sind nach der zweiten Klausel ausgeschlossen «Unfälle durch
eigene grobe Fahrlässigkeit». Diese muss also für den Unfall kausal gewesen
sein. Eine leichte (und daher nicht unter die erste Klausel fallende)
Trunkenheit kann mithin im Rahmen der zweiten Klausel den Ausschluss zur Folge
haben, wenn nachgewiesen ist, dass sie in Verbindung mit einem
grobfahrlässigen Handeln des Versicherten für den Unfall kausal gewesen ist.
Es ist also erforderlich einmal, dass der Leichtbetrunkene eine Handlung
unternommen habe, die in Ansehung seines Zustandes sich als grobfahrlässig
qualifiziert, und sodann dass bei dieser Handlung infolge der Angetrunkenheit
der Unfall passiert sei.
Motorradfahren in angetrunkenem Zustande ist

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zweifellos eine grobe Fahrlässigkeit. Wenn dabei der Fahrer z.B. infolge
Platzens eines Pneus verunfallt, so ist zwar das (grobfahrlässige) Fahren für
den Unfall kausal, nicht aber die Angetrunkenheit (deretwegen das Fahren
grobfahrlässig war), weshalb die Ausschlussklausel nicht zutrifft. Im
vorliegenden Falle ist das grobfahrlässige Handeln gegeben; die Prüfung
reduziert sich somit auf die Frage, ob Bertschi die Herrschaft über das
Motorrad infolge seiner Angetrunkenheit verloren hat oder aus einer andern
Ursache. Dies ist nicht Rechts-, sondern Tatfrage, also Sache der
kantonalrichterlichen Feststellung. Es ist am Versicherer, den
Kausalzusammenhang zu beweisen, nicht am Versicherungsnehmer oder
Anspruchsberechtigten, dessen Fehlen darzutun. Die Vorinstanz stellt nicht
klipp und klar fest, dass das Verrutschen der Blechkiste die Ursache der
Linksschwenkung des Motorrades gewesen sei und nicht der leichte Rausch des
Fahrers; wohl aber, dass dies mit grosser Wahrscheinlichkeit anzunehmen und
nicht ausgeschlossen sei, dass auch ein völlig nüchterner Fahrer dieser
Situation erlegen wäre. Diese Beweiswürdigung, bei der sich die Vorinstanz u.
a. auf einen sachverständigen Zeugen stützt, kann etwas kühn erscheinen,
bedeutet aber keine Überspannung der der Beklagten obliegenden Beweislast,
indem von dieser ein unmöglicher Beweis verlangt worden wäre. Dass auf dem
verunfallten Motorrad die Blechkiste sich gelockert und verschoben hatte, ist
festgestellt und die Fahrrichtungsänderung vom sachverständigen Zeugen als die
mögliche Folge davon erklärt worden; es lag im Ermessen der Vorinstanz, diese
These anzunehmen. Damit ist ein Kausalzusammenhang zwischen der
Angetrunkenheit des Bertschi und dem Unfall für das Bundesgericht verbindlich
verneint, sodass die Ausschlussklausel nicht Platz greift.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichts des Standes
Zürich vom 25. Mai 1937 bestätigt.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 64 II 44
Date : 01. Januar 1937
Published : 21. Januar 1938
Source : Bundesgericht
Status : 64 II 44
Subject area : BGE - Zivilrecht
Subject : Unfallversicherung. Verhältnis der Ausschlussklausel der «offenbaren Trunkenheit» zu derjenigen der...


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64-II-44
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