S. 205 / Nr. 38 Eigentumsgarantie (d)

BGE 64 I 205

38. Auszug aus dem Urteil vom 30. September 1938 i. S. Schneider gegen
Regierungsrat des Kantons Thurgau.

Regeste:
Verhältnis der öffentlichrechtlichen Beschränkungen des Grundeigentums zur
Eigentumsgarantie.
Für die Durchführung eines Umlegeverfahrens sind gesetzliche Grundlage und
öffentliches Interesse, nicht dagegen die Voraussetzungen der Expropriation
erforderlich.

A. - § 11 der Kantonsverfassung des Kantons Thurgau statuiert die
Unverletzlichkeit des Eigentums.
«Ausnahmsweise ist jeder nach den Vorschriften des Gesetzes verpflichtet,
sofern die öffentliche Wohlfahrt es erfordert, Grundeigentum oder andere
Privatrechte an den Staat oder an eine Gemeinde oder an Privatunternehmungen,
an letztere jedoch nur zufolge Beschlusses des Grossen Rates, gegen volle
Entschädigung abzutreten.»
Das Einführungsgesetz zum Zivilgesetzbuch (EG) schreibt in § 92 vor
«Bis zum Erlass eines kantonalen Baugesesetzes sind die Orts- und
Munizipalgemeinden berechtigt, durch Gemeindebaureglemente für die ganze
Gemeinde oder für einzelne Gemeindeteile Vorschriften über das Bauwesen sei es
nur mit Bezug auf neu zu erstellende, oder

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auch mit Bezug auf bereits bestehende Gebäude zu erlassen, insbesondere über:
a) ...
b) die Aufstellung von Quartierplänen und die Anlegung von Quartierstrassen,
sowie die hiefür nötigenfalls vorzunehmenden Grenzveränderungen, die
Zusammenlegung und Neueinteilung sämtlicher Baugrundstücke.»
Im Anschluss hieran bestimmt das im Jahre 1933 durch die Munizipalgemeinde
Kreuzlingen erlassene Reglement über das Bau- und Strassenwesen in Art. 7:
a) «um eine zweckentsprechende Überbauung der einzelnen Grundstücke zu
ermöglichen, kann der Gemeinderat von sich aus oder auf Ansuchen von
Beteiligten eine Umlegung von ungünstig gruppierten Landkomplexen vornehmen
(EG z. ZGB § 92 lit. b).»
B. - Heinrich Lang ist Eigentümer eines an der Remisbergstrasse in Kreuzlingen
gelegenen Grundstückes, das mit Rücksicht auf seine Grösse und übrige
Beschaffenheit nicht rationell bebaubar ist. Nördlich und westlich davon liegt
das dem Rekurrenten G. Schneider gehörende Grundstück. Im August 1937 reichte
Lang dem Gemeinde" rat Kreuzlingen ein Baugesuch für seine Liegenschaft ein.
Dieser lehnte das Gesuch ab und beschloss gleichzeitig, für die Grundstücke
Lang und Schneider das Umlegeverfahren durchzuführen.
Die gegen diesen Beschluss an den Regierungsrat des Kantons Thurgau erhobene
Beschwerde des Rekurrenten wurde durch Entscheid vom 24. /31. Mai 1938
abgewiesen. Darin wird die Existenz eines öffentlichen Interesses an der
Umlegung bejaht, weil ohne die vorgesehene Massnahme bei der Lage der Strasse
und der Baulinie ein 400 m langer Landstreifen längs einer wichtigen Strasse
brach liegen bleiben müsste. Das Umlegeverfahren sei auch nicht deshalb
unzulässig, weil Lang ein Grundstück einzuwerfen habe, das schon unbebaubar
gewesen sei, als er es erworben habe. Der Rekurrent werde auch nicht
geschädigt, nachdem allfällige Vor- und Nachteile gütlich

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oder im Expropriationsverfahren ausgeglichen werden müssten.
C. - Mit rechtzeitig erhobener staatsrechtlicher Beschwerde beantragt der
Rekurrent unter Berufung auf Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV und § 11 KV die Aufhebung der
Beschlüsse des Gemeinde- und des Regierungsrates. Er behauptet, dass nicht
eine Grenzregulierung und Grundstücks-Zusammenlegung, sondern eine
Zwangsabtretung und eine Zerstückelung von Grundstücken eintrete. Die
Voraussetzungen einer Abtretung seien nicht erfüllt; sofern die Abtretung an
einen Privaten derjenigen an eine Privatunternehmung gleichgestellt würde,
fehle es an dem durch die Verfassung geforderten Beschluss des Grossen Rates.
Ausserdem werde die Abtretung nicht durch die öffentliche Wohlfahrt geboten.
Diese stehe der Umlage oder einer Abtretung vielmehr entgegen. Während das
Grundstück Lang schon beim Erwerb durch diesen nicht überbaubar gewesen sei,
lasse dasjenige des Rekurrenten eine zweckmässige Überbauung zu und würde
durch die Umlage zerschnitten. Es sei eventuell die Übereinstimmung des § 92
EG und des Gemeinde-Reglementes auf ihre Verfassungsmässigkeit zu prüfen. Nach
Auffassung des Rekurrenten sei indes deren Anwendung willkürlich.
D. - Der Regierungsrat des Kantons Thurgau und der Gemeinderat von Kreuzlingen
beantragen die Abweisung der Beschwerde.
Aus den Erwägungen:
1.- Die Eigentumsgarantie des § 11 KV enthält wie andere Kantonsverfassungen
zwar den Vorbehalt der Abtretung von Grundeigentum oder andern Privatrechten
im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt, d. h. jenen der Expropriation im
technischen Sinne; dagegen fehlt ein ausdrücklicher Vorbehalt für andere
öffentlichrechtliche Beschränkungen des Grundeigentums im Interesse der Bau-.
Feuer- und Gesundheitspolizei, der

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Bodenverbesserungen, Zusammenlegung von Grundstücken, der Sicherung von
Landschaften und Aussichtspunkten vor Verunstaltung usw. Trotzdem sind die
Kantone, und im Rahmen des kantonalen Rechtes, auch die Gemeinden berechtigt,
dem Grundeigentum öffentlichrechtliche Beschränkungen aufzuerlegen, ohne dass
dadurch die verfassungsmässig garantierte Eigentumsfreiheit verletzt würde.
Die Ermächtigung zu derartigen Einschränkungen liegt zwar nicht in Art. 702
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 702 - Dem Bunde, den Kantonen und den Gemeinden bleibt es vorbehalten, Beschränkungen des Grundeigentums zum allgemeinen Wohl aufzustellen, wie namentlich betreffend die Bau-, Feuer- und Gesundheitspolizei, das Forst- und Strassenwesen, den Reckweg, die Errichtung von Grenzmarken und Vermessungszeichen, die Bodenverbesserungen, die Zerstückelung der Güter, die Zusammenlegung von ländlichen Fluren und von Baugebiet, die Erhaltung von Altertümern und Naturdenkmälern, die Sicherung der Landschaften und Aussichtspunkte vor Verunstaltung und den Schutz von Heilquellen.

ZGB, wie vom Regierungsrat in seiner Vernehmlassung angenommen wird, weil
dieser Bestimmung als einem sogenannten unechten Vorbehalt nur deklaratorische
Bedeutung zukommt, sondern in der kantonalen Souveränität begründet. Wenn sich
dabei gelegentlich derartige öffentlichrechtliche Beschränkungen von der
Expropriation äusserlich nur schwer unterscheiden lassen, speziell dann, wenn
die Beschränkungen erst auf Grund eines speziellen Verwaltungsaktes wirksam
werden, oder wenn im einen wie im andern Falle ein Entschädigungsverfahren
Platz greift, so unterscheiden sie sich doch von dieser dadurch, dass sie
objektive Schranken des Eigentums darstellen, denen alles Privateigentum
virtuell unterworfen ist, während bei der Expropriation ein nach der geltenden
Eigentumsordnung bestehendes Recht im öffentlichen Interesse beschränkt oder
entzogen wird (BGE 57 I S. 210; HAAB, Komm. zu Art. 702
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 702 - Dem Bunde, den Kantonen und den Gemeinden bleibt es vorbehalten, Beschränkungen des Grundeigentums zum allgemeinen Wohl aufzustellen, wie namentlich betreffend die Bau-, Feuer- und Gesundheitspolizei, das Forst- und Strassenwesen, den Reckweg, die Errichtung von Grenzmarken und Vermessungszeichen, die Bodenverbesserungen, die Zerstückelung der Güter, die Zusammenlegung von ländlichen Fluren und von Baugebiet, die Erhaltung von Altertümern und Naturdenkmälern, die Sicherung der Landschaften und Aussichtspunkte vor Verunstaltung und den Schutz von Heilquellen.
ZGB Note 3). Die
Garantie des Eigentums würde, wie das Bundesgericht schon wiederholt erklärt
hat, durch derartige öffentlichrechtliche Beschränkungen erst dann verletzt,
wenn es an einer gesetzlichen Grundlage für den Eingriff oder am Erfordernis
des öffentlichen Interesses an demselben fehlen würde (BGE 31 I S. 21; 42 I S.
204; 47 II S. 511: 56 I S. 272; 57 I S. 210; 60 I S. 270).
Der Rekurrent bestreitet im Grunde nicht, dass das EG in den §§ 90 & ff. («II.
Öffentlichrechtliche Beschränkungen, Art. 702
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 702 - Dem Bunde, den Kantonen und den Gemeinden bleibt es vorbehalten, Beschränkungen des Grundeigentums zum allgemeinen Wohl aufzustellen, wie namentlich betreffend die Bau-, Feuer- und Gesundheitspolizei, das Forst- und Strassenwesen, den Reckweg, die Errichtung von Grenzmarken und Vermessungszeichen, die Bodenverbesserungen, die Zerstückelung der Güter, die Zusammenlegung von ländlichen Fluren und von Baugebiet, die Erhaltung von Altertümern und Naturdenkmälern, die Sicherung der Landschaften und Aussichtspunkte vor Verunstaltung und den Schutz von Heilquellen.
ZGB») die gesetzliche Regelung
für die in Frage stehenden Beschränkungen enthalte, noch behauptet er, dass
das durch den Regierungsrat

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genehmigte Reglement über das Bau- und Strassenwesen der Gemeinde Kreuzlingen,
welches gestützt auf die in § 92 EG ausgesprochene Ermächtigung erlassen
worden ist, über den gesetzlichen Rahmen hinausgehe oder nicht in richtiger
Form erlassen worden sei. Er könnte das auch gar nicht mit Aussicht auf Erfolg
tun, nachdem die Gemeinden durch das EG ausdrücklich ermächtigt werden, einen
Bebauungsplan aufzustellen, die erforderlichen Bau- und Niveaulinien zu
bestimmen, Quartierstrassen anzulegen, die dafür nötigen Grenzveränderungen
und die Zusammenlegung und Neueinteilung sämtlicher Baugrundstücke
vorzunehmen.
Er bestreitet vielmehr lediglich das Vorhandensein eines öffentlichen
Interesses und macht geltend, dass in den angefochtenen Entscheiden eine
willkürliche Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen liege.
Mit Rücksicht darauf kann sich nur fragen, ob der Regierungsrat zu Unrecht
angenommen habe, es bestehe an der Anordnung der Umlage ein öffentliches
Interesse, ob sich sein Entscheid nur zum Schein auf Gesetz und Verordnung
stütze und deren Anwendung im vorliegenden Fall willkürlich sei.
2.- Weil nicht eine Expropriation im Sinne von § 11 KV, sondern in Frage
steht, ob sich der Rekurrent die öffentlichrechtliche Beschränkung des
Umlegeverfahrens gefallen lassen müsse, ist daher auch nicht zu untersuchen,
ob die Voraussetzungen einer Expropriation gegeben wären. Der Gemeinderat von
Kreuzlingen hat allerdings die Einleitung eines Expropriationsverfahrens
angeordnet, nachdem sich die Parteien auf das Gutachten über die Schätzung der
Grundstücke nicht hatten einigen können. Aber damit wollte er nicht unabhängig
vom Umlegeverfahren und unter Verzicht auf dasselbe eine Expropriation im
Sinne von § 11 KV anordnen, sondern lediglich gemäss Art. 8 lit. c des
Reglementes die gerichtliche Feststellung der für die beteiligten
Grundeigentümer aus der Durchführung des Verfahrens erwachsenden

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Vor- und Nachteile und deren Ausgleichung durch eine Entschädigung erwirken.
Ganz abgesehen davon, dass diese Verfügung durch die obergerichtliche
Rekurskommission aufgehoben wurde, weil noch nicht rechtskräftig abgeklärt
sei, dass das Umlegeverfahren Platz zu greifen habe, kann aus ihr aus dem
bereits genannten Grunde vom Rekurrenten nicht abgeleitet werden, es stehe ihm
ein Anspruch auf die Durchführung der Expropriation mit den in § 11 KV
genannten Voraussetzungen und dem dafür geltenden Verfahren zu. Damit
entfallen insbesondere die Einwendungen des Rekurrenten, die Enteignung werde
nicht für eine Privatunternehmung verlangt, es fehle an der Voraussetzung der
«öffentlichen Wohlfahrt» und der erforderlichen Zustimmung des Grossen Rates.
3.- Das Interesse an der Durchführung des Umlegeverfahrens hinsichtlich der
beiden Grundstücke ist ein baupolizeiliches. Die Gemeinde hat, wie in dem
angerufenen Entscheid des Bundesgerichtes i. S. Mahle vom 14. Februar 1936
ausgeführt worden ist, ein Interesse daran, dass die an den von ihr erstellten
Quartierstrassen liegenden Grundstücke überbaut und dass die wegen ihrer Lage
oder sonstigen Beschaffenheit unbebaubaren Parzellen in bebaubare umgewandelt
werden, damit sie nicht gezwungen ist, in unwirtschaftlicher Weise
Quartierstrassen anzulegen. Sie ist ferner auch daran interessiert, dass in
einer Weise gebaut werden könne, die dem Charakter des Quartiers und der
Ortschaft selbst entspricht (vgl. Art. 14 des Reglementes). Es kann kein
Zweifel darüber bestehen, dass dieses Interesse öffentlicher Art ist. Dass
aber Lang bei der gegenwärtigen Situation nicht bauen kann, ist unbestritten,
und dass sein Grundstück nicht erst durch die Anlage der Strasse unbebaubar
wurde, gleichgültig. Das Interesse des Rekurrenten, das an sich bebaubare
ungeteilte Grundstück behalten zu können, ist ein ausschliesslich privates;
höchstens dann, wenn durch die Umlegung dem

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Rekurrenten eine rationelle Überbauung der ihm verbleibenden Parzellen
verunmöglicht würde, wäre die Existenz eines öffentlichen Interesses in Frage
gestellt. Dass dies zutreffe, wird in der Beschwerde nicht behauptet und es
trifft offenbar auch nicht zu.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 64 I 205
Datum : 01. Januar 1937
Publiziert : 30. September 1938
Quelle : Bundesgericht
Status : 64 I 205
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : Verhältnis der öffentlichrechtlichen Beschränkungen des Grundeigentums zur Eigentumsgarantie.Für...


Gesetzesregister
BV: 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
ZGB: 702
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 702 - Dem Bunde, den Kantonen und den Gemeinden bleibt es vorbehalten, Beschränkungen des Grundeigentums zum allgemeinen Wohl aufzustellen, wie namentlich betreffend die Bau-, Feuer- und Gesundheitspolizei, das Forst- und Strassenwesen, den Reckweg, die Errichtung von Grenzmarken und Vermessungszeichen, die Bodenverbesserungen, die Zerstückelung der Güter, die Zusammenlegung von ländlichen Fluren und von Baugebiet, die Erhaltung von Altertümern und Naturdenkmälern, die Sicherung der Landschaften und Aussichtspunkte vor Verunstaltung und den Schutz von Heilquellen.
BGE Register
31-I-19 • 57-I-207 • 64-I-205
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