S. 209 / Nr. 42 Gleichheit vor dem Gesetz (Rechtsverweigerung)(d)

BGE 63 I 209

42. Urteil vom 8. Oktober 1937 i. S. Schefer gegen Appenzell A. Rh.,
Regierungsrat.


Seite: 209
Regeste:
Armenrecht. Die Bestimmung der Strafprozessordnung des Kantons Appenzell A.
Rh. (Art. 104, Abs. 1), wonach der armen Partei ein öffentlicher Verteidiger
nur bestellt wird bei Anklagen wegen eines Verbrechens, für welches
voraussichtlich eine längere Freiheitsstrafe ausgefällt wird, verstösst nicht
gegen Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV.

A. - Der Rekurrent, der sich auf Klage des Armenvaters J. Dütschler, in
Teufen, in einem Ehrverletzungsverfahren vor Kriminalgericht Trogen wegen
Beleldigung zu verantworten hat, war um Bewilligung des Armenrechts und
Bestellung eines Armenanwaltes eingekommen, wobei er verlangt hatte, dass ihm
als Beistand Rechtsanwalt Dr. Jos. Hättenschwiller in St. Gallen beigegeben
werde. Das Gesuch wurde abgewiesen, zuletzt durch einen Entscheid des
Regierungsrates des Kantons Appenzell A. Rh. vom 2. August 1937, weil nach
Art. 104 app. a. rh. StrPO dem Angeklagten ein öffentlicher Verteidiger nur
bestellt werden dürfe, wenn er eine längere Freiheitsstrafe zu gewärtigen
hätte. Mit einer öffentlichen Verteidigung könnte übrigens nach ständiger
Praxis nur ein im Kanton praktizierender Anwalt betraut werden. - Die
Abweisung des Gesuches ergebe sich somit schon aus Art. 104 StrPO,

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Ohne Heranziehung von Art. 55
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 55 Verhandlungs- und Untersuchungsgrundsatz - 1 Die Parteien haben dem Gericht die Tatsachen, auf die sie ihre Begehren stützen, darzulegen und die Beweismittel anzugeben.
1    Die Parteien haben dem Gericht die Tatsachen, auf die sie ihre Begehren stützen, darzulegen und die Beweismittel anzugeben.
2    Vorbehalten bleiben gesetzliche Bestimmungen über die Feststellung des Sachverhaltes und die Beweiserhebung von Amtes wegen.
app. a. rh. ZPO (auf den die kantonale
Justizdirektion die Ablehnung gestützt hatte).
B. - Hierüber beschwert sich Schefer mit staaterechtlicher Beschwerde vom 1.
September 1937 und beantragt Aufhebung des angefochtenen Entscheides. Art. 55
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 55 Verhandlungs- und Untersuchungsgrundsatz - 1 Die Parteien haben dem Gericht die Tatsachen, auf die sie ihre Begehren stützen, darzulegen und die Beweismittel anzugeben.
1    Die Parteien haben dem Gericht die Tatsachen, auf die sie ihre Begehren stützen, darzulegen und die Beweismittel anzugeben.
2    Vorbehalten bleiben gesetzliche Bestimmungen über die Feststellung des Sachverhaltes und die Beweiserhebung von Amtes wegen.
,
Abs. 2 app. a. rh. ZPO sei bundesverfassungswidrig zu erklären und dem
Rekurrenten das Armenrecht zu gewähren. Es sei zu entscheiden, dass
grundsätzlich ausserkantonale Anwälte von der unentgeltlichen Verbeiständung
ihrer Klienten nicht ausgeschlossen werden dürfen (Art. 33
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 33 Petitionsrecht - 1 Jede Person hat das Recht, Petitionen an Behörden zu richten; es dürfen ihr daraus keine Nachteile erwachsen.
1    Jede Person hat das Recht, Petitionen an Behörden zu richten; es dürfen ihr daraus keine Nachteile erwachsen.
2    Die Behörden haben von Petitionen Kenntnis zu nehmen.
BV und 5 Üb. B. zur
BV).
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. - Da sich der Entscheid des Regierungsrates auf ein Strafverfahren bezieht,
in welchem der Angeklagte keine Kostenvorschüsse irgendwelcher Art zu leisten
hat, ist die Beschwerde zur Zeit gegenstandslos, soweit darin die Bewilligung
unentgeltlicher Prozessführung beantragt wird. Es kann sich nur um die Frage
handeln, ob die Ablehnung der öffentlichen Verteidigung zulässig war.
2. - Im angefochtenen Entscheid ist die Abweisung des Begehrens des
Rekurrenten ausdrücklich nicht auf Art. 55
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 55 Verhandlungs- und Untersuchungsgrundsatz - 1 Die Parteien haben dem Gericht die Tatsachen, auf die sie ihre Begehren stützen, darzulegen und die Beweismittel anzugeben.
1    Die Parteien haben dem Gericht die Tatsachen, auf die sie ihre Begehren stützen, darzulegen und die Beweismittel anzugeben.
2    Vorbehalten bleiben gesetzliche Bestimmungen über die Feststellung des Sachverhaltes und die Beweiserhebung von Amtes wegen.
, Abs. 2 app. a. rh. ZPO gestützt
worden (der für Ehrverletzungsprozesse die unentgeltliche Rechtspflege
ausschliesst). Es ist daher weder zu prüfen, welche Bedeutung dieser
Bestimmung im Prozessrecht des Kantons Appenzell A. Rh. zukommt, noch ob sie
im Rahmen ihrer prozessualen Funktion mit dem Bundesverfassungsrecht vereinbar
ist. Der Regierungsrat hat sich vielmehr ausschliesslich auf Art. 104, Abs. 1
app. a. rh. StrPO berufen und untersucht, ob die Voraussetzungen dieser
Vorschrift erfüllt seien. Danach wird
«jedem, der wegen eines Verbrechens, für welches voraussichtlich eine längere
Freiheitsstrafe ausgefällt wird, angeklagt ist und nachweist, dass er die
Kosten der Verteidigung nicht selbst zu bezahlen imstande ist,

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auf sein Verlangen von der Justizdirektion ein öffentlicher Verteidiger
bestellt. Der öffentliche Verteidiger wird in jedem einzelnen Falle von der
Justizdirektion aus der Mitte der im Kanton niedergelassenen Anwälte
bezeichnet.»
Der Regierungsrat hat sich im Einklang mit dieser Bestimmung nicht auf den
Standpunkt gestellt, dass dem Beklagten in Ehrverletzungsprozessen unter
keinen Umständen ein Verteidiger auf Staatskosten bestellt werden könne,
sondern lediglich angenommen, dass im Falle des Rekurrenten die gesetzlichen
Voraussetzungen dafür nicht erfüllt seien. Der Rekurrent hat nicht behauptet,
dass dies nicht zutreffe, besonders dass im Entscheide des Regierungsrates ein
verfassungswidriger Verstoss gegen Art. 104, Abs. 1 l. c. liege. Er hat nur
behauptet, die Verweigerung des Armenrechts verletze den Grundsatz der
Gleichheit vor dem Gesetz, da dadurch der Rekurrent gezwungen werde, allein
vor Gericht aufzutreten, während sich die Gegenpartei durch einen Anwalt
vertreten lassen könne.
3. - Der Grundsatz der Gleichheit des Bürgers vor dem Gesetz enthält keine
Verpflichtung des Staates, der bedürftigen Partei unter allen Umständen, für
jedes Verfahren, vor Gerichten oder Behörden, in das sie einbezogen wird, auf
Staatskosten einen Rechtsbeistand oder Verteidiger zu bestellen. Es folgt aus
ihm nur der Anspruch auf einen Rechtsbeistand in Fällen, wo die Gefahr
besteht, dass die Partei ohne eine solche Hülfe in ihrem Rechte verkürzt
würde. Deshalb wird der Anspruch vor allem umfassend anerkannt im Zivilprozess
und im Parteiprozess überhaupt, wo die Wahrung ihrer Rechte im Verfahren
grundsätzlich den Parteien überlassen ist und Rechtskenntnisse erfordert, über
die der Nichtfachmann in der Regel nicht verfügt.
Anders verhält es sich bei einem Verfahren, in welchem nicht die auf den von
den Parteien vorgelegten, sondern die auf den amtlich ermittelten Tatbestand
sachlich

Seite: 212
zutreffende Entscheidung getroffen wird, Tatbestand und Rechtsfolge von Amtes
wegen, unabhängig von der Stellungnahme der privaten Beteiligten (Parteien) im
Prozess ermittelt werden. Die Garantie für den Schutz der Parteien vor
Benachteiligung liegt hier in erster Linie im Verfahren selbst; deshalb kann,
jedenfalls unter dem Gesichtspunkte des Bundesverfassungsrechts, von den
Kantonen in der Regel nicht gefordert werden, dass sie der armen Partei
darüber hinaus noch einen besonderen Rechtsbeistand beigeben. Dies gilt
zunächst für das Verfahren vor Verwaltungsbehörden, wo nach hergebrachter
Übung der Private selbst auftritt und sich nur ausnahmsweise, in besondern
Fällen, eines Vertreters oder Beistandes bedient. Es kann aber auch
grundsätzlich nicht anders sein im Strafprozess, soweit dieser nach
Offizialprinzip durchgeführt wird.
Ob daraus zu folgern wäre, dass im Strafprozess die Gewährung eines
Rechtsbeistandes oder Verteidigers auf Staatskosten ohne Rechtsverweigerung
überhaupt ausgeschlossen werden darf, kann dahingestellt bleiben. Die
Strafprozessordnung des Kantons Appenzell A. Rh. geht nicht so weit. Sie
schränkt die öffentliche Verteidigung ein auf schwerere Fälle, nämlich auf
Verbrechen, für welche voraussichtlich eine längere Freiheitsstrafe ausgefällt
wird, und lässt im übrigen, also in leichten Fällen, den Angeklagten, der
einen Rechtsbeistand nicht zahlen kann, sich selbst verteidigen, wogegen aus
Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV nichts einzuwenden ist. Darauf, ob ein allfälliger Gegner, der
Privatkläger im Strafprozess, sich auf eigene Kosten eines Rechtsbeistandes
bedient, kann unter dem System des Offizialprinzips nichts ankommen.
4. - Der Rekurrent hat weder dargetan, noch auch nur geltend gemacht, dass in
seinem Falle eine «längere Freiheitsstrafe» in Frage kommen könnte. Aus den
Akten ist überhaupt nicht ersichtlich, wegen welchen Vorhalts er sich vor
Kriminalgericht wird zu verantworten haben. Man hat daher davon auszugehen,
dass die Annahme im

Seite: 213
angefochtenen Entscheid, es handle sich um einen leichten Fall, zutrifft. Dann
konnte die Bestellung eines öffentlichen Verteidigers abgelehnt werden.
5. - Deshalb stellt sich die Frage nicht mehr, ob die Ablehnung eines
ausserkantonalen Anwaltes als Rechtsbeistand zulässig war. Immerhin mag hiefür
auf BGE 60 I S. 17, Erw. 2, verwiesen werden.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Der Rekurs wird abgewiesen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 63 I 209
Datum : 01. Januar 1936
Publiziert : 08. Oktober 1937
Quelle : Bundesgericht
Status : 63 I 209
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : Armenrecht. Die Bestimmung der Strafprozessordnung des Kantons Appenzell A. Rh. (Art. 104, Abs. 1)...


Gesetzesregister
BV: 4 
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
33
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 33 Petitionsrecht - 1 Jede Person hat das Recht, Petitionen an Behörden zu richten; es dürfen ihr daraus keine Nachteile erwachsen.
1    Jede Person hat das Recht, Petitionen an Behörden zu richten; es dürfen ihr daraus keine Nachteile erwachsen.
2    Die Behörden haben von Petitionen Kenntnis zu nehmen.
ZPO: 55
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 55 Verhandlungs- und Untersuchungsgrundsatz - 1 Die Parteien haben dem Gericht die Tatsachen, auf die sie ihre Begehren stützen, darzulegen und die Beweismittel anzugeben.
1    Die Parteien haben dem Gericht die Tatsachen, auf die sie ihre Begehren stützen, darzulegen und die Beweismittel anzugeben.
2    Vorbehalten bleiben gesetzliche Bestimmungen über die Feststellung des Sachverhaltes und die Beweiserhebung von Amtes wegen.
BGE Register
60-I-12 • 63-I-209
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
regierungsrat • freiheitsstrafe • strafprozess • unentgeltliche rechtspflege • frage • besteller • rechtsanwalt • bundesgericht • bewilligung oder genehmigung • beklagter • entscheid • verfahren • dauer • rechtsgleiche behandlung • prozessvertretung • kantonales rechtsmittel • zahl • trogen • anklage • weiler
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