S. 41 / Nr. 11 Beamtenrecht (d)
BGE 63 I 41
11. Auszug aus dem Urteil vom 4. Februar 1937 i. S. 7. gegen S. B. B.(Kreis
III).
Regeste:
I. Disziplinarbeschwerde.
1. Die Bestimmung der anwendbaren Disziplinarstrafe bei schweren
Dienstpflichtverletzungen (Entlassung oder Versetzung ins Provisorium) ist
eine Frage der Strafzumessung. Sie wird vom Bundesgericht grundsätzlich frei
geprüft.
3. Der Kognition des Bundesgerichts entzogen sind blosse
Zweckmässigkeitsgründe, besonders solche nach Art. 20, Abs. 1 BO II.
II. Diebstahl eines Bahnangestellten an dem der Bahn anvertrauten Transportgut
darf, als schwere Dienstpflichtverletzung, mit Entlassung geahndet werden.
A. - Der Rekurrent ist 1903 geboren. Er steht seit 1928 im Dienste der S.B.B.,
zuletzt war er Rangierarbeiter. Er ist zweimal disziplinarisch bestraft
worden: 1928 Fr. 1.- Busse; 1936 Verweis. Der Rekurrent ist verheiratet; er
hat 3 Kinder und lebt in ärmlichen Verhältnissen. Es musste ihm durch die
S.B.B. und den S.E.V. wiederholt mit Darlehen und Unterstützungen geholfen
werden.
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Am 27. Oktober 1936, abends 7 Uhr, hatte der Rekurrent im Rangierbahnhof die
vom Ablaufberg abrollenden Wagen mit dem Hemmschuh aufzuhalten. Dabei bemerkte
er, dass von einem hoch mit Torfmullballen beladenen Wagen ein Ballen
herunterfiel. Er will zunächst versucht haben, den Ballen wieder aufzuladen,
was misslungen sei. Dann legte er ihn auf dem Bahnareal, etwa 30 m weit, bei
dem Pfeiler einer Strassenbrücke an gut sichtbarer Stelle nieder und holte
ihn, als er dort liegen blieb, am 28. Oktober, abends 9 Uhr, ab, um ihn auf
seinem Pflanzland zu verwenden. Der Vorfall scheint sonst von niemandem
bemerkt worden zu sein. Nachdem die Sache entdeckt war, hat der Rekurrent
sofort die Tat zugegeben. Er hat dem geschädigten Bahnkunden den Wert des
Ballens mit Fr. 7.50 ersetzt.
Der Bahnhofinspektor bemerkte in seinem Bericht vom 31. Oktober: «F. verdient
strenge Bestrafung. Mit Rücksicht auf seine Familie - er besitzt Frau und 3
Kinder - beantragen wir aber, Für einmal Gnade walten zu lassen und von einer
allzu scharfen Massregelung abzusehen».
Der Rekurrent wurde am 4. November vom Dienst enthoben unter Entzug der
Besoldung und durch Disziplinarentscheid vom 27. November disziplinarisch
entlassen.
B. - Mit rechtzeitiger Disziplinarbeschwerde beantragt
F.: Es sei der Disziplinarentscheid vom 27. November 1936 und die damit
verfügte disziplinarische Entlassung aufzuheben, die Wiedereinstellung des
Beschwerdeführers anzuordnen und anstelle der disziplinarischen Entlassung als
Disziplinarstrafe die Versetzung in das provisorische Dienstverhältnis,
eventuell verbunden mit vorübergehender Einstellung im Amte unter Entzug der
Besoldung bis zum 27. November 1936, auszusprechen.
Der Rekurrent bereut seine Tat aufrichtig. Er anerkennt auch, dass er, als das
Wiederaufladen des Ballens misslang, Meldung hätte erstatten sollen. Er
anerkennt, einen schweren Fehler begangen zu haben. Er anerkennt auch. dass
die Bahn allen Grund hat, gegen solche
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Vorkommnisse mit Schärfe einzuschreiten, weil die Sicherheit des
Transportgutes nicht gefährdet werden darf. Das heisse aber noch nicht, dass
in jedem Fall die strengste Disziplinarstrafe, die Entlassung, grundsätzlich
und ausnahmslos anzuwenden sei. Vielmehr sei jeder Fall einzeln zu prüfen und
in erster Linie zu untersuchen, in welcher Weise gegen diese Sicherheit
gehandelt worden sei. Sodann wäre weiter festzustellen, ob nicht die
Voraussetzungen des Art. 20 der Beamtenordnung II zutreffen, wonach bei
Vorhandensein berücksichtigenswerter Gründe anstelle der Entlassung die
Versetzung in das provisorische Dienstverhältnis anzuordnen sei.
Der Rekurrent meint, es handle .sich nicht sowohl um Diebstahl, als um
Fundunterschlagung. Jedenfalls sei zu beachten, dass er nicht gerade die
Aufgabe gehabt habe, das fragliche Transportgut zu überwachen. Dazu komme die
Geringfügigkeit des Deliktbetrages (Fr. 7.50). Als Gründe, die für die
Versetzung ins:Provisorium statt der Entlassung sprechen, werden sodann
geltend gemacht: das sofortige Geständnis und die spontane Wiedergutmachung
des Schadens; das gute dienstliche Vorleben des Rekurrenten; die
Familienverhältnisse des Rekurrenten; der erfolgreiche Kampf, den er trotz
seines geringen Verdienstes und der grossen Familienlasten gegen seine
Verschuldung führte, und die schwere Notlage, in die er mit seiner Familie
durch die Entlassung gerate; die Empfehlung des Bahnhofinspektors.
Endlich wird ausgeführt, dass die in der Disziplinarverfügung angeführten
kommerziellen Erwägungen nicht schlechthin massgebend sein dürften. Das
Wohlwollen des Publikums werde nicht nur durch zu grosse Nachsicht, sondern
auch durch Härte gegenüber dem Personal verscherzt. Die Entscheide der
Rekursbeklagten in Disziplinarfragen müssten in erster Linie dem Gebot der
Menschlichkeit entsprechen. Bevor die Existenz einer Familie vernichtet werde,
sollte eine strenge Verwarnung erfolgen.
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Das Bundesgericht hat die Beschwerde abgewiesen
in Erwägung:
1. - Die Tat des Rekurrenten ist strafrechtlich als Diebstahl und nicht als
Fundunterschlagung zu qualifizieren. Nach § 168 zürcherisches StrG ist
Diebstahl die Wegnahme einer fremden beweglichen Sache aus dem Gewahrsam eines
andern. An dem Wagen Torfmull hatte die Bahn den Gewahrsam. Dieser Gewahrsam
ist nicht dadurch aufgehoben worden, dass der fragliche Ballen vom Wagen
herunterfiel, auch nicht dadurch, dass der Rekurrent ihn in der Nahe auf
Bahnareal ablegte. Fundunterschlagung (§ 181 1. c.) ist nur an einer
verlorenen Sache möglich, und eine solche lag hier nicht vor.
2. - Man hat es mit einer schweren Dienstpflichtverletzung zu tun, die
jedenfalls eine der beiden schwersten Disziplinarstrafen, Versetzung ins
provisorische Dienstverhältnis oder Entlassung, rechtfertigt (BtG Art. 31 4).
Das anerkennt auch der Rekurrent. Welche der beiden Strafen angemessen sei,
ist die Frage der Strafzumessung, die das Bundesgericht zwar grundsätzlich
frei prüft (VDG Art. 40), in der es sich aber doch im Zweifel nicht leichthin
von der Auffassung der Verwaltung entfernt. Der Kognition des Bundesgerichtes
entziehen sich sodann blosse Zweckmässigkeitsgründe, denen nach dem im
Disziplinarrecht zulässigen Opportunitätzprinzip die Verwaltung hätte
allenfalls Raum gehen können (KIRCHHOFER, Disziplinarrechtspflege, ZSR n.F.
52, 8 f., 41). Die Verwaltung kann unter Umständen Gnade für Recht ergehen
lassen; der Richter kann dies nicht. Die Verwaltung kann von der Entlassung
absehen, auch wenn sie an sich gerechtfertigt wäre, weil sie Rücksichten
trägt, die auf dem Opportunitätsgesichtspunkt beruhen. Das ist die Bedeutung
von Art. 20, Abs. 1 BO II. Er ermächtigt die Verwaltung von der Anwendung des
strengen Rechts abzusehen, wenn berücksichtigenswerte Gründe für die weitere
Verwendung des Beamten auf Zusehen hin sprechen. In
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dieses Gebiet gehören die Rücksichten auf die Familienverhältnisse des Beamten
und die Folgen der Entlassung für seine Angehörigen, die den Bahnhofvorstand
im Falle des Rekurrenten veranlasst haben, Milde zu empfehlen.
3. - Es ist nicht gerade glaubwürdig, dass der Rekurrent versucht habe, den
heruntergefallenen Torfmullballen wieder auf den Wagen zu heben. Da der Ballen
offenbar von der obersten Lage des Wagens herrührte, schwer (laut Frachtbrief
ca. 70 kg) und umfangreich (nach der Beschwerde 1/2-3/4 m3) war und aus
brüchigem Material bestand, war es für einen einzelnen Mann ganz
ausgeschlossen, ihn wieder an Ort und Stelle zu bringen. Wenn es dem
Rekurrenten hierum zu tun gewesen wäre, hätte er Kollegen um Beistand gebeten.
Dass er eine Anzeige unterliess, legt überhaupt die Vermutung nahe, er habe
von Anfang an daran gedacht, sich den Ballen anzueignen. Jedenfalls hatte er
bis zum folgenden Abend reichlich Zeit, sich die Sache zu überlegen, und wenn
er dann den Torfmull nach Hause nahm, wozu er zweifellos einen kleinen
Handwagen brauchte, so war er sich des Verbotenen und Rechtswidrigen seines
Tuns durchaus bewusst.
Ein solcher Diebstahl eines Bahnangestellten an dem der Bahn anvertrauten
Transportgut ist, auch wenn der Wertbetrag nicht sehr erheblich ist, unter
allen Umständen ein sehr schwerer Verstoss gegen die Pflichten des Amtes. Ein
wesentlicher Unterschied zwischen Beamten, die eine besondere Obhut über das
Transportgut haben, und andern kann dabei nicht gemacht werden. Auch der
Beamte, der nur gelegentlich mit solchen Gegenständen in Berührung kommt, z.
B. beim Rangieren, muss sich, wie jeder andere, als Treuhänder inbezug auf die
Transportgüter betrachten und demgemäss handeln. Es ist begreiflich, wenn die
Verwaltung auf dem Standpunkt steht, dass derartige Verfehlungen am
Transportgut, die dem Ruf und den Interessen der S.B.B. als Transportanstalt
höchst nachteilig sind mit der schwersten Disziplinarstrafe, der Entlassung,
zu ahnden sind. Ein solches Prinzip und die entsprechende
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Praxis haben ihre volle Berechtigung. Die Disziplinarstrafe dient ja ganz
wesentlich den Aufgaben und Bedürfnissen der Verwaltung (KIRCHHOFER: a.a.O.,
S. 5). Bei einem staatlichen Betrieb, wie es die S.B.B. sind, ist die
Sicherung seiner Interessen ein wichtiges Moment für die
Disziplinarstrafzumessung. Wer diese Interessen vorsätzlich so schwer
gefährdet, wie es bei dem Diebstahl am Transportgut der Fall ist, muss aus den
Betrieb entfernt werden können, und zwar schon beim ersten Diebstahl. Eine
vorgängige Ermahnung kann bei einem solchen Vergehen der Natur der Sache nach
nicht verlangt werden. Das Bundesgericht kann keine Veranlassung haben, in
derartigen Fällen die Entlassung nicht zuzulassen.
Beim Rekurrenten sind freilich zwei Milderungsgründe vorhanden: sein gutes
dienstliches Vorleben und das sofortige Geständnis. Sie müssten eine Rolle
spielen, wenn es sich um die ziffernmässige Festsetzung einer Strafe handeln
würde. Sie sind aber nicht geeignet, den Rekurrenten in einem Masse zu
entlasten, dass auf dem Boden jener berechtigten grundsätzlichen Auffassung,
was die Diebstähle am Transportgut anlangt, die Entlassung nicht mehr als
zulässig erschiene. Dass die Rücksichten auf die Familie des Rekurrenten bei
der richterlichen Nachprüfung der Strafzumessung nicht in Betracht kommen
können, ist bereits bemerkt worden...
Vgl. Nr. 11. - Voir no 11.