S. 235 / Nr. 45 Doppelbesteuerung (d)

BGE 63 I 235

45. Auszug aus dem Urteil vom 22. Oktober 1937 i. S. Matthys gegen Gemeinde
St. Moritz sowie Kanton Bern und Graubünden.


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Regeste:
Die im Verbot interkantonaler Doppelbesteuerung liegende Verpflichtung, vor
bessern Steuerberechtigungen zurückzutreten, erfordert, dass das
Steuerverfahren mit der durch die Rücksicht auf die übrigen
Steuerberechtigungen gebotenen Beschleunigung durchgeführt wird. Eine
Verwirkung sachlich gegebener Steuerberechtigungen kann sich daraus ergeben,
dass der endgültige Entscheid über einen bestrittenen Anspruch im
Rechtsmittelverfahren ohne ausreichenden Grund über Gebühr verzögert wird.

A. - Der Rekurrent ist Koch im elterlichen Gasthaus Schlegwegbad in
Innerbirrmoos, Kanton Bern, und versieht Wintersaisonstellen in andern
Betrieben: 1932/33 und 1933/34 im Hotel Suvrettahaus in St. Moritz (Kanton
Graubünden). Er hatte in St. Moritz seinen Saisonerwerb zu versteuern. In der
Steuererklärung im Wohnsitzkanton für das Jahr 1935 deklarierte er nur seinen
Erwerb im elterlichen Geschäftsbetrieb und wies sich über die Besteuerung in
St. Moritz aus. Der Saisonerwerb wurde in die Erwerbsbesteuerung einbezogen,
wogegen der Pflichtige am 8. Juli 1935 rekurrierte mit dem Antrag auf
Wiederherstellung seiner Selbsttaxation. Am 9. Juli 1937 wurde der Rekurs
abgewiesen und die angefochtene Taxation bestätigt unter Auflage der Kosten an
den Rekurrenten.
Mit Eingabe vom 19. Juli 1937 ergreift der Rekurrent die
Doppelbesteuerungsbeschwerde mit dem Antrag auf Feststellung des zur
Besteuerung zuständigen Kantons.
Der Regierungsrat des Kantons Bern beantragt Abweisung der Beschwerde
gegenüber Bern unter Berufung

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auf die Praxis des Bundesgerichtes, der Kleine Rat des Kantons Graubünden
Abweisung gegenüber Graubünden, weil die Steuern in St. Moritz schon mehrere
Jahre vorbehaltlos bezahlt worden seien. Die Gemeindeverwaltung St. Moritz
erklärt in einem Bericht an die Steuerverwaltung ihres Kantons, es gehe zu
weit, wenn man Reklamationen wegen Steuereinnahmen, die vier Jahre
zurückliegen, berücksichtigen müsste.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- ...
2.- . . . Es ist davon auszugehen, dass der Rekurrent für das Einkommen aus
seiner Saisonstelle in St. Moritz für die Zeit vom Januar und Februar 1934
unzulässigerweise doppelt besteuert wird und Anspruch darauf erheben kann,
dass die Besteuerung an einem der beiden Orte, die ihn in Anspruch nehmen,
aufgehoben werde.
Nun ist zwar darüber ein Zweifel nicht möglich, dass dem Kanton Bern, als dem
Wohnsitzkanton, die Besteuerung des gesamten Einkommens des Rekurrenten
zugestanden hätte, mit Einschluss des Saisonerwerbes in St. Moritz. Es frägt
sich aber, ob diese Besteuerung heute noch zulässig ist.
3. - Das Verbot interkantonaler Doppelbesteuerung ist in erster Linie eine
Norm materiellen Rechtes und betrifft die sachliche Ausscheidung der
Steuerberechtigung zwischen den Kantonen bezüglich der steuerpflichtigen
Personen und Objekte. Es wirkt sich aber auch notwendigerweise auf das
Verfahren aus, da der Kanton und die Gemeinde, zu denen der Steuerpflichtige
in Beziehungen steht, die für die Besteuerung erheblich sein können, sich mit
den übrigen Steuerberechtigten unter Umständen auseinanderzusetzen und dabei
vor bessern Steuerberechtigungen zurückzutreten haben. Dies kann ihnen aber
nur zugemutet werden, wenn jene andern Berechtigten ihre Ansprüche in einer
Weise zur Geltung bringen, die die Besteuerung seitens der übrigen Hoheiten
nicht

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ungebührlich stört. Demgemäss haben alle beteiligten Behörden bei der Erhebung
der Steuer Rücksicht zu tragen, wenn sie den Steuerpflichtigen in Beziehungen
in Anspruch nehmen, die zu einer Auseinandersetzung mit einem andern Kanton
führen können. Sie haben zunächst ihre Ansprüche rechtzeitig anzumelden. Die
Pflicht zur Rücksichtnahme gilt als verletzt, wenn neue, von der bisherigen
Besteuerung eines Pflichtigen abweichende Steueransprüche aus interkantonalen
Beziehungen nach Ablauf des Steuerjahres erhoben werden; sie haben
zurückzutreten, wenn inzwischen der andere Kanton infolge der Säumnis
unangefochten von seiner Steuerbefugnis Gebrauch gemacht hat (BGE 50 I No. 19
und 20). Dabei genügt es nach neuerer Praxis nicht mehr, dass das
Veranlagungsverfahren rechtzeitig eröffnet wurde. Es darf auch die
Geltendmachung des Steueranspruches selbst nicht ungebührlich lange
hinausgeschoben werden. Das nachträglich angemeldete Besteuerungsrecht eines
Kantons wird auf Beschwerde hin als verwirkt erklärt, wenn im andern Kanton
die Steuer bereits vorbehaltlos bezahlt ist (Urteil vom 28. Juni 1928 i. S.
Merke und vom 21. Mai 1937 i. S. Uhlmann-Evraud). Es rechtfertigt sich aber
auch, die Verwirkung auszusprechen, in Fällen, in denen die Taxationsanzeige
zwar rechtzeitig während des Steuerjahres zugestellt, die endgültige
Entscheidung über den Anspruch im Rechtsmittelverfahren aber ohne
ausreichenden Grund ungebührlich lange verzögert wird. Die Rücksichtnahme im
interkantonalen Verhältnis erfordert, dass die Kantone Rekurse über
interkantonale Steuerbeziehungen beförderlich erledigen. Der Kanton, der diese
Rücksicht missachtet, kann nicht Anspruch darauf erheben, dass der andere
Kanton zur Rückerstattung längst erhobener Steuern verhalten wird.
4. - Im vorliegenden Falle wurde die Veranlagung für 1935 auf Grund des
Einkommens 1934 ordnungsgemäss im ersten Halbjahr 1935 vorgenommen. Der gegen
die Veranlagung erhobene Rekurs, vom 8. Juli 1935, blieb aber ohne
ersichtlichen Grund im Inspektorat der

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Rekurskommission anderthalb Jahre (vom 16. Dezember 1935 bis 3. Juni 1937)
liegen und wurde von der Rekurskommission erst am 9. Juli 1937, also 2 Jahre
nach der Einreichung, erledigt. Es handelte sich um einen Fall geringfügiger
Bedeutung, bei einfachem Tatbestand und ohne weiteres klarer Rechtslage, bei
dem sich schon im Hinblick auf die Besteuerung für die nächste Saison eine
beschleunigte Erledigung aus der erforderlichen Rücksichtnahme auf den
beteiligten Kanton aufdrängen musste. In solchen Fällen ist es richtig,
denjenigen Kanton von der Besteuerung des von zwei Steuerhoheiten in Anspruch
genommenen Einkommens auszuschliessen, der den Entscheid über seinen Anspruch
ungebührlich verzögert hat.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird begründet erklärt gegenüber dem Kanton Bern und der
Entscheid des Präsidenten der Rekurskommission von Bern vom 9. Juli 1937
aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Kanton Bern bei der Heranziehung des
Rekurrenten zur Einkommenssteuer 1935 das Einkommen, das der Rekurrent in den
Monaten Januar bis März 1934 in St. Moritz erzielt hat, nicht mehr besteuern
darf.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 63 I 235
Datum : 01. Januar 1936
Publiziert : 22. Oktober 1937
Quelle : Bundesgericht
Status : 63 I 235
Sachgebiet : BGE - Verwaltungsrecht und internationales öffentliches Recht
Gegenstand : Die im Verbot interkantonaler Doppelbesteuerung liegende Verpflichtung, vor bessern...


BGE Register
63-I-235
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