S. 156 / Nr. 29 Gewaltentrennung (d)

BGE 56 I 156

29. Urteil vom 31. Januar 1930 i. S. Steiger- Züst und Mitbeteiligte gegen
Regierungsrat St. Gallen.


Seite: 156
Regeste:
Beschluss einer kantonalen Regierung, wodurch einer Kursaalunternehmung in
Anwendung von Art. 35 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 35 Verwirklichung der Grundrechte - 1 Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen.
1    Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen.
2    Wer staatliche Aufgaben wahrnimmt, ist an die Grundrechte gebunden und verpflichtet, zu ihrer Verwirklichung beizutragen.
3    Die Behörden sorgen dafür, dass die Grundrechte, soweit sie sich dazu eignen, auch unter Privaten wirksam werden.
BV der Betrieb des Boulespiels erlaubt wird.
Angeblicher Widerspruch zu einem Verbote des kantonalen StGB, das auch einen
Spielbetrieb dieser Art umfasse. Darauf gestützte Beschwerde von
stimmberechtigten Bürgern gegen den Beschluss wegen Verletzung von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV
(willkürlicher Gesetzesauslegung) und Übergriffs der vollziehenden in die
gesetzgebende Gewalt (das Gesetzgebungsrecht des Volkes). Nichteintreten auf
die erste Rüge mangels Legitimation der Beschwerdeführer (Art. 178 Ziff. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
OG)
und Abweisung der zweiten.

A. - Der - kantonalrechtlich nicht aufgehobene- § 169 des st. gallischen
Strafgesetzbuches über Vergehen vom 10. Dezember 1808 (Polizeistrafgesetz),
der im 2. Abschnitt 6. Titel des Gesetzes «Strafbestimmungen wider
polizeiwidrige öffentliche Belustigungen» steht, bestimmt: «Alles verderbliche
und unmässige Spielen, wie z. B. die Bankospiele usw. ist bei Strafe von 30
bis 150 Fr. für denjenigen sowohl, der besagtes Spiel in seinem Hause duldet,
als für jeden Spielenden verboten. Im Wiederholungsfalle wird die Strafe
verdoppelt. Die Hälfte der Busse fällt dem Anleiter zu.»
In den dem Grossen Rate unterbreiteten Motiven zum Gesetzesentwurfe wird zu
dieser Bestimmung bemerkt: «Dass endlich, was sich den Namen gibt der
Belustigung und des Zeitvertreibes, nicht zur Quelle der Verarmung und
häuslichen Zerrüttung werde, oder dass Zerstreutheit und Selbstflucht nicht
übermässig genährt werde, dawider sind im 5. Titel einige Fürsorgen.»

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B. - Durch Beschluss vom 21. Mai, im kantonalen Amtsblatt veröffentlicht am
31. Mai 1929 hat der Regierungsrat des Kantons St. Gallen der A.-G. der Bad-
und Kuranstalten Ragaz- Pfäffers «gemäss Art. 35
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 35 Verwirklichung der Grundrechte - 1 Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen.
1    Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen.
2    Wer staatliche Aufgaben wahrnimmt, ist an die Grundrechte gebunden und verpflichtet, zu ihrer Verwirklichung beizutragen.
3    Die Behörden sorgen dafür, dass die Grundrechte, soweit sie sich dazu eignen, auch unter Privaten wirksam werden.
BV (in der neuen Fassung nach
Volksabstimmung vom 2. Dezember 1928) und Art. 1 der Verordnung des Bundesrats
über den Spielbetrieb in Kursälen vom 1. März 1929» die Bewilligung zum
Betriebe des Boulespieles im Kursaal Ragaz für die Dauer von 3 Jahren unter
gewissen hier nicht in Betracht fallenden Auflagen und unter Vorbehalt der
Genehmigung durch den Bundesrat erteilt. Die vorbehaltene bundesrätliche
«Genehmigung der Bewilligung» ist durch Beschluss vom 7. Juni 1929 erfolgt.
Bevor der Regierungsrat den erwähnten Beschluss fasste, hatte er mit Botschaft
vom 10. Mai 1929 den st. gallischen Grossen Rat von seiner Absicht
unterrichtet. Der Grosse Rat beschloss am 16. Mai, vom Inhalte dieses
Berichtes in zustimmendem Sinne Vormerk zu nehmen. In der Diskussion hatte ein
Redner die Auffassung vertreten, dass die vom Regierungsrat in Aussicht
genommene Bewilligung unzulässig sei, weil sie mit dem Verbot des § 169
Polizeistrafgesetz (PStG) in Widerspruch stehen würde. Der Sprecher des
Regierungsrates bestritt darauf, dass die angeführte Vorschrift auf einen
Spielbetrieb wie den hier in Frage stehenden bezogen werden könne.
C. - Mit der vorliegenden staatsrechtlichen Beschwerde verlangen E. A.
Steiger- Züst in St. Gallen und 8 weitere Personen, Mitglieder des st.
gallischen Komitees gegen die Spielbanken und stimmberechtigte st. gallische
Kantonseinwohner, die Aufhebung des Beschlusses des Regierungsrates vom
21./31. Mai 1929 wegen Verletzung von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV «sowie des Gesetzgebungsrechts
des Volkes». Es wird ausgeführt: der neue Art. 35
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 35 Verwirklichung der Grundrechte - 1 Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen.
1    Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen.
2    Wer staatliche Aufgaben wahrnimmt, ist an die Grundrechte gebunden und verpflichtet, zu ihrer Verwirklichung beizutragen.
3    Die Behörden sorgen dafür, dass die Grundrechte, soweit sie sich dazu eignen, auch unter Privaten wirksam werden.
BV ermächtige in Absatz 2
die Kantone, den Betrieb der bis zum Frühjahr 1925 in Kursälen üblich
gewesenen Unterhaltungsspiele unter gewissen Voraussetzungen und
Beschränkungen zu gestatten, füge dann aber bei, dass die Kantone auch diese

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Spiele verbieten könnten. Vernünftigerweise könne man nicht annehmen, dass ein
solches Verbot, um wirksam zu sein, erst neu erlassen werden müsse. Vielmehr
sei der Sinn der Bestimmung offenbar einfach der, dass von Bundesrechtswegen
der Zulassung einer derartigen Ausnahme vom allgemeinen Verbot der Spielbanken
(Art. 35 Abs. 1
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 35 Verwirklichung der Grundrechte - 1 Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen.
1    Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen.
2    Wer staatliche Aufgaben wahrnimmt, ist an die Grundrechte gebunden und verpflichtet, zu ihrer Verwirklichung beizutragen.
3    Die Behörden sorgen dafür, dass die Grundrechte, soweit sie sich dazu eignen, auch unter Privaten wirksam werden.
BV) nichts entgegenstehe, wenn das kantonale Recht die
kantonale Behörde nicht daran hindere. Es genüge demnach, dass die kantonale
Gesetzgebung, wie sie schon vor dem 2. Dezember 1928 bestanden habe, auch
einen Spielbetrieb jener Art ausschliesse. Dies sei aber eben im Kanton St.
Gallen infolge § 169 PStG der Fall (was näher ausgeführt wird). Indem der
Regierungsrat gleichwohl der A.- G. der Bad- und Kuranstalten Ragaz- Pfäffers
die nachgesuchte Bewilligung erteilt habe, habe er sich willkürlich über diese
klare Gesetzesvorschrift hinweggesetzt und damit nicht nur Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV, sondern
auch den kantonalrechtlichen Grundsatz der Gewaltentrennung, das nach st.
gallischem Verfassungsrecht (Art. 101, 46, 47 und 65 KV) bestehende
Mitwirkungsrecht des Volkes bei der Gesetzgebung verletzt. Allerdings stelle
nicht schon jede unrichtige Auslegung, Anwendung des Gesetzes in einem
Einzelfall zugleich einen Verstoss gegen den letzteren Grundsatz dar. Wenn
nicht der Vorrang der gesetzgebenden Gewalt bedeutungslos werden solle, so
müsse aber doch die Beschwerde wegen Eingriffs in dieselbe auch gegen eine
solche individuelle Verfügung da gegeben sein, wo die Verfügung
«grundsätzlichen Charakter» habe, nicht mehr eine mögliche Auslegung des
Gesetzes bilde, sondern auf die Bewilligung einer Ausnahme von demselben
hinauslaufe, ohne dass das Gesetz eine dahingehende Ermächtigung an die
Verwaltungsbehörde enthalten würde.
D. - Der Regierungsrat von St. Gallen und die A.- G. der Bad- und Kuranstalten
Ragaz- Pfäffers haben beantragt, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten,
eventuell sei sie abzuweisen. Die Begründung dieser Anträge ist,

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soweit nötig, aus den nachstehenden Erwägungen ersichtlich.
Beide Teile haben sich zur Unterstützung ihrer Ausführungen auf
Rechtsgutachten berufen: die Rekurrenten auf ein solches von Prof. Burckhardt
in Bern, die Rekursbeklagten auf ein solches von Prof. Giacometti in Zürich,
je mit durch die Antwort und Replik im bundesgerichtlichen Verfahren
veranlassten Ergänzungen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. und 2. - (Prozessuale Fragen.)
3.- In dem Rechtsgutachten Giacometti, dem sich der Regierungsrat und die
Rekursbeklagte anschliessen, wird die Auffassung vertreten, dass § 169 des
kant. PStG, wenn er sich, was bestritten werde, auch gegen das heute in Frage
stehende Boulespiel richten sollte, nicht mehr gelte, weil er insoweit durch
Art. 35
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 35 Verwirklichung der Grundrechte - 1 Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen.
1    Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen.
2    Wer staatliche Aufgaben wahrnimmt, ist an die Grundrechte gebunden und verpflichtet, zu ihrer Verwirklichung beizutragen.
3    Die Behörden sorgen dafür, dass die Grundrechte, soweit sie sich dazu eignen, auch unter Privaten wirksam werden.
BV in der Fassung von 1920 aufgehoben worden sei. . . . Wenn die neue
Fassung des Verfassungsartikels von 1928 bestimme, dass die Kantone auch
diejenigen Spiele, welche Abs. 2 desselben von Bundesrechtswegen der
kantonalen Behörde zuzulassen gestatte, verbieten können, so sei die Meinung
zweifellos die, dass sie sich darüber auf Grund der gegenwärtigen
bundesrechtlichen Regelung neuerdings schlüssig zu machen hätten. Ein blosses
in der früheren kantonalen Gesetzgebung enthaltenes Verbot reiche demnach
nicht aus. Es ist nicht nötig, zu diesen Ausführungen Stellung zu nehmen. Denn
die vorliegende Beschwerde kann auch dann keinen Erfolg haben, wenn man die
fortdauernde Geltung des § 169 PStG in seinem vollen Inhalt voraussetzt...
4.- Durch den angefochtenen Beschluss hat der Regierungsrat keinen Rechtssatz
(allgemein verbindliche Norm) aufgestellt. Es handelt sich vielmehr lediglich
um eine Verfügung für einen bestimmten vorliegenden Fall, eine
Polizeierlaubnis zu Gunsten einer konkreten Veranstaltung. Nach Art. 178 Ziff.
2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
OG steht aber das Recht

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zur Beschwerdeführung gegen derartige Einzelverfügungen (vgl. inbezug auf die
Anfechtung allgemein verbindlicher Erlasse BGE 48 I 265, 48 I 595) dem Bürger
nur zu, wenn er durch die Verfügung «persönlich betroffen», d. h. in seinen
privaten Interessen verletzt wird. Den heutigen Rekurrenten fehlt demnach die
Legitimation zur Beschwerdeführung von vorneherein jedenfalls insoweit, als
die Beschwerde darauf gestützt wird, dass der Regierungsrat durch den
angefochtenen Akt ein bestehendes kantonales Gesetz, nämlich den § 169 PStG,
willkürlich angewendet und so den Grundsatz der Rechtsgleichheit, Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV
verletzt habe. Denn durch die Gestattung des Boulespieles im Kursaal Ragaz
werden die Rekurrenten in keiner Weise persönlich betroffen. Ihr Interesse
daran, dass die angeblich eine solche Erlaubnis ausschliessende kantonale
Gesetzesvorschrift beachtet werde, ist kein anderes als dasjenige irgend eines
Bürgers des Kantons St. Gallen. Es ist einfach das Gemeininteresse an der
Einhaltung der Rechtsordnung oder, wie sich das Gutachten Burckhardt
ausdrückt, an der Gesetzmässigkeit der Verwaltung. Wenn das erwähnte Gutachten
ausführt: wer die Verletzung eines Grundsatzes des öffentlichen Rechts rüge,
mache damit stets und vor allem zugleich die Verletzung der öffentlichen
Interessen geltend, zu deren Schutz der Grundsatz aufgestellt worden sei,
gestehe man die Befugnis hiezu demjenigen zu, der ein zufälliges, rein
subjektives, materielles Interesse an der Beseitigung der Gesetzesmissachtung
habe, so müsse sie noch vielmehr demjenigen zukommen, der lediglich aus dem
idealen, sachlichen, durch keinerlei subjektive Nebenabsichten getrübten
Interesse an der Wahrung der Rechtsordnung handle, so ist dies eben nicht der
Standpunkt des positiven Rechts. Indem Art. 178 Ziff. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
OG, in Anlehnung an
die Rechtsprechung, wie sie sich schon unter der Herrschaft des alten Gesetzes
von 1874 herausgebildet hatte, die Legitimation zur Beschwerdeführung in der
erwähnten Weise umschreibt, hat er bewusst gerade eine solche

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Popularklage zur Wahrung des objektiven Rechts ausschliessen und den
staatsrechtlichen Rekurs nur als Rechtsmittel zur Hebung eines Eingriffs in
die persönliche Rechtssphäre des Beschwerdeführers zulassen wollen, von der
Auffassung ausgehend, dass die Wahrung der allgemeinen Interessen Sache der
dafür eingesetzten Behörden sei, und wo sie die Frage in einem bestimmten
Sinne entschieden haben, es dem einzelnen Bürger nicht zukomme, seine
individuelle abweichende Auffassung hierüber an. Stelle derjenigen der
verfassungsgemäss zur Entscheidung berufenen Organe zu setzen (vgl. BGE 27 I
493
mit Zitaten; 48 I 225 Erw. 2; 53 I 400). Wenn dabei gelegentlich auch
offenkundige Missachtungen eines Gesetzes unbehoben bleiben können, weil es,
wie unter Umständen bei der Nichtanwendung eines Polizeigesetzes, niemanden
gibt, der dadurch in seinen persönlichen, privaten Interessen berührt würde,
so muss auch diese Folge hingenommen werden und ist vom Bundesgesetzgeber bei
Erlass des Organisationsgesetzes bewusst hingenommen worden, weil er sie
gegenüber den praktischen Misständen, die mit einer Popularklage zur Wahrung
der objektiven Rechtsordnung verbunden wären, als das kleinere Übel
betrachtete (vgl. das erstangeführte Urteil, wo als Beispiel eines solchen
Falles gerade die Nichtdurchführung des Verbotes der Spielbanken angeführt
wurde). Die Frage, ob sich mit Rücksicht darauf eine Erweiterung des Kreises
der zur Beschwerde berechtigten Personen in dem von Burckhardt dargelegten
Sinne wenigstens für gewisse Fälle rechtfertigen würde, mag vielleicht
gesetzgebungspolitisch der Prüfung wert sein. Auf dem Boden des geltenden
Organisationsgesetzes lässt sich dieser Gedanke nicht verwirklichen.
5.- Es bleibt der weitere Beschwerdegrund der Verletzung der Gewaltentrennung.
In einigen früheren Urteilen hat das Bundesgericht angenommen, dass zur
Beschwerde wegen Übergriffs der vollziehenden in die gesetzgebende Gewalt,
begangen durch Erlass

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einer Anordnung in Form eines blossen Verwaltungsaktes, während es dafür
angeblich nach dem Inhalt der Anordnung eines Gesetzes bedurft hätte, da wo
die Gesetzgebungsgewalt dem Grossen Rat im Zusammenwirken mit dem Volke
zusteht, jeder stimmberechtigte Kantonseinwohner wegen des in Frage kommenden
Eingriffs in sein «Mitwirkungsrecht bei der Gesetzgebung» legitimiert sei. Es
mag dahingestellt bleiben, ob daran bei erneuter Prüfung festgehalten werden
könnte (s. BGE 50 I 232 Erw. 1, 55 I 111, wo die Frage offen gelassen worden
ist). Denn im vorliegenden Falle ist ein Verstoss gegen den erwähnten
Verfassungsgrundsatz schon materiell wegen des Inhalts der angefochtenen
Verfügung ausgeschlossen. Nach Art. 46, 47 der st. gallischen KV unterliegen
der Volksabstimmung, abgesehen von Verfassungsänderungen und Initiativen,
«Gesetze, sowie diejenigen allgemein verbindlichen Beschlüsse des Grossen
Rates, die nicht dringlich sind oder nicht gemäss Art. 55 KV ausschliesslich
in die Kompetenz des Grossen Rates fallen». Was darunter zu verstehen ist,
ergibt sich aus Art. 54 KV, der lautet: «Als oberste Behörde des Kantons
erlässt der Grosse Rat die Gesetze, unter Vorbehalt des verfassungsmässigen
Souveränitätsrechts des Volkes. Als Gesetze werden alle Erlasse angesehen, die
die Rechte und Pflichten der Privaten, der öffentlichen Genossenschaften, der
Gemeinden und des Staates, sowie die organischen Einrichtungen des Staates,
des Gerichts- und Verwaltungswesens allgemein und bleibend bestimmen.» Es kann
daher auch der Ausdruck gesetzgebende Gewalt in Art. 101 KV, der den Grundsatz
der Trennung der richterlichen, vollziehenden und gesetzgebenden Gewalt
aufstellt, nur in jenem Sinne gemeint sein. Die Rekurrenten behaupten aber
nicht, dass der Beschluss des Regierungsrates ein Gesetz in diesem Sinne
darstelle. Sie anerkennen, dass damit lediglich eine Verfügung für einen
bestimmten Fall getroffen worden ist, und leugnen nicht, dass insoweit der
Regierungsrat als oberste kantonale Verwaltungs- und Polizeibehörde die zu

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einer solchen Anordnung zuständige Stelle gewesen wäre. Der Übergriff in das
Gebiet der gesetzgebenden Gewalt wird vielmehr ausschliesslich darin erblickt,
dass die durch die Verfügung getroffene Anordnung selbst mit einem bestehenden
Gesetz in Widerspruch stehe, damit die polizeiliche Ermächtigung zu einem Tun
erteilt worden sei, das durch die kantonale Gesetzgebung verboten und unter
Strafe gestellt werde. Gesetzt selbst, es sei dem wirklich so, so würde aber
dadurch die rechtliche Natur des regierungsrätlichen Beschlusses nicht
berührt. Er würde damit seinen Wirkungen nach noch nicht zu einem Gesetze oder
zur Abänderung eines solchen, d. h. der objektiven Rechtsordnung, sondern
bleibt auch unter dieser Voraussetzung eine einfache Verwaltungsverfügung, die
Verordnung eines einzelnen, konkreten Rechtsverhältnisses. Die Frage, ob diese
Ordnung materiell nicht in der geschehenen Weise hätte getroffen werden
dürfen, weil die bestehende kantonale Gesetzgebung eine andere Behandlung des
Tatbestandes erfordert hätte, betrifft ausschliesslich die inhaltliche
Richtigkeit (Gesetzmässigkeit) des Aktes, nicht die Kompetenz der verfügenden
Stelle zu seinem Erlass. Und zwar auch dann, wenn die verfügende Behörde die
Anwendbarkeit der fraglichen Gesetzesbestimmung auf den konkreten Tatbestand
nicht nur irrtümlicher Weise, sondern aus offenbar haltlosen Gründen verneint
haben sollte und so in Wirklichkeit das Gesetz nicht mehr bloss ausgelegt,
sondern beiseitegeschoben hätte. Wollte man in jeder in diesem Sinne
willkürlichen Nichtanwendung eines Gesetzes auf einen konkreten Tatbestand, d.
h. der Verneinung seines Zutreffens auf denselben, nicht nur einen Verstoss
gegen Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV, sondern zugleich gegen den Grundsatz der Gewaltentrennung
erblicken, den zu rügen wegen des verfassungsmässigen Mitwirkungsrechtes des
Volkes bei der Gesetzgebung jedem stimmberechtigten Bürger zustehen müsse, so
käme man zu einer vollständigen Vermengung dieser beiden ihrer Natur nach
verschiedenen Beschwerdegründe und würde tatsächlich den

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Art. 178 Ziff. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
OG ausschalten, der für die Beschwerde gegen solche
Einzelverfügungen einen aus deren Inhalt sich ergebenden Eingriff in die
persönliche Rechtssphäre des Beschwerdeführers fordert. Das von Burckhardt
angerufene Urteil BGE 53 I 65 steht hiemit nicht in Widerspruch. Die
Rekurrenten hatten dort geltend gemacht: a) dass der Regierungsrat von Genf
unzulässiger Weise die allgemeinen Bedingungen für die Vergebung des Drucks
des kantonalen Amtsblattes im Wege der öffentlichen Steigerung durch einen
blossen Regierungsratsbeschluss festgesetzt habe, während es dafür nach dem
Gegenstande des Erlasses eines Gesetzes bedurft hätte; b) der Inhalt dieser
Bedingungen gegen ein bestehendes kantonales Gesetz, bezw. das
Gewohnheitsrecht, wie es sich seit 1828 herausgebildet habe, verstosse.
Ausschliesslich die erste Frage ist vom Bundesgericht als eine solche der
Gewaltentrennung behandelt worden, indem darauf hingewiesen wurde, dass der
Regierungsrat sich für sein Vorgehen auf ein Gesetz, bezw. eine ihm durch
solches erteilte Ermächtigung stützen könne, während das Urteil ausdrücklich
betont, dass die zweite Behauptung nur im Rahmen der beschränkten aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.

BV sich ergebenden Kognition nachgeprüft werden könne: die Legitimation der
Rekurrenten als durch den Inhalt des angefochtenen Erlasses persönlich in
ihren ökonomischen Interessen betroffener Personen auch zur staatsrechtlichen
Beschwerde aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV wegen willkürlicher Gesetzesanwendung konnte damals
keinem Zweifel unterliegen. Damit soll immerhin der Frage nicht vorgegriffen
werden, ob es nicht Fälle geben kann, in denen ein Übergriff der vollziehenden
Behörde in das Gebiet der gesetzgebenden Gewalt schon in einer Verfügung
liegt, die ihrem unmittelbaren Gegenstande nach lediglich eine Anordnung für
einen einzelnen, konkreten Tatbestand enthält. Denn im vorliegenden Falle
treffen die besonderen Voraussetzungen, unter denen dies vielleicht denkbar
wäre, nicht zu. Indem der Regierungsrat der Rekursbeklagten die nachgesuchte
Bewilligung

Seite: 165
erteilt hat, hat er keineswegs - um mit dem Gutachten Burckhardt zu reden - im
Verein mit dem Grossen Rate erklärt, die von den Rekurrenten angerufene
Gesetzesvorschrift, § 169 des PStG von 1808, «künftig nicht mehr anwenden zu
wollen». Er hat nicht dieser Vorschrift «die Verbindlichkeit abgesprochen» und
sie damit «tatsächlich ausser Kraft gesetzt» oder für sich die Befugnis
beansprucht, für gewisse Fälle eine Dispensation, «Ausnahme»
von derselben zu bewilligen. Er hat vielmehr die Frage des Zutreffens der
Bestimmung auf den Tatbestand geprüft, um sie zu verneinen, d. h. zum Schlusse
zu kommen, dass das fragliche Verbot einem Spielbetriebe, wie er hier in
Betracht fällt, nicht entgegenstehe.
6.- Auch wenn man für den Fall, dass sich dieser Schluss als sachlich nicht
haltbar, objektiv willkürlich erwiese, mit den Rekurrenten annehmen wollte,
dass der darin liegende Verstoss gegen das PStG nicht nur gestützt auf Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.

BV, sondern auch aus dem Gesichtspunkte der Verletzung der Gewaltentrennung
gerügt werden könnte, die Verfügung infolgedessen rechtlich der Zulassung
einer «Ausnahme» (Dispensation) vom Gesetze gleichstehe, müsste die Beschwerde
abgewiesen werden, weil eine solche willkürliche Gesetzesauslegung nicht
vorliegt. § 169 PStG richtet sich seiner Fassung nach nicht gegen jedes Spiel,
das den Charakter eines «Glückspieles» trägt. Er verbietet nur «verderbliches
und unmässiges Spielen». Auch die «Bankospiele» werden nur als Beispiel
solchen verderblichen und unmässigen Spielens erwähnt. Es ist daher ohne
Bedeutung, ob das Gesetz darunter, wie die Rekurrenten behaupten, allgemein
ein Spiel verstanden habe, bei dem «jemand die Bank hält», oder, wie der
Regierungsrat und die Rekursbeklagte behaupten, ausschliesslich das sog.
«Bänkeln», d. h. das unter diesem Namen im Kanton übliche und auch sonst
verbreitete Glücksspiel mit Karten. Denn auch wenn das erstere zuträfe, würde
daraus nur folgen, dass man eine solche Spielart in den Formen, wie sie damals

Seite: 166
bekannt waren, als verderblich und unmässig erachtete und deshalb nicht
zulassen wollte. Und ebenso ist es überflüssig den von den Rekurrenten
beantragten Bericht der kantonalen Staatsanwaltschaft darüber einzuholen, dass
die st. gallische Gerichtspraxis tatsächlich den Begriff der «Bankospiele»
stets in jenem weiteren, von den Rekurrenten behaupteten Sinne verstanden
habe. Denn es ist nicht bestritten und muss auch von den Rekurrenten zugegeben
werden, dass ein behördlich bewilligter, durch polizeiliche Vorschriften in
bestimmte Schranken und an eine feste Stätte gewiesener öffentlicher
Spielbetrieb, wie er hier in Frage steht, bisher im Kanton noch nie bestanden
hatte oder zu errichten versucht worden war. Bei den «Bankospielen» auf die
sich jene Gerichtspraxis bezogen hätte, könnte es sich also nur um «wilde»
Veranstaltungen handeln, die sich mit der heute fraglichen nicht ohne weiteres
in Vergleich setzen lassen. Wenn der Regierungsrat angenommen hat, dass sich
ein absolutes Verbot auch eines derart geordneten Spielbetriebes aus § 169
PStG, d. h. der darin enthaltenen Erwähnung der Bankospiele nicht herleiten
lasse, sondern es darauf ankomme, ob derselbe ebenfalls noch als «verderblich
und unmässig» in dem Sinne, wie das PStG diese Ausdrücke verstehe, anzusehen
sei, so lässt sich somit diese Auffassung sehr wohl vertreten. Andererseits
konnte auch jener Charakter der Verderblichkeit und Unmässigkeit für ein Spiel
wie das bewilligte Boulespiel, das an die engen, ihm durch Art. 35 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 35 Verwirklichung der Grundrechte - 1 Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen.
1    Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen.
2    Wer staatliche Aufgaben wahrnimmt, ist an die Grundrechte gebunden und verpflichtet, zu ihrer Verwirklichung beizutragen.
3    Die Behörden sorgen dafür, dass die Grundrechte, soweit sie sich dazu eignen, auch unter Privaten wirksam werden.
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SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 35 Verwirklichung der Grundrechte - 1 Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen.
1    Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen.
2    Wer staatliche Aufgaben wahrnimmt, ist an die Grundrechte gebunden und verpflichtet, zu ihrer Verwirklichung beizutragen.
3    Die Behörden sorgen dafür, dass die Grundrechte, soweit sie sich dazu eignen, auch unter Privaten wirksam werden.

BV und die bundesrätliche Ausführungsverordnung vom 1. März 1929 gezogenen
Schranken gebunden ist, nur an einem bestimmten, den Polizeibehörden jederzeit
zugänglichen Orte betrieben werden darf und bei dem die Einhaltung jener
Regeln und Schranken von der kantonalen Polizeibehörde fortlaufend überwacht
wird, zweifellos ohne Willkür verneint werden. Dies zumal, wenn man den
Masstab anlegt, wie er sich aus den Motiven zum Gesetz ergibt, nämlich ob
dabei die Gefahr der «Verarmung oder häuslichen Zerrüttung»

Seite: 167
oder übermässiger Beförderung der «Zerstreutheit und Selbstflucht» bestehe.
Indem der Regierungsrat aus solchen Gründen die Anwendbarkeit der Vorschrift
auf den Tatbestand verneinte, hat er sich durchaus im Rahmen einer möglichen
Auslegung des Gesetzes bewegt und keineswegs über dasselbe einfach
hinweggesetzt.
Demnach erkennt das Bundesgericht
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden kann.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 56 I 156
Datum : 01. Januar 1930
Publiziert : 31. Januar 1930
Quelle : Bundesgericht
Status : 56 I 156
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : Beschluss einer kantonalen Regierung, wodurch einer Kursaalunternehmung in Anwendung von Art. 35...


Gesetzesregister
BV: 4 
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
35
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 35 Verwirklichung der Grundrechte - 1 Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen.
1    Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen.
2    Wer staatliche Aufgaben wahrnimmt, ist an die Grundrechte gebunden und verpflichtet, zu ihrer Verwirklichung beizutragen.
3    Die Behörden sorgen dafür, dass die Grundrechte, soweit sie sich dazu eignen, auch unter Privaten wirksam werden.
OG: 178
BGE Register
27-I-490 • 48-I-217 • 48-I-262 • 48-I-580 • 50-I-229 • 53-I-399 • 53-I-65 • 55-I-105 • 56-I-156
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
regierungsrat • frage • gewaltentrennung • weiler • bundesgericht • kv • bewilligung oder genehmigung • stelle • legitimation • stimmberechtigter • spielbank • entscheid • charakter • privates interesse • staatsrechtliche beschwerde • veranstalter • amtsblatt • bezogener • kantonale behörde • rechtsgutachten
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