S. 217 / Nr. 56 Prozessrecht (d)

BGE 62 II 217

56. Urteil der I. Zivilabteilung vom 16. September 1936 i. S. «Habal» gegen
Bliggenstorfer.


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Regeste:
VO über Kreditkassen mit Wartezeit, Art. 10 Verletzung einer
Gerichtstandsbestimmung eidgen. Rechts, OG Art. 87 Ziffer 2. Die Bestimmung,
dass Kreditkassen mit Wartezeit für Ansprüche aus Kreditverträgen auch am
schweiz. Wohnsitz des Klägers belangt werden können, gilt auch für Verträge
die vor Inkrafttreten der VO abgeschlossen worden sind.

A. ­ Mit dringlichem Bundesbeschluss vom 29. September 1934 über die
«Kreditkassen mit Wartezeit (sog. Bausparkassen und ähnliche
Kreditorganisationen)» (A. S. 50 S. 668) hat die Bundesversammlung dem
Bundesrat die Kompetenz eingeräumt, bis zum Erlass eines einschlägigen
Bundesgesetzes «die zum Schutze des Publikums und der Beteiligten
erforderlichen Vorschriften» aufzustellen. In Ausführung dieses Beschlusses
hat der Bundesrat am 5. Februar 1935 eine Verordnung erlassen (A. S. 51 S. 85
ff.) die am 15. Februar 1935 in Kraft getreten ist (Art. 74) und deren Art. 10
Abs. 1 bestimmt: «Für Ansprüche aus Kreditverträgen ... können die Kassen nach
Wahl des Klägers an ihrem schweizerischen Geschäftssitz oder am
schweizerischen Wohnsitze des Klägers belangt werden...»
B. ­ Die Beschwerdeführerin Habal ist eine solche Kreditkasse mit Wartezeit;
ihr Sitz befindet sich in Basel. Der Beschwerdegegner Bliggenstorfer schloss
im Mai 1934 mit der Habal einen Hypotheken-Ablösungsvertrag über den Betrag
von 70000 Fr. ab, auf Grund dessen er bis Anfang Februar 1935 insgesamt 11550
Fr. einzahlte. In der Folge trat er jedoch vom Vertrag zurück und reichte am
18. Dezember 1935 Klage auf Rückerstattung der gemachten Einzahlungen ein und
zwar, unter Berufung auf den oben genannten Art. 10 der bundesrätlichen
Verordnung, beim Handelsgericht Zürich als dem Gerichte seines Wohnsitzes.
Die Habal bestritt die örtliche Zuständigkeit des

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zürcherischen Richters mit der Begründung, Art. 10 verstosse gegen Art. 59 BV,
laut welchem der aufrechtstehende Schuldner für persönliche Ansprachen an
seinem Wohnsitz belangt werden müsse; überdies sei keine Rückwirkung des Art.
10 auf die vor Inkrafttreten der Verordnung abgeschlossenen Verträge
vorgesehen.
Sowohl das Handelsgericht, wie das Obergericht Zürich wiesen jedoch die
Unzuständigkeitseinrede ab.
C. - Gegen den Entscheid des Obergerichtes vom 21. April 1936 hat die Habal
sowohl eine staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des Art. 59 BV, wie
eine zivilrechtliche Beschwerde gemäss Art. 87 Ziffer 3 OG wegen Verletzung
einer Gerichtsstandsbestimmung des eidgenössischen Rechts eingereicht.
D. ­ Mit Urteil vom 12. Juni 1936 hat die staatsrechtliche Abteilung des
Bundesgerichts die staatsrechtliche Beschwerde der Habal abgewiesen (vergl. 62
I S. 77).
E. ­ Zur Begründung ihrer zivilrechtlichen Beschwerde hat die Habal wie schon
vor den kantonalen Instanzen geltendgemacht, dass Art. 10 keine rückwirkende
Kraft habe und daher auf die sog. Altverträge keine Anwendung finde; zudem
würde seine Anwendung eine Verletzung ihrer wohlerworbenen Rechte bedeuten.
F. ­ Der Beschwerdegegner Bliggenstorfer hat auf Abweisung der Beschwerde
angetragen. Das Obergericht Zürich hat auf Vernehmlassung verzichtet.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. ­ Durch den Entscheid der staatsrechtlichen Abteilung ist verbindlich
festgestellt, dass die in Art. 10 der Verordnung enthaltene
Gerichtsstandsvorschrift keine Verletzung von Art. 59 BV bedeutet. Im Rahmen
der auf Art. 87 Ziffer 3 OG gestützten zivilrechtlichen Beschwerde kann sich
daher nur noch fragen, ob die Vorinstanzen den streitigen Art. 10 seinem
Inhalte nach insofern unrichtig ausgelegt haben, als sie ihn zu Unrecht auch
auf Prozesse über vor Inkrafttreten der Verordnung abgeschlossene

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Bausparverträge anwendbar erklärt haben. Dann läge nämlich die Verletzung
einer Gerichtsstandsbestimmung eidgenössischen Rechts in deren Anwendung auf
einen Streitfall, der ihr richtigerweise nicht unterstünde.
a) Die Beschwerdeführerin ist der Meinung, nach dem allgemein anerkannten
Grundsatz der Nichtrückwirkung von Gesetzen und diesen gleichstehenden
Erlassen könne Art. 10 der Verordnung mangels einer ausdrücklichen Bestimmung
gegenteiligen Inhalts auf die sog. Altverträge nicht Anwendung finden. Wie
jedoch schon die Vorinstanzen zutreffend ausgeführt haben, handelt es sich im
vorliegenden Falle gar nicht um eine Frage der Rückwirkung. Art. 10
beansprucht keine rückwirkende Kraft. Er galt erst vom Tage des Inkrafttretens
der Verordnung, also gemäss Art. 74 erst vom 15. Februar 1935 an. Von diesem
Tage an aber beanspruchte er sofortige und absolute Geltung; handelt es sich
doch um eine Vorschrift öffentlich-rechtlicher Natur, nämlich um eine solche
des Prozessrechts, das vom Staate kraft der ihm zustehenden Machtbefugnisse
geregelt wird, um die privatrechtlichen Ansprüche seiner Bürger in möglichst
vollkommener Weise zu schützen. Eine neue, zur besseren Erreichung dieses
Zieles erlassene Prozessordnung muss daher, soweit nicht prozessual bereits
abgeschlossene Tatbestände in Frage stehen, vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens
an auf alle Prozesse Anwendung finden, ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt der
Entstehung des zu beurteilenden materiellen Rechtsverhältnisses (vgl. HELLWIG,
System des Zivilprozessrechts I S. 25 ff.). Eine Gerichtsstandbestimmung ist
danach auf alle Prozesse anwendbar, die nach ihrem Inkrafttreten anhängig
gemacht werden; ob das materielle Rechtsverhältnis früher, unter der
Herrschaft einer andern Gerichtsstandsnorm, entstanden sei, ist ohne Einfluss.
Für die Frage, wo eine Klage anhängig gemacht werden müsse, ist allein der
Moment der Klageerhebung massgebend. Da im vorliegenden Falle Bliggenstorfer
seine Klage am 18. Dezember 1935 anhängig gemacht hat, während die

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Verordnung, und mit ihr Art. 10, schon am 15. Februar desselben Jahres in
Kraft getreten ist, so bestimmt sich der Gerichtsstand nach Art. 10 der
Verordnung.
b) Selbst wenn übrigens die Anwendung einer prozessrechtlichen Bestimmung auf
ein vor ihrem Inkrafttreten begründetes materielles Rechtsverhältnis als
Rückwirkung anzusehen wäre, wie die Beschwerdeführerin dies behauptet, so wäre
mit den Vorinstanzen zu sagen, dass der Grundsatz der Rückwirkung dort nicht
Platz greift, wo sich aus Gründen der öffentlichen Ordnung die gegenteilige
Lösung aufdrängt, welche Voraussetzung hier zweifellos gegeben wäre mit
Rücksicht auf die grosse soziale Bedeutung, die der Regelung des gesamten
Bausparkassenwesens innewohnt.
2. ­ Die Anwendung des Art. 10 auf Altverträge hat nun allerdings zur Folge,
dass sich die Beschwerdeführerin für die von Bliggenstorfer gegen sie
erhobenen Ansprüche am Wohnsitz des letzteren auf einen Rechtsstreit einlassen
muss, während sie in einem vor dem 15. Februar 1935 angehobenen Prozess über
genau den gleichen Gegenstand sich auf die Garantie des
Wohnsitzgerichtsstandes hätte berufen können. Zu Unrecht glaubt die
Beschwerdeführerin jedoch, hieraus ableiten zu können, dass Art. 10 der
Verordnung ihre «wohlerworbenen Rechte» verletze. Denn ohne dass näher darauf
einzutreten ist, was überhaupt unter einem «wohlerworbenen Recht» zu verstehen
sei, so darf doch wohl davon ausgegangen werden, dass von «wohlerworbenen
Rechten» nur auf dem Gebiete des Privatrechts gesprochen werden kann: Gerade
weil es sich um privatrechtliche, durch Vereinbarung der Parteien geregelte
Verhältnisse handelt, werden die daraus fliessenden Rechte als «wohlerworbene»
bezeichnet, in welche der Staat bei einer Änderung der Gesetzgebung in der
Regel nicht eingreifen darf. Die Frage, ob man es mit einem «wohlerworbenen
Rechte» zu tun habe, stellt sich somit nur dort, wo der Staat für ein bis
anhin völlig der freien Vereinbarung der Parteien überlassenes Gebiet eine
zwingende

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und darum dem öffentlichen Recht angehörende Regelung trifft (vgl. BURCKHARDT,
Die Organisation der Rechtsgemeinschaft, S. 89 ff.). Wie nun bereits
ausgeführt wurde, ist die im Prozessrecht getroffene Regelung des
Gerichtsstandes öffentlich-rechtlicher Natur: Wenn die Beschwerdeführerin vor
dem Erlass des Art. 10 der Verordnung sich einer Belangung vor den
zürcherischen Gerichten hätte widersetzen können, so wäre sie hiezu nicht auf
Grund einer privatrechtlichen Vereinbarung mit Bliggenstorfer gefugt gewesen,
sondern aus öffentlich-rechtlichen Gründen. Griff Art. 10 aber nicht in das
privatrechtliche Verhältnis der Streitparteien ein, so kann auch keine Rede
davon sein, dass er ein «wohlerworbenes Recht» der Beschwerdeführerin
verletze. Ob die Frage anders zu beantworten wäre, wenn durch eine
vertragliche Gerichtsstandsvereinbarung die Gerichte am Sitz der
Beschwerdeführerin für alle Streitigkeiten aus dem Vertrag als zuständig
erklärt worden wären, kann dahingestellt bleiben, da sich eine derartige
Vereinbarung im Vertrag nicht vorfindet.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 62 II 217
Date : 01. Januar 1936
Published : 16. September 1936
Source : Bundesgericht
Status : 62 II 217
Subject area : BGE - Zivilrecht
Subject : VO über Kreditkassen mit Wartezeit, Art. 10 Verletzung einer Gerichtstandsbestimmung eidgen...


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BV: 10  59
OG: 87
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62-II-217
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