S. 203 / Nr. 52 Familienrecht (d)

BGE 62 II 203

52. Urteil der II. Zivilabteilung vom 24. September 1936 i. S. Dörig gegen
Dörig.


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Regeste:
Kinder aus geschiedener Ehe dürfen nicht deswegen allein beiden Eltern
entzogen werden, weil der Vater nur einen so kleinen Beitrag zu leisten
vermag, dass die Mutter Armenunterstützung in Anspruch nehmen muss.

A. ­ Im Ehescheidungsprozess der Parteien, in dem das Bezirksgericht Appenzell
am 14. November 1935 die Ehetrennung auf unbestimmte Zeit aussprach, hat das
Kantonsgericht von Appenzell Innerrhoden am 23. Januar 1936 in Abweisung der
Appellation der Ehefrau die fünf 8 bis 14 jährigen Kinder der
Vormundschaftsbehörde zugewiesen und den Ehemann zu einem Unterhaltsbeitrag
von monatlich 70 Fr. verurteilt.
B. ­ Gegen dieses Urteil hat die Ehefrau die Berufung an das Bundesgericht
erklärt mit den Anträgen auf Zuweisung der Kinder an sie und Verurteilung des
Ehemannes zu einem monatlichen Unterhaltsbeitrag von 120 Fr. für
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Nach der von der Vorinstanz selbst angeführten ständigen Rechtsprechung des
Bundesgerichts darf die gemäss Art. 156 ZGB dem Scheidungsrichter obliegende
Gestaltung der Elternrechte nur dann zur Entziehung der elterlichen Gewalt
gegenüber beiden Eltern und zur Bevormundung führen, wenn die von Art. 285
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 285 - 1 Der Unterhaltsbeitrag soll den Bedürfnissen des Kindes sowie der Lebensstellung und Leistungsfähigkeit der Eltern entsprechen; dabei sind das Vermögen und die Einkünfte des Kindes zu berücksichtigen.
1    Der Unterhaltsbeitrag soll den Bedürfnissen des Kindes sowie der Lebensstellung und Leistungsfähigkeit der Eltern entsprechen; dabei sind das Vermögen und die Einkünfte des Kindes zu berücksichtigen.
2    Der Unterhaltsbeitrag dient auch der Gewährleistung der Betreuung des Kindes durch die Eltern oder Dritte.
3    Er ist zum Voraus zu entrichten. Das Gericht setzt die Zahlungstermine fest.
ZGB
hiefür aufgestellten Gründe zutreffen, nämlich die Eltern zur Ausübung der
elterlichen Gewalt nicht imstande sind oder sich eines schweren Missbrauches
der Gewalt oder einer groben Vernachlässigung ihrer Pflichten schuldig gemacht
haben (BGE 40 II 315, 40 II 444; 53 II 191; 54 II 73). Im angefochtenen Urteil
wird die Entziehung der elterlichen Gewalt gegenüber der Berufungsklägerin
einzig damit gerechtfertigt, dass sie der Armenbehörde Appenzell erklärte, es
sei ihr nur möglich, die Kinder zu Handen zu nehmen, wenn sie von der Behörde
namhaft unterstützt werde - dass es

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unter diesen Umständen nicht ratsam wäre, die Kinder der Mutter zuzusprechen
­, dass mit einer anderen Lösung offenbar eine Gefahr für das leibliche oder
seelische Wohl der Kinder verbunden wäre. Ebenso laufen die
Entscheidungsgründe der ersten Instanz, auf welche die Vorinstanz überdies
verweist, einfach darauf hinaus, es sei nicht einzusehen, wieso es der Mutter
mit ihrer Pension von monatlich 40 Fr. und dem Unterhaltsbeitrag des Vaters
möglich sein sollte, für sich und die fünf Kinder auf eine Art und Weise
aufzukommen, dass für das leibliche Wohl der Kinder ausreichend gesorgt wäre.
Von (schwerem) Gewaltsmissbrauch oder (grober) Pflichtenvernachlässigung durch
die Mutter ist also nirgends die Rede. Allein es kann schlechterdings auch
nicht gesagt werden, die Eltern seien nicht «imstande», d. h. nicht befähigt
(vgl. BGE 39 II 172), die elterliche Gewalt «auszuüben», sobald sie eines
Zuschusses der öffentlichen Armenpflege bedürfen, um den Kindern in
gebührender Weise den Unterhalt gewähren zu können. Nicht geschiedenen oder
nicht getrennten Eltern die elterliche Gewalt bloss wegen solcher
Inanspruchnahme der öffentlichen Armenpflege abzusprechen, haben sich die
Kinderfürsorgebehörden noch nie einfallen lassen können; dann darf es nach dem
Gesagten auch nicht gegenüber beiden geschiedenen oder getrennten Eltern
geschehen. Nachdem der Vater den Entzug der elterlichen Gewalt durch die
Vorinstanz ohne weiteres hingenommen hat, kommt für die Zuweisung der Kinder
nur noch die Mutter in Frage, deren Berufung sich somit insofern als begründet
erweist. Dagegen verträgt es sich mit dem bescheidenen Einkommen des Vaters
nicht, ihn mit höheren als den von der Vorinstanz bestimmten
Unterhaltsbeiträgen zu belasten.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird dahin begründet erklärt, dass in Abänderung des Urteils des
Kantonsgerichtes von Appenzell Innerrhoden vom 23. Januar 1936 die Kinder der

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Berufungsklägerin zugewiesen werden und der Berufungsbeklagte zu monatlichen
Unterhaltsbeiträgen von 70 Fr. für die Kinder an die Berufungsklägerin
verurteilt wird. Der Berufungsbeklagte kann die Kinder alle zwei Wochen
während eines dienstfreien halben Tages zu sich nehmen.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 62 II 203
Date : 01. Januar 1936
Published : 24. September 1936
Source : Bundesgericht
Status : 62 II 203
Subject area : BGE - Zivilrecht
Subject : Kinder aus geschiedener Ehe dürfen nicht deswegen allein beiden Eltern entzogen werden, weil der...


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