S. 193 / Nr. 40 Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr (d)
BGE 62 I 193
40. Urteil des Kassationshofes vom 12. Oktober 1936 i. S. Donat gegen Aargau,
Staatsanwaltschaft, und Isler.
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Regeste:
Legitimation des Privatstrafklägers zur Kassationsbeschwerde. (Art. 270
BStrP.)
Vortrittsrecht: Begriff der Gleichzeitigkeit. (Art. 27 MFG.)
A. - Am 24. Juli 1935 fuhr Donat mit seinem Auto auf der Nebenstrasse von
Anglikon her gegen die Überlandstrasse Lenzburg-Wohlen, in der Absicht, nach
links (Richtung Wohlen) in dieselbe einzuschwenken. Obgleich er auf derselben
aus der Richtung von Lenzburg her ein Automobil heranfahren sah, vollzog er
die Einschwenkung in der Annahme, er habe noch genügend Zeit hierzu. In der
Tat gelang es ihm, noch auf die rechte Fahrbahn - ob vollständig oder nur
ungefähr steht dahin - zu gelangen, als sein Wagen ungefähr 22 m nach der
Einmündung der Seitenstrasse vom Auto Isler hinten rechts angefahren und
beschädigt wurde. Isler hatte vor dem einschwenkenden Wagen - 22 m vor der
Kreuzung - abgestoppt, aber bei der eingehaltenen Geschwindigkeit nicht vor
dem Zusammenstoss anhalten können. Die angehobene Untersuchung führte zur
Anklage gegen Donat, während der Staatsanwalt Einstellung des Verfahrens
gegenüber Isler beantragte, worauf Donat als Privatstrafkläger vorging.
B. - Durch Urteil des Obergerichtes des Kantons Aargau vom 22. Mai 1936 wurde
Donat der Übertretung der Art. 27 Abs. 2 und 25 Abs. 1 MFG schuldig erkannt
und zu einer Busse von 20 Fr. verurteilt, Isler dagegen freigesprochen.
Zur Begründung führt es aus, dass Donat das Vortrittsrecht Islers nicht
genügend beobachtet habe; nach den Umständen habe er sich sagen müssen, dass
das Auto Isler, das er heranfahren sah, eine bedeutende Geschwindigkeit haben
müsse (welche die Vorinstanz auf jener ausgezeichneten Landetrasse nicht als
unzulässig beurteilte),
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so dass es in spätestens 10 Sekunden die Kreuzungsstelle erreicht haben würde.
Wenn er unter diesen Umständen sich doch noch den Eintritt in die Hauptstrasse
erzwingen wollte, so bedeute dies einen Verstoss gegen die Regeln des
Vortrittsrechtes und ein Wagnis, auf das sich ein vorsichtiger Automobilist
nicht eingelassen hätte.
C. - Gegen dieses Urteil hat Donat Kassationsbeschwerde eingereicht, mit
welcher er seine Freisprechung und die Bestrafung Islers beantragt.
Die Staatsanwaltschaft und Isler beantragen Abweisung der
Kassationabeschwerde.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.- Es ist nicht bloss auf die Beschwerde Donats gegen seine Verurteilung,
sondern auch auf diejenige gegen die Freisprechung Islers einzutreten. Denn
laut Auskunft der aargauischen Staatsanwaltschaft ist der öffentliche Ankläger
in dem Strafverfahren, welches nach der Einstellungsverfügung des öffentlichen
Anklägers auf Privatstrafklage hin aufgenommen wird (§ 117 aarg. StrPO), nicht
mehr beteiligt, sondern dieses spielt sich ausschliesslich zwischen
Privatstrafkläger und Angeklagtem ab; der Staatsanwalt ist mithin zur
Weiterziehung des Strafurteils nicht legitimiert. Infolgedessen ist nach den
in BGE 62 I 55 über die Beschwerdelegitimation des Privatstrafklägers
aufgestellten Grundsätzen Donat zur Einreichung der Kassationsbeschwerde gegen
die Freisprechung Islers berechtigt (Art. 270 BStrP).
2.- In der Sache selbst macht Donat geltend, er habe dem Isler das
Vortrittsrecht nicht einräumen müssen, weil die beiden Fahrzeuge nicht
gleichzeitig an der Kreuzungsstelle eingetroffen seien, sondern das seinige
vorher, wie der Zusammenstoss beweise, der erst mehr als 20 m nach der
Strassenkreuzung stattgefunden habe. Der Zusammenstoss sei auf das weit
übersetzte, der Einmündung einer Seitenstrasse in keiner Weise Rechnung
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tragende Tempo Islers zurückzuführen, das ihn ausserstand gesetzt habe, seinen
Wagen in genügender Weise zu beherrschen, um links an ihm vorzufahren. Diese
Auffassung engt den Begriff der Gleichzeitigkeit allzusehr ein. Hätte Isler
nicht schon 22 m vor der Kreuzung mit aller Macht gebremst, sondern wäre er
ungebremst weiter gefahren, so ist mit einer an Gewissheit grenzenden
Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass vor seinem Eintreffen an der
Kreuzungsstelle der Wagen Donat die rechte Strassenseite noch nicht erreicht
gehabt hätte, also beim Einschwenken von ihm erfasst worden wäre. Es ist
selbstverständlich aber mit dem Vortrittsrecht nicht vereinbar, dem
Berechtigten die Verlangsamung der Fahrt zuzumuten, um dem Nichtberechtigten
die Strasse freizugeben. Das würde auf eine Verneinung des Vortrittsrechtes
hinauslaufen. Die Gleichzeitigkeit ist vielmehr immer dann anzunehmen, wenn
der Vortrittsberechtigte seine Fahrt nicht ungestört fortsetzen könnte, ohne
mit dem seine Fahrbahn kreuzenden oder in dieselbe einschwenkenden andern
Fahrzeug zu kollidieren, und das selbst dann, wenn das einschwenkende Fahrzeug
genügend Zeit hat, die rechte Fahrbahn zu gewinnen, aber nicht in dem Abstand
vor dem vortrittsberechtigten, der dem einschwenkenden entweder erlaubt, die
nötige Beschleunigung vor dem andern zu erreichen oder diesem den
erforderlichen Raum zum Vorfahren frei zu lassen. Dabei ist mit der
tatsächlich vom Vortritisberechtigten innegehaltenen Geschwindigkeit zu
rechnen. Ist sie eine den gegebenen Strassen- und Verkehrsverhältnissen nicht
angepasste, so bringt ihn das keineswegs um sein Recht auf den Vortritt,
sondern ist ihm anderweitig anzurechnen, in diesem Zusammenhang z. B. häufig
unter dem Gesichtspunkt, dass er durch sein übersetztes Tempo dem andern die
Beachtung des Vortrittsrechtes nicht ermöglicht hat (vgl. BGE 61 I 216). Davon
kann aber hier keine Rede sein. Es handelt sich um eine der best ausgebauten
Überlandstrassen der Schweiz und um eine Strecke
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ausserorts, auf der jede Geschwindigkeit erlaubt ist, weil der darauf Fahrende
bei der Übersichtlichkeit der Hauptstrasse vom Seitenweg aus damit rechnen
darf, dass er von jedem Fahrzeugführer von dort aus wahrgenommen wird, wie ihn
ja unbestrittenermassen der Beschwerdeführer auch gesehen hat. Wenn gesagt
wird, dass der Vortrittsberechtigte mit der Möglichkeit ungeschickten
Verhaltens des andern rechnen und sich darauf einstellen müsse, so ist darauf
zu erwidern, dass es hier eine Grenze gibt, und diese wäre überschritten, wenn
man dem Fahrzeugführer auf der übersichtlichen Hauptstrasse zumuten wollte,
dass er auf die Missachtung seines Vortrittsrechtes aus jedem Seitenweg heraus
gefasst sein müsse. Vielmehr genügt er seiner Führerpflicht, wenn er sich
vorkehrt, sobald er besondern Anlass hierzu hat. Dass aber Isler, als er die
gegen alle Erwartung unternommene Einschwenkung Donats gewahrte, nicht sofort
das Erforderliche vorgekehrt, nämlich gebremst habe, ist den Feststellungen
der Vorinstanz nicht zu entnehmen.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Beschwerde wird abgewiesen.