S. 401 / Nr. 76 Versicherungsvertrag (d)

BGE 54 II 401

76. Urteil der II. Zivilabteilung vom 11. Oktober 1928 i.S. «Helvetia»
Schweiz. Unfall- und Haftpflicht-Versicherungsanstalt gegen Schmidt.


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Regeste:
Auslegung des Begriffes der «groben Fahrlässigkeit» im Sinne von Art. 14 Abs.
2 WG. Anwendbarkeit dieser Vorschrift auf Automobilhaftpflichtversicherungen.

Tatbestand (gekürzt).
Am 8. Mai 1922 kam es zwischen einem Adolf Soltermann, Metzgerburschen von
Tavannes, der auf einem Velo auf der Jurastrasse gegen die Aarwangerstrasse
und den Bahnhof Langenthal fuhr, und dem heutigen Kläger, C. R. Schmidt, der
mit einem Automobil durch die Aarwangerstrasse in das Dorf Langenthal
hineinfuhr, zu einem Zusammenstoss, bei dem Soltermann erhebliche Verletzungen
davontrug.
Die «Helvetia» Schweiz. Unfall- und Haftpflicht-Versicherunganstalt in Zürich,
bei der Schmidt eine Automobilhaftpflichtversicherung abgeschlossen hatte,
weigerte sich, dem Schmidt den von ihm dem Soltermann zugefügten Schaden im
vollen Umfang zu ersetzen, weil er diesen grobfahrlässig herbeigeführt habe.
Diesen Standpunkt wies das Bundesgericht in dem in der Folge von Schmidt gegen
die «Helvetia» angestrengten Prozess als unbegründet zurück.
Erwägungen.
1.- Gemäss Art. 14 Abs. 2
SR 221.229.1 Bundesgesetz vom 2. April 1908 über den Versicherungsvertrag (Versicherungsvertragsgesetz, VVG) - Versicherungsvertragsgesetz
VVG Art. 14
1    Das Versicherungsunternehmen haftet nicht, wenn der Versicherungsnehmer oder der Anspruchsberechtigte das befürchtete Ereignis absichtlich herbeigeführt hat.
2    Hat der Versicherungsnehmer oder der Anspruchsberechtigte das Ereignis grobfahrlässig herbeigeführt, so ist das Versicherungsunternehmen berechtigt, seine Leistung in einem dem Grade des Verschuldens entsprechenden Verhältnisse zu kürzen.
3    Ist das Ereignis absichtlich oder grobfahrlässig von einer Person herbeigeführt worden, die mit dem Versicherungsnehmer oder dem Anspruchsberechtigten in häuslicher Gemeinschaft lebt, oder für deren Handlungen der Versicherungsnehmer oder der Anspruchsberechtigte einstehen muss, und hat er sich in der Beaufsichtigung, durch die Anstellung oder durch die Aufnahme jener Person einer groben Fahrlässigkeit schuldig gemacht, so kann das Versicherungsunternehmen seine Leistung in einem Verhältnisse kürzen, das dem Grade des Verschuldens des Versicherungsnehmers oder des Anspruchsberechtigten entspricht.
4    Hat der Versicherungsnehmer oder der Anspruchsberechtigte das Ereignis leichtfahrlässig herbeigeführt oder sich einer leichten Fahrlässigkeit im Sinne des vorhergehenden Absatzes schuldig gemacht, oder hat eine der übrigen dort aufgeführten Personen das Ereignis leichtfahrlässig herbeigeführt, so haftet das Versicherungsunternehmen in vollem Umfange.
VVG kann der Versicherer, wenn das Schadensereignis
vom Versicherungsnehmer grobfahrlässig herbeigeführt worden ist, seine
Leistung

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in einem Verhältnis kürzen, das dem Grade des Verschuldens des
Versicherungsnehmers entspricht. Die Vorinstanz hat angenommen, dass diese
Vorschrift hier nicht zur Anwendung gelange, da der Kläger sich wohl
fahrlässig aber nicht grobfahrlässig verhalten habe. Sein einziges Verschulden
liege darin, dass er etwas rasch gefahren sei; dies könne ihm aber angesichts
des Umstandes, dass er sich im übrigen vorschriftsgemäss auf der rechten
Strassenseite gehalten und dass die Strasse sich an der Unfallstelle zu einem
kleinen Platze erweitere, nicht als grobe Fahrlässigkeit angerechnet werden.
Es sei zu berücksichtigen, dass hier eine Automobilhaftpflichtversicherung in
Frage stehe, durch die gerade die Folgen eines fahrlässigen Handelns
versichert sein sollen. Bei einer derartigen Versicherung könne aber vom
Vorhandensein grober Fahrlässigkeit dann nicht die Rede sein, wenn es sich um
einen typischen Autounfall handle, wie er sich immer wieder abspiele.
2.- Die Feststellungen der Vorinstanz, wie sich der streitige Unfall
abgespielt, wie sich der Kläger hiebei verhalten hat und wie die Unfallstelle
beschaffen war, sind als reine Tatsachenfeststellungen für das Bundesgericht
verbindlich. Dagegen ist die Frage, ob in dem festgestellten Verhalten des
Klägers eine grobe Fahrlässigkeit im Sinne von Art. 14
SR 221.229.1 Bundesgesetz vom 2. April 1908 über den Versicherungsvertrag (Versicherungsvertragsgesetz, VVG) - Versicherungsvertragsgesetz
VVG Art. 14
1    Das Versicherungsunternehmen haftet nicht, wenn der Versicherungsnehmer oder der Anspruchsberechtigte das befürchtete Ereignis absichtlich herbeigeführt hat.
2    Hat der Versicherungsnehmer oder der Anspruchsberechtigte das Ereignis grobfahrlässig herbeigeführt, so ist das Versicherungsunternehmen berechtigt, seine Leistung in einem dem Grade des Verschuldens entsprechenden Verhältnisse zu kürzen.
3    Ist das Ereignis absichtlich oder grobfahrlässig von einer Person herbeigeführt worden, die mit dem Versicherungsnehmer oder dem Anspruchsberechtigten in häuslicher Gemeinschaft lebt, oder für deren Handlungen der Versicherungsnehmer oder der Anspruchsberechtigte einstehen muss, und hat er sich in der Beaufsichtigung, durch die Anstellung oder durch die Aufnahme jener Person einer groben Fahrlässigkeit schuldig gemacht, so kann das Versicherungsunternehmen seine Leistung in einem Verhältnisse kürzen, das dem Grade des Verschuldens des Versicherungsnehmers oder des Anspruchsberechtigten entspricht.
4    Hat der Versicherungsnehmer oder der Anspruchsberechtigte das Ereignis leichtfahrlässig herbeigeführt oder sich einer leichten Fahrlässigkeit im Sinne des vorhergehenden Absatzes schuldig gemacht, oder hat eine der übrigen dort aufgeführten Personen das Ereignis leichtfahrlässig herbeigeführt, so haftet das Versicherungsunternehmen in vollem Umfange.
Abs. a WG zu erblicken
sei, eine Rechtsfrage und daher, entgegen der Auffassung des Klägers, vom
Bundesgericht zu überprüfen (vgl. auch BGE 51 II S. a30 ff., wo das
Bundesgericht, ohne diesen Grundsatz ausdrücklich auszusprechen, die Frage, ob
in jenem Falle grobe Fahrlässigkeit vorgelegen habe, untersucht und
entschieden hat). Der Begründung der Vorinstanz, dass hier von einer groben
Fahrlässigkeit schon deshalb nicht gesprochen werden könne, weil es sich um
einen typischen Autounfall handle, wie er sich immer wieder abspiele, kann
nicht beigetreten werden. Das Mass der bei einem Unfall an den Tag gelegten
Fahrlässigkeit beurteilt sich nicht darnach, ob sich

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gleichartige Unfälle öfters oder weniger oft ereignen. Ein solcher Grundsatz
hätte zur Folge, dass die Grenze zwischen grober und leichter Fahrlässigkeit
sich je nach dem jeweiligen Stand der allgemein im Verkehr angewendeten
Vorsicht - unbekümmert darum, ob diese den Anforderungen entspricht, die man
im Interesse der Allgemeinheit stellen muss - verschieben würde und dass
infolgedessen die Anwendungsmöglichkeit des Art. 14
SR 221.229.1 Bundesgesetz vom 2. April 1908 über den Versicherungsvertrag (Versicherungsvertragsgesetz, VVG) - Versicherungsvertragsgesetz
VVG Art. 14
1    Das Versicherungsunternehmen haftet nicht, wenn der Versicherungsnehmer oder der Anspruchsberechtigte das befürchtete Ereignis absichtlich herbeigeführt hat.
2    Hat der Versicherungsnehmer oder der Anspruchsberechtigte das Ereignis grobfahrlässig herbeigeführt, so ist das Versicherungsunternehmen berechtigt, seine Leistung in einem dem Grade des Verschuldens entsprechenden Verhältnisse zu kürzen.
3    Ist das Ereignis absichtlich oder grobfahrlässig von einer Person herbeigeführt worden, die mit dem Versicherungsnehmer oder dem Anspruchsberechtigten in häuslicher Gemeinschaft lebt, oder für deren Handlungen der Versicherungsnehmer oder der Anspruchsberechtigte einstehen muss, und hat er sich in der Beaufsichtigung, durch die Anstellung oder durch die Aufnahme jener Person einer groben Fahrlässigkeit schuldig gemacht, so kann das Versicherungsunternehmen seine Leistung in einem Verhältnisse kürzen, das dem Grade des Verschuldens des Versicherungsnehmers oder des Anspruchsberechtigten entspricht.
4    Hat der Versicherungsnehmer oder der Anspruchsberechtigte das Ereignis leichtfahrlässig herbeigeführt oder sich einer leichten Fahrlässigkeit im Sinne des vorhergehenden Absatzes schuldig gemacht, oder hat eine der übrigen dort aufgeführten Personen das Ereignis leichtfahrlässig herbeigeführt, so haftet das Versicherungsunternehmen in vollem Umfange.
Abs. a WG unter Umständen
eine völlig unbegründete, dem Willen des Gesetzgebers in keiner Weise
entsprechende Einschränkung erfahren würde. Insbesondere kann nicht anerkannt
werden, dass Geschwindigkeitsexzesse nur ausnahmsweise, wenn besondere
Umstände wie Trunkenheit des Fahrers und dergleichen vorgelegen haben, als
grobe Fahrlässigkeit zu erachten sind. Eine solche liegt vielmehr, unbekümmert
um die Art der Verfehlung, immer dann vor, wenn unter Verletzung der
elementarsten Vorsichtsgebote nicht beachtet wurde, was jedem verständigen
Menschen in gleicher Lage und unter gleichen Umständen hätte einleuchten
müssen. Dabei ist allerdings zuzugeben, dass in den Fällen, wo es sich - wie
dies bei der Automobilhaftpflichtversicherung zutrifft - um eine Versicherung
für die Haftpflicht für Verschulden handelt, an den Beweis des Vorliegens
einer groben Fahrlässigkeit strenge Anforderungen gestellt werden müssen.
3.- Vorliegend hat nun die Vorinstanz als einziges den Kläger belastendes
Schuldmoment festgestellt, dass dieser «ziemlich rasch» gefahren sei, worunter
im Hinblick auf die Angaben der Zeugen Maurer, Grütter und Christen, auf deren
Aussagen die Vorinstanz hiebei abgestellt hat, eine Geschwindigkeit von ca. 40
Km. verstanden werden muss. Dass darin, wenn man berücksichtigt, dass es sich
um die Fahrt durch eine Ortschaft handelte, ein schuldhaftes Verhalten
erblickt werden muss, liegt auf der Hand. Der Kläger hätte sich - abgesehen
von der Vorschriftswidrigkeit seines Verhaltens

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- bei ruhiger Überlegung bewusst sein müssen, dass er bei der von ihm
eingehaltenen Geschwindigkeit nicht jeder sich ihm möglicherweise bietenden
Situation gewachsen sein werde; allein das Bewusstsein von der in diesem
Verhalten liegenden Gefahr drängte sich, angesichts des von der Vorinstanz
festgestellten Umstandes, dass der Kläger im übrigen vorschriftsgemäss auf der
rechten Strassenseite fuhr und dass die fragliche Strasse an der Unfallstelle
sich zu einem kleinen Platz erweitert, nicht in einem Masse auf, dass das
Gebahren des Klägers geradezu als eine völlige Missachtung der elementarsten
Vorsichtsgebote erachtet werden kann. Die Beklagte hat allerdings noch geltend
gemacht, dass der Kläger nach der Darstellung der Zeugin Bösiger an der
Unfallstelle einen Rank gemacht habe, wie wenn er in die Seitenstrasse
(Jurastrasse) hätte einbiegen wollen, weil er offenbar einen Moment über die
von ihm eingeschlagene Fahrtrichtung nicht im klaren gewesen sei. Es braucht
nicht untersucht zu werden, ob die Vorinstanz diese Aussage absichtlich oder
aus Versehen nicht gewürdigt hat; denn wenn auch der Kläger eine derartige
Bewegung ausgeführt haben sollte, so vermöchte dies an dem Grad seines
Verschuldens, da er festgestelltermassen auf der rechten Strassenseite
gefahren ist, nichts zu andern.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 54 II 401
Datum : 01. Januar 1927
Publiziert : 11. Oktober 1928
Quelle : Bundesgericht
Status : 54 II 401
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Auslegung des Begriffes der «groben Fahrlässigkeit» im Sinne von Art. 14 Abs. 2 WG. Anwendbarkeit...


Gesetzesregister
VVG: 14
SR 221.229.1 Bundesgesetz vom 2. April 1908 über den Versicherungsvertrag (Versicherungsvertragsgesetz, VVG) - Versicherungsvertragsgesetz
VVG Art. 14
1    Das Versicherungsunternehmen haftet nicht, wenn der Versicherungsnehmer oder der Anspruchsberechtigte das befürchtete Ereignis absichtlich herbeigeführt hat.
2    Hat der Versicherungsnehmer oder der Anspruchsberechtigte das Ereignis grobfahrlässig herbeigeführt, so ist das Versicherungsunternehmen berechtigt, seine Leistung in einem dem Grade des Verschuldens entsprechenden Verhältnisse zu kürzen.
3    Ist das Ereignis absichtlich oder grobfahrlässig von einer Person herbeigeführt worden, die mit dem Versicherungsnehmer oder dem Anspruchsberechtigten in häuslicher Gemeinschaft lebt, oder für deren Handlungen der Versicherungsnehmer oder der Anspruchsberechtigte einstehen muss, und hat er sich in der Beaufsichtigung, durch die Anstellung oder durch die Aufnahme jener Person einer groben Fahrlässigkeit schuldig gemacht, so kann das Versicherungsunternehmen seine Leistung in einem Verhältnisse kürzen, das dem Grade des Verschuldens des Versicherungsnehmers oder des Anspruchsberechtigten entspricht.
4    Hat der Versicherungsnehmer oder der Anspruchsberechtigte das Ereignis leichtfahrlässig herbeigeführt oder sich einer leichten Fahrlässigkeit im Sinne des vorhergehenden Absatzes schuldig gemacht, oder hat eine der übrigen dort aufgeführten Personen das Ereignis leichtfahrlässig herbeigeführt, so haftet das Versicherungsunternehmen in vollem Umfange.
WG: 14
BGE Register
51-II-1 • 54-II-401
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
grobe fahrlässigkeit • vorinstanz • verhalten • bundesgericht • weiler • frage • versicherungsnehmer • mass • begründung des entscheids • versicherungsvertrag • wille • stelle • grad des verschuldens • ersetzung • versicherer • tag • beklagter • trunkenheit • zeuge • automobil
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