S. 355 / Nr. 57 Prozessrecht (d)

BGE 60 II 355

57. Urteil der II. Zivilabteilung vom 4. Oktober 1934 i. S. Gisiger gegen
Krebs.

Regeste:
Revision eines bundesgerichtlichen Urteils. Art. 95 ff . OG. Art. 192 Ziff. 3
BZP.
Die Revision kann auch wegen eines fahrlässig verübten Vergehens verlangt
werden.
Ablehnung des Revisionsbegehrens, wenn das Vergehen keinen Einfluss auf die
Entscheidung gehabt hat.

(Tatbestand gekürzt.)
A. - Durch Urteil vom 16. Dezember 1932 hat das Bundesgericht einen Entscheid
des Appellationshofes des Kantons Bern bestätigt, durch den der Beklagte und
Revisionskläger als ausserehelicher Vater der am 3. Juli 1931 geborenen Erna
Krebs zu Unterhaltsleistungen an Mutter und Kind verurteilt worden war. Die
Kindsmutter, die damals im Hotel Falken in Thun diente, besuchte Samstag, den
6. Oktober 1930, einen Tanzanlass in Wattenwil. Dorthin begab sich auch der
Beklagte auf seinem Motorrad, um mit einem Reisegrammophon zum Tanze
aufzuspielen. Nun soll es nach der Darstellung der Kindsmutter nach dem
Anlass, der morgens um drei Uhr zu Ende ging, nahe der Station Burgistein, wo
sie den Frühzug nach Thun zu nehmen hatte, zum Geschlechtsverkehr gekommen
sein. Zeugen bestätigten entgegen der Bestreitung des Beklagten, dass dieser
die

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Klägerin auf dem Weg anredete und sie fragte, ob sie jetzt aufsitzen wolle.
Auch im übrigen erschien die Darstellung der Klägerin dem Appellationshof
glaubwürdig, zumal sie genaue Angaben zu machen wusste. Es wurde auch in
Betracht gezogen, dass sich ihre Schilderung, wonach der Beklagte sie nach dem
Geschlechtsverkehr tatsächlich auf dem Motorrad nach Thun führte, durch eine
Mitangestellte vom Hotel Falken einigermassen bestätigt fand, die schon vor
Amtsgericht bezeugte, sie habe die Klägerin eines Sonntags früh im Herbst 1930
mit einem Motorradfahrer beim Hotel Falken vorfahren sehen, und bei der
nochmaligen Einvernahme durch eine Delegation des Appellationshofes sogar im
Beklagten den betreffenden Motorradfahrer wiedererkennen wollte. Der
Appellationshof erachtete durch ihre Aussagen «jedenfalls soviel als bewiesen,
dass die Klägerin-Mutter einmal im frühen Morgen mit einem Motorradfahrer beim
Hotel Falken angekommen ist», was «in Verbindung mit den übrigen feststehenden
Tatsachen immerhin als Indizium gewertet werden» müsse. Die Kindsmutter wurde
zur Beweisaussage über den behaupteten Geschlechtsverkehr angehalten, und da
sie ihre Darstellung dergestalt bekräftigte, wurde die Beiwohnung als bewiesen
angesehen. An diese Beweiswürdigung war das Bundesgericht gebunden.
B. - In der Folge gab die erwähnte Zeugin zu, über die Identität des Beklagten
mit jenem Motorradfahrer, den sie mit der Klägerin beim Hotel Falken
heranfahren gesehen, nichts aussagen zu können. Sie wurde der falschen Aussage
aus Mangel an Aufmerksamkeit schuldig erklärt und zu zwei Tagen Gefängnis
verurteilt. Unter Berufung hierauf verlangt nun der Vaterschaftsbeklagte die
Revision des Vaterschaftsurteils im Sinne der Klagabweisung.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Die Revision eines vom Bundesgericht ausgefällten Zivilurteils kann nach Art.
192 Ziffer 3 BZP anbegehrt

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werden, «wenn auf dem Wege des Strafprozesses erwiesen wird, dass... die
Gegenpartei des Impetranten oder ein zu ihren Gunsten Handelnder ein
Verbrechen oder Vergehen verübt hatte, um das in Frage liegende Urteil
auszuwirken». Diese Bestimmung ist auch gegenüber Urteilen anwendbar, die vom
Bundesgericht als Berufungs- oder Beschwerdeinstanz ausgefällt worden sind
(Art. 95 OG). Dabei ist bereits entschieden worden, dass ein durch Strafurteil
festgestelltes falsches Zeugnis unter den Tatbestand des erwähnten
Revisionsgrundes fällt (vgl. BGE 31 II 358 ff.), und dass eine Einwirkung auf
das kantonale Urteil, dessen Feststellungen ja dem Urteil des als Berufungs-
oder Beschwerdeinstanz angerufenen Bundesgerichtes zugrunde liegen, gleichsam
erheblich ist wie eine unmittelbare Einwirkung auf das Urteil des
Bundesgerichtes (vgl. BGE 25 II 691). Offengelassen wurde dagegen, ob der in
Rede stehende Revisionsgrand nur dann vorliegt, wenn das Vergehen wirklich
Einfluss auf den Entscheid des Gerichtes gewonnen hat, oder ob es genügt, dass
es verübt wurde in der Absicht, solchen Einfluss zu erlangen (vgl. BGE 59 II
191
ff.). Diese Frage ist dahin zu entscheiden, dass ein Vergehen nur dann zur
Revision führen kann, wenn es auf den Entscheid eingewirkt hat. Wenn der
Entscheid ohne das Vergehen gleich ausgefallen wäre, müsste die Revision auf
eine blosse Wiedererwägung hinauslaufen, die unzulässig ist. Es liesse sich
alsdann auch nicht von einem durch den Revisionskläger erlittenen Nachteil
sprechen, wie ihn Art. 98 OG als Voraussetzung des Erfolges der Revision
(«Wirksamkeitsvoraussetzung», vgl. WEISS, Berufung, S. 303 und 347) verlangt.
Ob ein rechtskräftiges Urteil revidiert werden könne und müsse, bestimmt sich
somit nicht nach der Gesinnung eines auf unerlaubte Einwirkung bedachten
Täters, nach seiner blossen Absicht, sondern danach, ob eine für den
Revisionskläger nachteilige Einwirkung tatsächlich stattgefunden hat. Daraus
ergibt sich einerseits, dass eine erfolglos oder wirkungslos

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gebliebene verbrecherische Tätigkeit ausser Betracht fällt, anderseits aber,
dass auch ein bloss fahrlässiges Handeln von Belang ist, falls es unter Strafe
steht und auf das Urteil tatsächlich eingewirkt hat. Diese Auffassung
entspricht denn auch der genauern Fassung anderer Prozessgesetze (vgl. z. B.
bern. ZPO Art. 368 Ziffer 3: «Wenn festgestellt ist, dass durch eine strafbare
Handlung zum Nachteil des Gesuchstellers auf den Entscheid eingewirkt wurde»;
zürch. ZPO § 351 Ziffer 1: «Wenn durch ein strafrechtliches Urteil
festgestellt ist, dass durch ein Verbrechen zum Nachteil des Revisionsklägers
auf den Entscheid eingewirkt wurde»; deutsche ZPO § 580 Ziffer 3: «Wenn durch
Beeidigung eines Zeugnisses oder eines Gutachtens, auf welche das Urteil
gegründet ist, der Zeuge oder der Sachverständige sich einer vorsätzlichen
oder fahrlässigen Verletzung der Eidespflicht schuldig gemacht hat»; vgl. auch
die in verschiedener Hinsicht abweichende Regelung im franz. Code de procédure
civile Art. 480 Ziffer 1: «s'il y a eu dol personnel», wobei immerhin der
ursächliche Zusammenhang ebenfalls verlangt wird: GARSONNET et CÉSAR-BRU,
Traité, 3. Aufl., VI Nr. 467). Für das Bundesgericht, das als Berufungs- oder
Beschwerdeinstanz geurteilt hat, verbietet sich die Berücksichtigung eines
wirkungslos gebliebenen Vergehens noch speziell deshalb, weil die
tatsächlichen Feststellungen der letzten kantonalen Instanz, soweit sie sich
nicht als aktenwidrig erwiesen, dem bundesgerichtlichen Urteil zugrunde gelegt
werden mussten; umsoweniger kann eine Revision des bundesgerichtlichen Urteils
auf Tatsachen gestützt werden deren Kenntnis am Ausgang des Rechtsstreites
nichts zu ändern vermocht hätte, oder auf den Wegfall von Tatsachen, die für
die massgebenden Feststellungen bedeutungslos waren.
Fraglich kann nur sein, ob beim Vorliegen eines Vergehens ein Einfluss auf das
Urteil zunächst zu vermuten sei, die blosse Möglichkeit eines solchen
Einflusses also genüge unter Vorbehalt des Nachweises, dass er tatsächlich

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im gegebenen Falle nicht stattgefunden haben kann. Wie dem auch sei, erweist
sich das vorliegende Revisionsgesuch als unbegründet. Nach der oben
wiedergegebenen Begründung des Urteils des Appellationshofes wurde auf die
Aussagen der betreffenden Zeugin nur gerade insoweit abgestellt, als sie auch
heute noch aufrecht bleiben; auf ihre Erklärung, sie erkenne den
Motorradfahrer im Beklagten, wurde kein Gewicht gelegt, sondern von ihren
Aussagen nur festgehalten, dass die Klägerin-Mutter eines Sonntags früh im
Herbst 1930 mit einem Motorradfahrer beim Hotel Falken angefahren kam.
Demnach erkennt das Bundesgericht
Das Revisionsgesuch wird abgewiesen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 60 II 355
Datum : 01. Januar 1934
Publiziert : 04. Oktober 1934
Quelle : Bundesgericht
Status : 60 II 355
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Revision eines bundesgerichtlichen Urteils. Art. 95 ff. OG. Art. 192 Ziff. 3 BZP.Die Revision kann...


Gesetzesregister
BZP: 192
OG: 95  98
BGE Register
25-II-689 • 31-II-356 • 59-II-191 • 60-II-355
Stichwortregister
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