S. 123 / Nr. 27 Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr (d)

BGE 63 I 123

27. Urteil des Kassationshofs vom 24. Mai 1937 i. S. Wyler gegen Bern,
Staatsanwaltschaft.

Regeste:
Art. 25 Abs. 1 und Art. 27 MFG: Pflicht des von einer Seitenstrasse in eine
Hauptverkehrsstrasse Einmündenden zur Mässigung seiner Geschwindigkeit, auch
wenn die letztere nicht als Hauptstrasse bezeichnet ist.

A. - Am 9. Juni 1936, 11 Uhr nachts, stiessen auf dem Eigerplatz in Bern die
von ihren Besitzern selbst geführten Automobile des Eugen Wyler und des Dr.
Walter Glaus zusammen.
Der Eigerplatz wird längswegs durchzogen vom Doppeltramgeleise, das von der
Zieglerstrasse nach der Seftigenstrasse führt. In dieser Richtung von der
Ziegler- nach der Seftigenstrasse fuhr Wyler, während Glaus links von der
Zieglerstrasse aus der Mühlemattstrasse auf den Platz eingefahren war, um den
Platz in der Richtung nach der Schwarzenburgstrasse rechts der Seftigenstrasse
zu überqueren.
Der Gerichtspräsident IV von Bern hat am 29. Oktober 1936 den Dr. Glaus wegen
Übertretung des Art. 25, Abs. 1,

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27 Abs. 1, 58 und 59 Ziff. 1 MFG zu Fr. 75.-Busse und den Wyler wegen
Übertretung der Art. 25, Abs. 1, 27 Abs. 1 und 58 MFG zu Fr. 15.-Busse, beide
Bussen bei Nichterhältlichkeit umwandelbar in Gefängnis, verurteilt. Am 26.
Februar 1937 bestätigte das Obergericht dieses Urteil, soweit es gegen Wyler
gerichtet war, aber nur auf Grund von Art. 27 Abs. 1 und 58 MFG, während Art.
25 Abs. 1 MFG als nicht anwendbar erklärt wurde. Das Obergericht stellt fest,
Wyler sei mit 45-50 km Geschwindigkeit auf den Platz eingefahren. Diese
Geschwindigkeit sei zu hoch, wenn man bedenke, dass ein zweites Auto ebensogut
wie von links auch von rechts her, also mit Vortrittsrecht gegenüber Wyler,
hätte in den Eigerplatz einfahren können.
B. - Dagegen erhebt Wyler die Nichtigkeitsklage an den Kassationshof des
Bundesgerichts. Er macht geltend: Seine damalige Fahrgeschwindigkeit sei auf
40 km anzunehmen Wohl habe bei unübersichtlichen Kreuzungen auch der
Vortrittsberechtigte die Geschwindigkeit herabzusetzen, aber auf Grund von
Art. 25 und nicht von Art. 27 MFG; und zudem sei der Eigerplatz übersichtlich.
Der von links kommende Dr. Glaus habe ihn nur deshalb nicht gesehen, weil er
betrunken gewesen sei und nicht aufgepasst habe.
C. - Staatsanwalt und Obergericht schliessen auf Abweisung der Beschwerde.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
Das MFG bestimmt in Art. 25 Abs. 1 und Art. 27:
Art. 25 Abs. 1: «Der Führer muss sein Fahrzeug ständig beherrschen und die
Geschwindigkeit den gegebenen Strassen- und Verkehrsverhältnissen anpassen.
Er hat namentlich in Ortschaften, bei Bahnübergängen und auch sonst überall
da, wo das Fahrzeug Anlass zu Verkehrsstörung, Belästigung des Publikums,
Erschrecken des Viehs oder Unfällen bieten könnte, den Lauf zu mässigen oder
nötigenfalls anzuhalten. Beim Kreuzen

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und Überholen hat er einen angemessenen Abstand einzuhalten.»
Art. 27: «Bei Strassengabelungen und- Kreuzungen hat der Führer die
Geschwindigkeit seines Fahrzeuges zu mässigen und einem gleichzeitig von
rechts kommenden Motorfahrzeug den Vortritt zu lassen.
Werden bestimmte Strassen als Hauptstrassen gekennzeichnet, so hat das auf der
Hauptstrasse verkehrende Motorfahrzeug den Vortritt; das aus der Nebenstrasse
kommende Motorfahrzeug hat die Geschwindigkeit zu mässigen.»
Nach Wortlaut und Sinn dieser Vorschriften geht die Pflicht des Führers zur
Mässigung der Fahrgeschwindigkeit nach Art. 25 Abs. 1 und bei
Strassengabelungen und -Kreuzungen (Art. 27 Abs. 1) dem Vortrittsrecht des von
rechts Kommenden oder des auf der Hauptstrasse Fahrenden vor; denn sie fliesst
aus der allgemeinen Pflicht des Führers nach Art. 25 Abs. 1, sein Fahrzeug
ständig und bei allen gegebenen Strassen- und Verkehrsverhältnissen zu
beherrschen. Der Kassationskläger kann also dem Vorwurf, er sei mit seiner
(nicht aktenwidrig) auf 45-50 km festgestellten Geschwindigkeit zu rasch auf
den Eigerplatz eingefahren und habe so schuldhaft den Unfall mitverursacht,
nicht einfach entgegenhalten, dass er gegenüber Dr. Glaus der
Vortrittsberechtigte gewesen sei.
Allein es bestand auch kein besonderer Grund, aus welchem bei den am Unfallort
und zur Unfallzeit gegebenen Strassen- und Verkehrsverhältnissen der
Kassationskläger seine Geschwindigkeit hätte herabsetzen sollen: Der
Kassationskläger fuhr auf der Hauptverkehrsstrasse, die sich dort zum
Eigerplatz erweitert, der breit und übersichtlich ist und in den die
Hauptverkehrs- wie die Nebenstrassen mit gehörigem Zwischenraum einmünden. Die
Gefahr eines Zusammenstosses mit einem in umgekehrter Richtung auf der
Hauptverkehrsstrasse Fahrenden bestand von vorneherein nicht, und über die
Gefahr eines

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Zusammenstosses mit einem aus einer Nebenstrasse Kommenden, wie es der Fall
war bei Dr. Glaus, ist folgendes zu sagen:
Einmal hat derjenige, der aus einer Nebenstrasse in eine Hauptverkehrsstrasse
fährt, selbst wenn diese nicht als Hauptstrasse im Sinne von Art. 27 Abs. 2
MFG bezeichnet ist, sich zu vergewissern, ob er sein Vortrittsrecht von rechts
gegenüber einem auf der Hauptverkehrsstrasse Fahrenden ausüben kann. Denn die
Gründe, die unter gewissen Umständen zur Kennzeichnung einer
Hauptverkehrsstrasse als Hauptstrasse mit der Wirkung führen, dass auch der
von links auf dieser Strasse Fahrende gegenüber dem aus der Nebenstrasse
Kommenden das Vortrittsrecht hat, verpflichten auch in den übrigen Fällen den
aus der Nebenstrasse Kommenden zu besonderer Vorsicht. Von dem auf der
Hauptverkehrsader Fahrenden kann man vernünftigerweise nicht verlangen, dass
er vor jeder Seiteneinmündung rechts stark genug abbremse, um dem dort
allenfalls Einmündenden unter allen Umständen sein Vortrittsrecht zu lassen.
Für diesen besteht vielmehr eben nach Art. 25 Abs. 1 bezw. Art. 27 Abs. 1 MFG
die Pflicht zur Geschwindigkeitsermässigung trotz seines Vortrittsrechts. Ist
er pflichtgemäss mit aller Vorsicht soweit an die Hauptverkehrsader
herangefahren, dass er den Überblick in dieselbe hat, so wird er den Vortritt
ausüben können, wenn der auf der Hauptverkehrsader in einer für diese
angemessene Geschwindigkeit Heranfahrende ihn zu gewähren noch in der Lage
ist. Dieses Verhalten ist für alle vernünftigen Automobilfahrer in der Praxis
selbstverständlich und muss es sein, wenn auf Hauptverkehrsadern ein
reibungsloser Verkehr überhaupt möglich sein soll.
Der Kassationskläger durfte sich also schon aus diesem Grunde darauf
verlassen, dass ein aus einer Nebenstrasse, gleich ob links oder rechts, auf
den Eigerplatz Einfahrender seine Geschwindigkeit herabsetzen werde. Dazu kam
aber noch, dass, wie schon erwähnt, der Eigerplatz breit ist und die
verschiedenen Strassen soweit von einander in

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ihn einmünden, dass die auch aus einer Nebenstrasse Einfahrenden genug Weite
vor sich haben, um noch rechtzeitig gesehen zu werden oder die von anderswo
Herkommenden zu sehen. Auch darauf durfte der Kassationskläger sich verlassen.
Es bestand deshalb für ihn nicht der geringste Grund, seine Geschwindigkeit
herabzusetzen. Wenn es zwischen ihm und Dr. Glaus zu einem Zusammenstoss
gekommen ist, so liegt das Verschulden ausschliesslich bei Dr. Glaus, der aus
einer Nebenstrasse einfahrend dem von rechts her auf der Hauptverkehrsstrasse
kommenden Kassationskläger nicht den Vortritt liess, obschon er genügend
Sichtweite hatte, um ihn rechtzeitig zu sehen.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen und der Kassationskläger von
Schuld und Strafe freigesprochen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 63 I 123
Datum : 01. Januar 1936
Publiziert : 24. Mai 1937
Quelle : Bundesgericht
Status : 63 I 123
Sachgebiet : BGE - Verwaltungsrecht und internationales öffentliches Recht
Gegenstand : Art. 25 Abs. 1 und Art. 27 MFG: Pflicht des von einer Seitenstrasse in eine Hauptverkehrsstrasse...


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63-I-123
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