S. 10 / Nr. 2 Niederlassungsfreiheit (d)

BGE 56 I 10

2. Urteil vom 28. Februar 1930 i. S. Ronner gegen St.Gallen.

Regeste:
Art. 45 BV. Entzug der Niederlassung wegen dauernder
Unterstützungsbedürftigkeit in einem Fall, wo bisher eine Unterstützung nicht
stattgefunden hat. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand hie und da
vorübergehend Unterstützung nötig haben wird, bildet keinen Grund für den
Niederlassungsentzug.


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A. - Der Rekurrent, Bürger von Vorderthal (Schwyz), wohnt in Jona und arbeitet
zur Zeit als Reiswellenmacher. Vorher hatte er eine andere bessere Stellung
gehabt, war aber entlassen worden und dann einige Zeit arbeitslos gewesen. Da
er während der Zeit seiner Arbeitslosigkeit ärztliche Behandlung hatte in
Anspruch nehmen müssen und seine Heimatgemeinde es nach der Angabe der
Armenbehörde von Jona abgelehnt hatte, für die Kosten seines Lebensunterhaltes
einzustehen, wurde seine Heimschaffung angeordnet. Der Regierungsrat des
Kantons St. Gallen wies am 7. Januar 1930 eine Beschwerde, die der Rekurrent
hiegegen erhob, ab und gab dem Gemeinderat von Jona den Auftrag, die
Heimschaffung zu vollziehen, und zwar in Erwägung:
«1. dass nach dem vorliegenden ärztlichen Atteste von Dr. Gschwend in
Rapperswil der Beschwerdeführer infolge der chronischen Hüftgelenkentzündung
mit Deformation im Bereich des Hüftgelenkes nur beschränkt arbeitsfähig ist
und dieses Leiden der immer wiederkehrenden ärztlichen Behandlung, eventuell
der Spitalpflege bedarf, womit festgestellt ist, dass es sich in concreto um
einen dauernden Krankheitsfall handelt; 2. dass die seinerzeit erfolgte
Arbeitsentlassung nicht zuletzt auf Arbeitemangel, als vielmehr auf die
ärztlich festgestellte beschränkte Arbeitsfähigkeit des Ronner zurückzuführen
ist und die derzeitige Arbeit nur vorübergehenden Charakter hat und beim
Aufhören derselben Beschwerdeführer vollständig der öffentlichen Wohltätigkeit
zur Last fallen dürfte; 3. dass das Versprechen des Ronner auf Rückerstattung
der bereits entstandenen und noch entstehenden Arztkosten zufolge der
Mittellosigkeit wohl nie erfüllt wird, daher die Armenkasse mit diesen Kosten
belastet ist und dass der Wohngemeinde nicht zugemutet werden kann, das Risiko
der Kostenübernahme an Stelle der Heimatgemeinde weiterhin zu tragen.»
B. - Gegen diesen Entscheid hat Ronner die staatsrechtliche Beschwerde an das
Bundesgericht ergriffen mit dem Antrag auf Aufhebung.

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Der Rekurrent beruft sich auf Art. 45
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 45 Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes - 1 Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
1    Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
2    Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend über seine Vorhaben; er holt ihre Stellungnahmen ein, wenn ihre Interessen betroffen sind.
BV und macht geltend: Er habe in Jona
noch nie die private oder öffentliche Wohltätigkeit in Anspruch genommen.
Richtig sei nur, dass er die Arztrechnung, die bis jetzt 46 Fr. betrage, noch
nicht habe bezahlen können. Er leide nicht an einer dauernden Krankheit und
sei arbeitsfähig; gerade die ausgesprochensten Schwerarbeiten könne er
allerdings nicht verrichten. Bei der Diana A.- G. in Rapperswil sei er
lediglich wegen Arbeitsmangel entlassen worden; der Direktor dieser
Gesellschaft habe ihm erklärt, dass er wieder eintreten könne, wenn es wieder
mehr Arbeit gebe. Bei der «Diana» habe er alle 14 Tage ungefähr 70 Fr.
verdient und sich in der Zeit vom 26. August bis zum 13. Dezember 65 Fr.
erspart; damit habe er sich über die Zeit der Arbeitslosigkeit hinweggeholfen.
C. - Der Regierungsrat hat Abweisung der Beschwerde beantragt und u.a.
bemerkt: «Es ist unrichtig, dass die Heimschaffung Ronners beschlossen worden
ist, weil er die Arztrechnung Dr. Gschwend nicht bezahlen konnte, sondern
deshalb, weil Ronner an einer Krankheit leidet, die öfters der ärztlichen
Behandlung ruft und Ronner weder aus eigenen Mitteln diese künftigen
Arztkosten bestreiten kann, noch die Heimatgemeinde Vorderthal sich bereit
erklärt hat, dafür Gutsprache zu leisten. Damit sind eben die Voraussetzungen
von Art. 45
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 45 Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes - 1 Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
1    Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
2    Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend über seine Vorhaben; er holt ihre Stellungnahmen ein, wenn ihre Interessen betroffen sind.
BV für die Heimschaffung erfüllt, indem dauernde
Unterstützungsbedürftigkeit vorliegt. Zur nähern Abklärung des Tatbestandes
haben wir einen ärztlichen Untersuch des Beschwerdeführers durch Sanitätsrat
Dr. Mäder, Spitalarzt des kantonalen Krankenhauses Uznach, veranlasst, dessen
Ergebnis dahin lautet, dass Ronner: a) an doppelseitiger chronischer
Hüftgelenkentzündung deformierender Art leidet, die je nach dem Verlauf, bald
öfter, bald weniger oft ärztliche Behandlung notwendig macht, b) dass die
heute schon bestehende Reduktion der Arbeitsfähigkeit des Ronner auf Grund
seiner Krankheit auf zirka 40-45% anzuschlagen ist. -Im weitern verweisen wir

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auf das Schreiben der Firma Alfred Bosshardt & Cie, Sägewerke und
Holzhandlung, Rapperswil, vom 29. Januar 1930 an die Armenbehörde Jona, aus
welchem sich ergibt, dass Ronner vom 6. bis 25. Januar 1930 nur 39 Fr. 25 Cts.
als Fräsenbürdenmacher im Akkord verdient hat. Dieser Verdienst reicht
zweifellos nicht einmal für die Bestreitung der dringendsten ordentlichen
Lebensbedürfnisse aus, geschweige denn zur Bezahlung der bereits erlaulenen
und der weiterhin entstehenden Arztkosten. Dass Ronner wieder den Arzt
konsultieren muss und daher aufs Neue Arztkosten entstehen, ist aber ganz
gewiss. - Ronner kann sich auch nicht darauf berufen, dass er wieder
Anstellung bei der Firma Diana A.- G. in Rapperswil finde, sobald die
Konjunkturverhältnisse sich bessern. Für den Regierungsrat müssen die heutigen
effektiven unzulänglichen Verdienstverhältnisse massgebend sein. - Übrigens
erscheint es kaum glaubhaft, dass der in seiner Arbeitsfähigkeit um 40-45%
reduzierte Mann je noch zu einem bessern Auskommen gelangt, das ihm auch die
eigene Bestreitung der ärztlichen Behandlungskosten seines schweren
chronischen Leidens ermöglichst.»
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Nach Art. 45
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 45 Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes - 1 Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
1    Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
2    Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend über seine Vorhaben; er holt ihre Stellungnahmen ein, wenn ihre Interessen betroffen sind.
BV kann die Niederlassung denjenigen entzogen werden, die dauernd
der öffentlichen Wohltätigkeit zur Last fallen und deren Heimatgemeinde oder
Heimatkanton eine angemessene Unterstützung trotz amtlicher Aufforderung nicht
gewährt. Es steht unbestrittenermassen fest, dass der Rekurrent bisher in Jona
die öffentliche oder private Wohltätigkeit nicht in Anspruch genommen hat.
Nach der Begründung des angefochtenen Entscheides wollte ihn der Regierungsrat
deshalb heimschaffen, weil er fand, der Rekurrent habe nur vorübergehend
Arbeit gefunden und werde nachher ganz der öffentlichen Wohltätigkeit zur Last
fallen. In der Beschwerdeantwort hat dann der Regierungsrat diesen Standpunkt
nicht mehr ganz aufrecht gehalten und nur noch.

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geltend gemacht, der Rekurrent werde nicht imstande sein, in Zukunft die
Kosten seines Lebensunterhaltes vollständig, mitsamt denjenigen der ärztlichen
Behandlung, zu bestreiten. Nun kann freilich jemand in einem bestimmten
Zeitpunkt dauernd unterstützungsbedürftig sein, ohne dass er bis dahin
überhaupt oder dauernd unterstützt worden ist; aber die dauernde
Unterstützungsbedürftigkeit lässt sich in einem solchen Fall nur dann
annehmen, wenn dargetan ist, dass die in Frage stehende Person von jetzt an
nach den gesamten Umständen, z. B. nach ihren Erwerbsverhältnissen, ihrer
Arbeitsfähigkeit und ihrem Charakter, notwendig oder mit Sicherheit dauernd
der öffentlichen Wohltätigkeit zur Last fallen wird (vgl. BGE 23 S. 13; 53 I
S. 290 f.; BURCKHARDT, Komm. z. BV 2. Aufl. S. 412). Ein solcher Nachweis
fehlt im vorliegenden Fall. Der Rekurrent ist, wenn auch nicht voll, so doch
noch erheblich arbeitsfähig, arbeitet auch gegenwärtig und hat in Jona aus
seinem Verdienst bis jetzt, da er sehr genügsam zu sein scheint,
unbestrittenermassen seinen ordentlichen Lebensunterhalt selbst bestritten.
Dafür, dass ihm das von nun an und zwar dauernd nicht mehr möglich sein wird,
liegen keine genügenden Anhaltspunkte vor. Allerdings wird er hie und da
ärztliche Behandlung nötig haben und es ist mit grosser Wahrscheinlichkeit
anzunehmen, dass er deren Kosten nicht oder nicht immer wird bestreiten
können. Allein nach dem ärztlichen Gutachten ist es ganz unsicher, wie oft der
Rekurrent in Zukunft ärztliche Hilfe wird in Anspruch nehmen müssen. Es können
danach Jahre vergehen, ohne dass dieser Fall eintreten wird. Auch ist es
wahrscheinlich, dass die Kosten einer solchen Behandlung oft unbedeutend sein
werden und der Rekurrent sich hie und da, wie bisher schon von Dr. Gschwend,
wird ärztlich behandeln lassen können, ohne hiefür öffentliche Unterstützung
beanspruchen zu müssen. Man kann es daher nach den vorliegenden Umständen
höchstens für wahrscheinlich halten, dass der Rekurrent hie und da
vorübergehend

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Unterstützung nötig haben wird; dass eine dauernde Unterstützungsbedürftigkeit
vorliege, lässt sich nicht mit Sicherheit annehmen. Vorübergehende
Unterstützung muss aber die Wohngemeinde oder der Wohnkanton gewähren (vgl.
BGE 49 I S. 450).
Da somit die Voraussetzung der dauernden Unterstützungsbedürftigkeit für den
Entzug der Mederlassung fehlt, so muss der Entscheid des Regierungsrates wegen
Verletzung des Art. 45
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 45 Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes - 1 Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
1    Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
2    Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend über seine Vorhaben; er holt ihre Stellungnahmen ein, wenn ihre Interessen betroffen sind.
BV aufgehoben werden. Unter diesen Umständen ist es
überflüssig, zu untersuchen, ob die Gemeinde Vorderthal oder der Kanton Schwyz
eine angemessene Unterstützung trotz amtlicher Aufforderung nicht gewährt hat.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Regierungsrates des
Kantons St. Gallen vom 7. Januar 1930 aufgehoben.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 56 I 10
Datum : 01. Januar 1930
Publiziert : 28. Februar 1930
Quelle : Bundesgericht
Status : 56 I 10
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : Art. 45 BV. Entzug der Niederlassung wegen dauernder Unterstützungsbedürftigkeit in einem Fall, wo...


Gesetzesregister
BV: 45
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 45 Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes - 1 Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
1    Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
2    Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend über seine Vorhaben; er holt ihre Stellungnahmen ein, wenn ihre Interessen betroffen sind.
BGE Register
49-I-446 • 56-I-10
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
arzt • arztkosten • bedürfnis • bedürftigkeit • begründung des entscheids • behandlungskosten • beschwerdeantwort • bundesgericht • charakter • chronisches leiden • entscheid • errichtung eines dinglichen rechts • frage • gemeinde • gemeinderat • heimschaffung • krankheitsfall • mann • niederlassungsfreiheit • regierungsrat • richtigkeit • schwerarbeit • sozialhilfe • spitalarzt • staatsrechtliche beschwerde • stelle • tag • weiler • wiese