S. 223 / Nr. 39 Gleichheit vor dem Gesetz (Rechtsverweigerung)(d)

BGE 56 I 223

39. Urteil vom 20. September 1930 i. S. Koch gegen Habermacher.


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Regeste:
Gerichtlicher Vergleich: inwiefern begründet er die Einrede der res judicata?

Tatbestand:
Der Rekurrent hatte sich durch gerichtlichen Vergleich gegenüber den
Rekursbeklagten (seinen ausserehelichen Kindern) verpflichtet, dieselben
entweder zu versorgen oder aber nach seiner Wahl mit monatlichen
Unterhaltsbeiträgen zu unterstützen. In der Folge verlangten die letztern vor
dem Zivilrichter eine Unverbindlicherklärung des Vergleiches wesentlich in dem
Sinn, dass der Rekurrent sein Wahlrecht verliere und schlechthin zu
Unterhaltsbeiträgen verpflichtet sei. Der Rekurrent bestritt seine
Einlassungspflicht, wurde aber vom Obergericht Luzern mit dieser Einrede
abgewiesen. Dagegen erhebt der Rekurrent staatsrechtliche Beschwerde wegen
Verletzung von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV, weil die neuerliche Einklagung einer durch
gerichtlichen Vergleich erledigten Sache unzulässig sei.

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Aus den Erwägungen:
Der Rekurrent behauptet eine willkürliche Verletzung von § 114 Ziff. 2 und 3
der luzern. Zivilprozessordnung. Diese Bestimmung lautet:
«Für ein- und allemal kann die Antwort verweigert werden: ...
2. weil die gleiche Klage bereits rechtskräftig beurteilt oder
3. weil über den Streit bereits ein im Sinne des § 326 dieses Gesetzes
gerichtlich beurkundeter Vergleich abgeschlossen wurde.»
Dass keine willkürliche Verletzung von ZPO § 114 Ziff. 2 vorliegt, ist ohne
weiteres klar, denn eine gerichtliche «Beurteilung» hat nie stattgefunden.
Dagegen liegt - wie auch die kantonalen Gerichte anerkennen - ein im Sinne des
§ 326 der ZPO beurkundeter, d. h. gerichtlicher Vergleich vor. Unter einem
gerichtlichen oder Prozessvergleich versteht man einen Vertrag der Parteien,
durch den ein Prozess beseitigt wird. Ein solcher Vergleich hat somit sowohl
eine materiellrechtliche Seite (Vertragsabschluss) wie auch eine
prozessrechtliche (Beseitigung des Prozesses) und untersteht infolgedessen zum
Teil dem Zivilrecht und zum Teil dem Prozessrecht (vgl. z. B. ROSENBERG,
Zivilprozessrecht, II. Aufl. S. 424; BECKER, Kommentar zu OR Art. 24 Note 20).
Infolgedessen kann er nicht nur aus prozessualen Gründen, sondern auch aus
Gründen des materiellen Rechtes nichtig oder anfechtbar sein. Die
Geltendmachung dieser materiellen Nichtigkeits- oder Anfechtbarkeitsgründe
wird - nach allgemeiner Auffassung - dadurch nicht ausgeschlossen, dass der
privatrechtliche Vertrag in ein prozessuales Gewand gekleidet ist (vgl. FÜRST,
Prozessvergleich S. 93 ff.; Entscheidungen des deutschen Reichsgerichtes Bd.
78 S. 287 ff.; Seuffert's Archiv, Bd. 78 S. 174/B). Dahingestellt kann
bleiben, ob eine Verletzung des Bundesrechts vorliegen würde, wenn gleichwohl
ein Kanton

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durch seine positive Gesetzgebung die Geltendmachung materiell- rechtlicher
Nichtigkeits- oder Anfechtbarkeitsgründe gegenüber einem Prozessvergleiche
verbieten oder verunmöglichen würde. Jedenfalls hat sich das luzernische
Obergericht keiner Willkür schuldig gemacht, wenn es ein solches Verbot aus §
114 Ziff. 3 nicht gefolgert hat. Diese Bestimmung lässt sich - jedenfalls ohne
Willküreinschränkend dahin auslegen, dass der Beklagte gestützt auf diese
Bestimmung die Antwort nur dann verweigern darf, wenn der vergleichsweise
erledigte Streit neuerdings rechtshängig gemacht wird, ohne dass vorher zum
mindesten gleichzeitig die Aufhebung oder Abänderung des Vergleichs wegen des
Vorliegens materiellrechtlicher Anfechtungsgründe verlangt wird. Wird hingegen
in diesem letztern Sinne ein Begehren gestellt, so lässt sich, jedenfalls ohne
Willkür, die Auffassung vertreten, dass dieses Begehren eine andere
Streitsache sei und dass - nach dessen Gutheissung - der Neuregelung der
seiner Zeit durch Vergleiche erledigten Streitsache die Einrede des
rechtskräftigen Vergleiches nicht mehr entgegenstehe. Das Rechtsbegehren der
Kläger geht nun aber nach seiner Begründung auf eine wenigstens teilweise
Aufhebung und Abänderung der Vergleiche vom 23,: Mai 1926 wegen Vorliegen
eines materiellrechtlichen Nichtigkeitsgrundes.
Das Resultat wäre auch höchst unbefriedigend, wenn jedes materiellrechtliche
Anfechtungsrecht mit der gerichtlichen Beurkundung des Vergleiches dahinfallen
würde. Die Nichtigkeit oder Anfechtbarkeit eines Prozessvergleiches ist nicht
immer offenbar und nicht selten von Umständen abhängig, die dem beurkundenden
Richter nicht bekannt sind. Auch befördern die Gerichte die
Vergleichsabschlüsse im Interesse des Rechtsstaates (Herstellung des
Rechtsfriedens) und im eigenen Interesse (Verminderung der Arbeitslast) und
nehmen daher nicht selten die Beurkundung eines Vergleiches selbst dann vor,

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wenn sie betreffs dessen materiellrechtlicher Gültigkeit Bedenken haben. Es
bietet demnach die gerichtliche Beurkundung den Parteien keinen genügenden
Schutz. Es muss die Möglichkeit bestehen, Prozessvergleiche auch nachträglich
noch anzufechten. Etwas gegenteiliges kann auch nicht etwa daraus gefolgert
werden, dass der Prozessvergleich wie ein gerichtliches Urteil vollstreckbar
ist, das gerichtliche Urteil aber nachträglich nur in seltenen Fällen
(Revision) beseitigt werden kann; denn die rechtliche Natur beider ist völlig
verschieden. Das Urteil stellt einen autoritativen Akt der Staatsbehörde dar,
während der Vergleich an sich die Natur eines Privatvertrages hat. Ob im
vorliegenden Falle die beiden Vergleiche, d. h. das darin mit Zustimmung der
Vormundschaftsbehörde dem Rekurrenten eingeräumte Wahlrecht, zwingenden
Rechtsvorschriften widerspricht und daher ungültig ist, sowie auch welchen
Einfluss dieses eventuell auf die Alimentationsverpflichtungen des Rekurrenten
ausübt, sind keine Fragen prozessrechtlicher, sondern Fragen
materiellrechtlicher Natur, die - wie unter lit. a ausgeführt wurde - dem
Bundesgericht als Berufungsinstanz unterbreitet werden können.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 56 I 223
Datum : 01. Januar 1930
Publiziert : 20. September 1930
Quelle : Bundesgericht
Status : 56 I 223
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : Gerichtlicher Vergleich: inwiefern begründet er die Einrede der res judicata?


Gesetzesregister
BV: 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BGE Register
56-I-223
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
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