S. 188 / Nr. 28 Staatsrechtliche Streitigkeiten zwischen Kantonen (d)
BGE 54 I 188
28. Urteil vom 10. Februar 1928 i.S. Regierungsrat Thurgau gegen Regierungsrat
St. Gallen.
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Regeste:
Zugehörigkeit eines in einem Kanton gelegenen Gebiets zu einer Kirchgemeinde
eines anderen Kantons. Rechtliche Natur eines solchen Verhältnisses.
Voraussetzungen für seine Kündigung bezw. einseitige Aufhebung durch den
ersten (Territorial-)Kanton. Clausula rebus sic stantibus. Verneinung des
Rücktrittsrechts im konkreten Falle. Bedeutung einer Übereinkunft zwischen den
beiden Kantonsregierungen, wodurch die Zugehörigkeit des Gebiets zu der betr.
ausserkantonalen Kirchgemeinde «anerkannt» wurde und anschliessend gewisse
Abreden über die Besteuerung seiner Einwohner durch jene Gemeinde getroffen
wurden.
A. - An der Grenze zwischen den Kantonen Thurgau und St. Gallen greift
mehrfach das Gebiet thurgauischer Kirch- und Schulgemeinden auf st. gallischen
Boden über und umgekehrt. Es handelt sich dabei um Verhältnisse, die schon vor
der Gründung der beiden Kantone im Jahre 1803 bestanden und anlässlich dieser
unverändert beibehalten worden sind. So umfasst die katholische Kirchgemeinde
Rickenbach zum mindesten schon seit 1669 neben dem im Thurgau gelegenen
Pfarrdorf ein im Kanton St. Gallen, politische Gemeinde Kirchberg gelegenes
Gebiet, in dem sich heute folgende Höfe und Weiler befinden: Lampertswil,
Enge, Ober- und Unterbraunberg, Fetz, Kohlberg, Rütihof und Sommerau. Dieselbe
Umgrenzung besteht bei der Schulgemeinde mit der Ausnahme, dass Lampertswil,
während es kirchlich zu Rickenbach gehört, nach Kirchberg
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schulgenössig ist. Bis Ende der 1850er Jahre wurden Schul- und Kirchensteuern
durch Rickenbach von den Bewohnern dieses Gebietes nach Massgabe des Vermögens
erhoben, mit dem sie im Kanton St. Gallen zur Steuer eingeschätzt waren. Im
Jahre 1859 trat in St. Gallen ein neues Gemeindesteuergesetz in Kraft, auf
Grund dessen in den Jahren 1860 ff. in den st. gallischen Gemeinden eine
allgemeine Revision der Steuereinschätzungen durchgeführt wurde. Als die
Kirch- und Schulgemeinde Rickenbach diese neue Veranlagung zur Grundlage für
die Erhebung der Schul- und Kirchensteuern gegenüber den st. gallischen Kirch
und Schulgenossen machen wollte, verweigerten letztere die Entrichtung der so
berechneten Steuern, mit der Begründung, dass Grundbesitz und sonstiges
Vermögen auf Grund des neuen Gesetzes in St. Gallen nach bedeutend strengeren
Grundsätzen eingeschätzt würden als im Thurgau und sie infolgedessen in
unverhältnismässig stärkerem Masse an die Gemeindelasten beizutragen hätten
als die thurgauischen Gemeindeglieder. Die Kirch- und Schulgemeinde Rickenbach
versuchte darauf die Steuerbeträge im Vollstreckungswege beizutreiben, worauf
die politische Gemeinde Kirchberg mit Steuerrepressalien gegenüber den
Einwohnern von Rickenbach antwortete, die in dem streitigen st. gallischen
Gebiete Liegenschaften besassen.
Es kam dann zu einer Übereinkunft zwischen den Regierungen der beiden Kantone
«betr. die Steuerverhältnisse der Kirch- und Schulgemeinde Rickenbach» vom 8.
Oktober 1868. Sie erklärt zunächst in Art. 1, dass die oben erwähnten st.
gallischen Weiler und Höfe, «soweit daselbst Katholiken wohnen, als zur
thurgauischen Kirchgemeinde Rickenbach und mit Ausnahme der Ortschaft
Lampertswil auch zur Schulgemeinde gleichen Namens gehörig anerkannt» werden.
Sodann wird in den folgenden Artikeln bestimmt, dass allfällige Kirchen- und
Schulsteuern gleichmässig auf alle der
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Kirche oder Schule zugeteilten Einwohner zu verlegen seien «und zwar nach
Massgabe der einschlägigen Steuergesetze des Kantons Thurgau», und zu diesem
Zwecke für den Teil der Gemeinde, der politisch zu St. Gallen gehört, die
Anlegung eines besonderen Steuerregisters vorgesehen «nach den Grundsätzen und
nach dem Masstabe, auf dem das Steuerregister der Munizipal- und Ortsgemeinde
Rickenbach beruht». Die Erstellung desselben wird zwei aus den beiden
Gemeindeabteilungen zu ernennenden Experten und, wenn sie sich nicht einigen
können oder ihre Arbeit nicht anerkannt werden sollte, einer von den beiden
Regierungen zu bestellenden Schatzungskommission übertragen, gegen deren
Entscheid an den Regierungsrat von St. Gallen rekurriert werden kann. Nach
diesen Grundsätzen sollten gleich den künftigen auch die seit 1863
rückständigen Steuern nachträglich eingezogen werden. Die Gültigkeit der
Übereinkunft war auf sechs Jahre vom 1. Januar 1869 an begrenzt; nach deren
Ablauf sollte sie von beiden Teilen jederzeit auf Ende des der Kündigung
folgenden Kalenderjahres gekündigt werden können. Im Jahre 1880 wurde sie vom
Regierungsrat von Thurgau gekündigt, weil sich Meinungsverschiedenheiten über
die Behandlung im st. gallischen Gemeindeteil neu entstehender Höfe ergeben
hatten. Sie wurden durch den Abschluss einer neuen Übereinkunft vom 27. März
1883 beseitigt, die in Art. l Abs. 1 den Art. 1 der früheren Übereinkunft
wiederholte, dann aber in einem Abs. 2 beifügte, dass die «Anerkennung» der
Zugehörigkeit zur Kirchen- und Schulgemeinde Rickenbach sich nur auf die
genannten, bereits bestehenden Ortschaften und Höfe beziehe; sollten solche
innert des «bezeichneten st. gallischen Territoriums» neu entstehen, so
müssten deren Einwohner sich das Kirchen- bezw. Schulrecht in Rickenbach erst
durch Einkauf erwerben, wobei der letzteren Gemeinde die freie Entscheidung
über die Aufnahme oder Nichtaufnahme zustehe. Im
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übrigen war der Inhalt derselben wie bei der Übereinkunft von 1868. Die in
Art. I Abs. 2 gemachte Einschränkung stiess, wie es scheint, auf den
Widerspruch der st. gallischen kirchlichen Behörden, was den Regierungsrat von
St. Gallen im Jahre 1890 zur Kündigung der Übereinkunft und zur Einleitung
neuer Verhandlungen veranlasste. Das Ergebnis war der am 14. Dezember 1891
erfolgte Abschluss zweier neuer Übereinkünfte «betr. die Grenz- und
Steuerverhältnisse der thurgauischen Kirchgemeinde Rickenbach» und «betr. die
Grenz- und Steuerverhältnisse der thurgauischen Schulgemeinde Rickenbach».
Art. 1 der ersteren Übereinkunft lautet nunmehr:
«Die zur st. gallischen politischen Gemeinde Kirchberg gehörenden Ortschaften
und Höfe Lampertswil, Enge, Ober- und Unterbraunberg, Fetz, Kohlberg, Rütihof
und Sommerau werden, soweit daselbst Katholiken wohnen, als zur thurgauischen
Kirchgemeinde Rickenbach gehörig anerkannt.
Diese Zuteilung erstreckt sich auf alle katholischen Bewohner, welche jetzt in
diesem Territorium sesshaft sind oder später in demselben ihr Domizil
erwählen.
Für die Grenze des der thurgauischen Kirchgemeinde Rickenbach zugeteilten st.
gallischen Gebietes gilt die Urkunde betitelt «Ausmarchung» vom 25. Hornung
1669 als rechtsverbindlich.»
In der Übereinkunft betreffend die Schulgemeinde fehlt der letzte Absatz von
Art. 1, ferner unter den als zu ihr gehörig «anerkannten» Ortschaften und
Höfen der Hof Lampertswil. Andererseits wird in einem Art. 10 die Zuteilung
auch dieses Hofes und «der evangelischen Bewohner, welche in dem durch Art. 1
der Schulgemeinde Rickenbach zugeteilten Gebiete wohnhaft sind, zu den in der
Übereinkunft festgestellten Bedingungen jederzeit vorbehalten». Im übrigen
deckt sich der Inhalt beider Übereinkünfte wiederum mit demjenigen der
früheren von 1868. Während aber der Schulvertrag auf 10 Jahre
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mit nachheriger Kündigungsmöglichkeit für beide Teile befristet wurde, fehlt
in der «Übereinkunft betr. die Grenz- und Steuerverhältnisse der Kirchgemeinde
Rickenbach» eine solche Befristung oder Kündigungsklausel.
Mit Zuschrift vom 1,. Februar 1923 teilte der Regierungsrat von St. Gallen
demjenigen von Thurgau mit, dass der gegenwärtige Besitzer des Hofes
Lampertswil Niedermann-Bärlocher (früher hatte der Hof während langer Zeit,
auch schon bei Abschluss der Übereinkunft von 1891 einer Familie Engensperger
gehört) beim Kirchenverwaltungsrat Kirchberg das Gesuch um Zuteilung zur
dortigen Kirchgemeinde gestellt habe. Die Kirchenverwaltung und der
katholische Administrationsrat des Kantons St. Gallen hätten dem Begehren
entsprochen und der Regierungsrat habe beschlossen, die ihm gesetzlich
vorbehaltene Genehmigung hiezu zu erteilen, unter Vorbehalt vorhergehender
Revision der Übereinkunft vom 14. Dezember 1891. Es entspreche der Übung, dass
die Einwohner einer politischen Gemeinde auch der dort befindlichen Schule und
Kirche zugeteilt werden. Nur weite Entfernung von oder ungünstige Verbindung
mit der Schule oder Kirche der Wohngemeinde vermöchten eine Ausnahme zu
rechtfertigen. Lampertswil liege nun etwa in der Mitte zwischen Rickenbach und
Kirchberg. Während früher die Verbindung mit Kirchberg ungünstig gewesen sei,
fahre heute eine schöne Strasse dahin. Bei den Nachteilen, die im übrigen wie
überall so auch hier die Zugehörigkeit zu einer verschiedenen politischen und
Schulgemeinde einerseits, Kirchgemeinde andererseits mit sich bringe, sei
daher die begehrte Änderung sachlich gerechtfertigt. Der Regierungsrat von
Thurgau erwiderte am 8. Februar 1924, nach Einholung der Meinungsäusserungen
der Kirchenvorsteherschaft Rickenbach und des thurgauischen katholischen
Kirchenrates, dass er es ablehnen müsse, in die Änderung des bestehenden
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Vertragsverhältnisses einzuwilligen, da irgendwelche Tatsachen, die den
geltenden Zustand als nicht mehr haltbar erscheinen liessen, nicht eingetreten
seien. Darauf «kündigte» der Regierungsrat von St. Gallen durch Schreiben vom
29. Mai 1925 die «Übereinkunft betreffend die Grenz- und Steuerverhältnisse
der Kirchgemeinde Rickenbach vom 14. Dezember 1891» auf den 31. Dezember 1925,
wobei er sich immerhin bereit erklärte hinsichtlich der übrigen darin
erwähnten st. gallischen Ortschaften und Höfe mit Ausnahme von Lampertswil in
ein neues Vertragsverhältnis zu treten. Der Regierungsrat von Thurgau weigerte
sich mit Antwort vom 30. November 1925 die Kündigung als gültig anzuerkennen
und bestritt gleichzeitig neuerdings das Vorliegen von Gründen, welche St.
Gallen berechtigen können, das Verhältnis allenfalls aus dem Gesichtspunkte
der clausula rebus sic stantibus als aufgehoben zu betrachten. Mit Schreiben
vom 1. Juni 1926 teilte darauf der Regierungsrat von St. Gallen mit, dass er
beschlossen habe, die Kündigung auf den 1. Juli 1926 in Vollzug zu setzen,
vorläufig allerdings nur für den Hof Lampertswil, weil nur für diesen ein
Begehren um Zuteilung zur katholischen Kirchgemeinde Kirchberg vorliege. Von
jenem Zeitpunkte an werde daher der Hofbesitzer als in Kirchberg
kirchensteuerpflichtig behandelt werden.
B. - Durch staatsrechtliche Klage vom 15. November 1926 hat der Regierungsrat
von Thurgau gegen denjenigen von St. Gallen beim Bundesgericht die Begehren
gestellt: es sei zu erkennen:
«1. Dass die Übereinkunft vom 14. Dezember 1891 betr. die Grenz- und
Steuerverhältnisse der thurgauischen Kirchgemeinde Rickenbach unkündbar sei
und daher nur im gemeinsamen Einverständnis der beiden Kantonsregierungen von
St. Gallen und Thurgau aufgehoben oder abgeändert werden kann.
2. Dass angesichts der genannten rechtsbeständigen Übereinkunft die heutigen
Verhältnisse keine
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Lostrennung des Hofes Lampertswil auf einseitiges Verlangen des Hofbesitzers,
des Kirchenverwaltungsrates Kirchberg und der Behörden des Kantons St. Gallen
begründen können.»
Der Regierungsrat von St. Gallen hat auf Abweisung dieser Begehren angetragen.
C. - Die Begründung der Klage (in Klageschrift und Replik) geht dahin, dass
eine einfache Kündigung des durch die angerufene Übereinkunft begründeten
Rechtsverhältnisses nur auf Grund eines entsprechenden Vorbehaltes im
Vertragstexte selbst zulässig wäre. Aus der Tatsache, dass ein solcher darin
im Gegensatz zu dem am gleichen Tage geschlossenen Schulvertrage und den
früheren Übereinkünften von 1868 und 1883 fehle, müsse auf den Willen der
Parteien geschlossen werden, das Verhältnis endgültig, ein für alle Mal so zu
ordnen. Es habe dies umsoeher geschehen können, als es sich ja nicht um eine
Neuerung, sondern einfach um eine Bestätigung früherer Vereinbarungen und, was
die Zuteilung selbst betreffe, alten Gewohnheitsrechtes gehandelt habe,
während bei der Schule Gründe besonderer Art, wie sie in Art. 10 der
betreffenden Übereinkunft angedeutet seien, dafür gesprochen haben mögen, eine
künftige Revision vorzubehalten. Die Aufhebung wegen veränderter Verhältnisse
aber, die demnach allein in Betracht fallen könnte, würde voraussetzen, dass
die Fortdauer der bisherigen Ordnung für die eine Partei zur unerträglichen
Hemmung oder Belastung geworden wäre, ohne für die andere Partei lebenswichtig
zu sein. Nur mit dieser Beschränkung könne die von St. Gallen angerufene
clausula rebis sic stantibus anerkannt werden; eine weitere Ausdehnung wäre
Rechtsbruch. An jener Voraussetzung fehle es aber hier durchaus. Was vorliege,
sei einzig die persönliche Konvenienz des gegenwärtigen Hofbesitzers, die bei
einem späteren Besitzer wieder wechseln könne, verbunden mit gewissen
geringfügigen Unannehmlichkeiten, die sich aus der verschiedenen
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Zugehörigkeit für Kirche und Schule ergeben, Unannehmlichkeiten, wie sie auch
anderwärts hundertfach vorkämen, ohne dass man daraus Wesens mache. Alle
anderen Gründe träfen entweder schon tatsächlich nicht zu oder seien in diesem
Zusammenhang von vorneherein unerheblich, abgesehen davon, dass es sich dabei
überall oder doch in der Hauptsache um Verhältnisse handle, die schon bei
Abschluss der Übereinkunft bestanden hätten. Auch die st. gallische
Territorialhoheit und die autonomen Kompetenzen der st. gallischen kirchlichen
Behörden im Verhältnis zu den staatlichen hinsichtlich der Umgrenzung der
Kirchengemeinden hätten schon damals bestanden und könnten daher keinen Grund
abgeben, eine trotzdem eingegangene interkantonale Bindung einseitig
abzuschütteln. Dies müsste umsomehr gelten, wenn man das
Zugehörigkeitsverhältnis selbst überhaupt nicht auf die Übereinkunft, sondern
ausschliesslich auf früheres Herkommen als Rechtsgrundlage basiere und in der
Übereinkunft nur eine Regelung steuerrechtlicher Folgen sehe, die sich daraus
ergäben, wie dies St. Gallen in der Klagebeantwortung tue. Als alte
Staatsdienstbarkeit, von jeher bestehende öffentlichrechtliche Organisation,
die sich über das Kantonsgebiet hinaus erstrecke, wäre das Verhältnis dann
noch viel eher der Verfügung der st. gallischen kirchlichen Behörden entrückt.
Der Regierungsrat von St. Gallen macht demgegenüber in Antwort und Duplik
geltend: nach Art. 55 Ziff. 6 der st. gallischen KV stehe der Abschluss von
Verträgen mit anderen Kantonen dem Grossen Rate zu. Nur er hätte demnach auch
dauernd auf die Ausübung der Territorialhoheit in einem zum Kanton gehörenden
Gebiete zu Gunsten eines anderen Kantons verzichten können, wobei noch zu
untersuchen bliebe, ob nicht ein solches Abkommen, um gegenüber der internen
Gesetzgebung wirksam zu sein, ausserdem dem Referendum hätte unterstellt
werden müssen. Der Regierungsrat
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wäre dazu nicht zuständig gewesen, abgesehen von dem angeführten Grunde auch
deshalb nicht, weil nach Art. 24 KV in Verbindung mit Art. 63 der Organisation
des katholischen Konfessionsteiles des Kantons St. Gallen vom 19. September
1893, soweit es sieh um die katholische Landeskirche handle, die Verfügung
über die Abgrenzung der Kirchgemeinden dem besonderen kirchlichen Organ,
nämlich dem katholischen Administrationsrat zustehe, dem seine bezüglichen
Kompetenzen durch den Regierungsrat nicht hätten entzogen werden können.
Dagegen sei der Regierungsrat oberste vollziehende und entscheidende Behörde
bei Anwendung des Gemeindesteuergesetzes, auch soweit es sich um die
Kirchensteuern handle, und könne in dieser Eigenschaft mit anderen Kantonen
Verständigungen zur Hebung von Steueranständen treffen, die sich aus
grenznachbarlichen Verhältnissen ergeben. Darauf beschränke sich denn auch die
Übereinkunft von 1891, während sie die Zugehörigkeit der in Betracht kommenden
Weiler und Höfe zur Kirchgemeinde Rickenbach als einfache Tatsache erwähne,
nicht etwa neu mit konstitutiver Wirkung festsetze. Es handle sich demnach
nicht um einen eigentlichen Staatsvertrag, sondern lediglich um ein Abkommen
administrativer Natur, das der Regierungsrat als oberste Vollziehungsbehörde
im Steuerwesen zur Beseitigung entstandener lokaler Steuerkonflikte getroffen
habe und das infolgedessen nur temporäre Bedeutung besitze und internes
Gesetzesrecht nicht aufheben könne. Die Aufführung der kirchlich zu Rickenbach
gehörenden st. gallischen Weiler und Höfe in Art. 1 solle nur das örtliche
Geltungsgebiet der in den nachfolgenden Artikeln enthaltenen steuerlichen
Ordnung feststellen und enthalte keine Preisgabe, jedenfalls keine dauernde
der st. gallischen Territorialhoheit über das Gebiet. Anderenfalls wäre die
Übereinkunft von vorneherein ungültig gewesen. Aus dem Mangel einer
ausdrücklichen Kündigungsklausel in einem
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Staatsvertrage folge zudem noch nicht dessen Unkündbarkeit. Vielmehr sei es
Sache der Partei, welche dieselbe behaupte, sie zu beweisen. Im vorliegenden
Falle seien aber weder Tatsachen dargetan, welche auf den Willen der Parteien
hinwiesen, die Verhältnisse unabänderlich so festzulegen, noch ergebe sich der
Ausschluss einer Kündigung aus der Natur der Sache, dem Inhalt des Vertrages.
Heute lägen die Dinge so, dass einzig die Zuteilung von Lampertswil zu
Kirchberg auch in kirchlicher Hinsicht Recht und Billigkeit entspreche.
Während die übrigen, in der Übereinkunft von 1891 erwähnten Höfe und Weiler
nicht bloss von Kirchberg bedeutend weiter entfernt seien als von Rickenbach,
sondern auch dorthin keine günstige Verbindung hätten, treffe dies für
Lampertswil nicht mehr zu. Schon im Jahre 1891 habe sich denn auch der
damalige Eigentümer von Lampertswil, Engensperger, der damals eventuell ins
Auge gefassten Angliederung von Lampertswil an Rickenbach auch für die Schule
unter Androhung rechtlicher Schritte widersetzt, was beweise, dass die
Verbindung mit Kirchberg angenehmer und dienlicher sei als mit Rickenbach. Die
verschiedene Zuteilung für Kirche und Schule führe auf die Dauer zu
unhaltbaren Verhältnissen. Entweder besuchten in einem solchen Falle die
Kinder der ausserkantonalen Kirchgenossen auch den Religionsunterricht in
ihrer Kirchgemeinde; dann seien Störungen des Schulbetriebes dort, wo sie
schulgenössig seien, in Gestalt vermehrter Absenzen unvermeidlich, Störungen,
die, wie ein vorgelegtes Zeugnis des Bezirksschulrates Alttoggenburg zeige,
erheblichen Umfang annehmen können. Oder die Kinder empfingen den
Religionsunterricht da, wo sie zur Schule gehen, woraus sich dann die
Gewohnheit auch des Kirchenbesuchs an diesem Orte ergebe, wie es insbesonders
bei den Kindern Engensperger der Fall gewesen sei. Dann trage die Kirche der
Schulgemeinde alle Lasten, während eine andere Gemeinde die
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Kirchensteuern einziehe. Aber auch für die Erwachsenen sei die Zugehörigkeit
zu einer anderen Kirche als derjenigen ihrer Wohngemeinde mit mannigfachen
Nachteilen verknüpft, indem sie dadurch verhindert würden, nach dem
Gottesdienst die verschiedenen privaten und amtlichen Geschäfte zu besorgen,
die auf dem Lande bei dieser Gelegenheit abgewickelt würden. An den
zahlreichen Abstimmungssonntagen seien sie ohnehin auf den Kirchenbesuch in
der Wohngemeinde angewiesen. Dazu komme, dass der Weg nach Rickenbach
teilweise durch Wald (den Fetzwald) fahre und für Kinder und Frauen gefährlich
sei, wie denn auch schon mehrfach Überfälle auf solche dort vorgekommen seien.
Die Erhebungen, welche der Kirchenverwaltungsrat von Kirchberg vorgenommen
habe, zeigten, dass schon seit geraumen die verschiedenen Bewohner von
Lampertswil nicht nur ihre Kinder Religionsunterricht und Gottesdienst in
Kirchberg hätten besuchen lassen, sondern auch selbst überwiegend dort und
nicht in Rickenbach zur Kirche gingen. Durch die angeordnete Änderung der
kirchlichen Zuteilung werde also lediglich der rechtliche Zustand mit dem
tatsächlichen in Übereinstimmung gebracht.
D. - Zur Aufklärung über die örtlichen Verhältnisse und Abklärung einzelner
bestrittener Behauptungen hat am 4. April 1927 ein Augenschein verbunden mit
Zeugeneinvernahme stattgefunden. Auf die Ergebnisse wird in den nachstehenden
Erwägungen Bezug genommen werden.
E. - Im Anschluss daran hat die Instruktionskommission den Parteien einen
Vergleichsvorschlag unterbreitet. Die Parteien erklärten sich bereit auf Grund
desselben unter sich in Verhandlungen zu treten. Doch führten diese
schliesslich zu keinem Ziele.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Es handelt sich um eine Streitigkeit zwischen Kantonen über
öffentlichrechtliche Verhältnisse, deren
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Beurteilung nach Art. 175 Ziff. 2 , 177 OG in die Zuständigkeit des
Bundesgerichts als Staatsgerichtshof fällt. Die von der thurgauischen
Kantonsregierung gestellten Rechtsbegehren haben die Natur einer
Feststellungsklage. Durch das zu erlassende Urteil soll festgestellt werden,
dass St. Gallen das hinsichtlich der Zuteilung des st. gallischen Hofes
Lampertswil zur thurgauischen Kirchgemeinde Rickenbach bestehende Verhältnis
nicht einseitig kündigen oder sonst aufheben könne und dass es infolgedessen,
gegenseitige gütliche Vereinbarung vorbehalten, bei diesem Verhältnis sein
Bewenden haben müsse. Dahin geht nach der Klagebegründung der von der
formellen Fassung der Klageanträge etwas abweichende Sinn der Klage. Die
prozessualen Voraussetzungen für ein solches Feststellungsbegehren sind nach
den vorangegangenen Schritten des Regierungsrates von St. Gallen - Kündigung
der bestehenden Zuteilung und Androhung ihrer Vollziehung auch entgegen dem
Widerstand der thurgauischen Behörden in den beiden Schreiben vom 29. Mai 1925
und 1. Juni 1926 - zweifellos gegeben.
2.- Durch die zu den Akten gebrachten Übereinkünfte von 1868, 1883 und 1891
ist nicht etwa st. gallisches Gebiet erst zu einer thurgauischen Kirchgemeinde
zugeteilt worden. Es ist vielmehr unbestritten, dass diese Zugehörigkeit schon
seit langem, noch vor der Entstehung der beiden Kantone bestand. Die
Übereinkünfte gehen davon einfach als von einem feststehenden, von keiner
Seite in Frage gestellten Rechtszustande aus, um ihn dann hinsichtlich einer
Folge, nämlich der Ausübung des sich daraus ergebenden Besteuerungsrechts
einer thurgauischen Gemeinde gegenüber st. gallischen Kantonseinwohnern und
st. gallischem Grundbesitz nach bestimmten Richtungen näher zu regeln. Dies
kommt denn auch in der Fassung der Übereinkünfte klar zum Ausdruck. Alle
bestimmen in ihrem Art. 1 nicht etwa, dass das fragliche st. gallische Gebiet
bezw. die darin aufgezählten Weiler und Höfe der
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Kirchgemeinde Rickenbach zugeschieden werden, sondern dass ihre Zugehörigkeit
zur Kirchgemeinde gleichen Namens «anerkannt» werde, wobei die letzte
Übereinkunft von 1891 für die genaue Abgrenzung des Gebiets überdies auf die
Ausmarchungsurkunde von 1669 als Rechtsgrundlage verweist. Im übrigen werden
dann Grundsätze aufgestellt, die Gewähr dafür bieten sollen, dass die Bewohner
des Gebietes bei tatsächlich gleich hohem Vermögen nicht in stärkerem Masse zu
den Gemeindelasten herangezogen werden als die im thurgauischen Gemeindeteil
sesshaften Gemeindebewohner. Mit dem Zugehörigkeitsverhältnis selbst befasste
sich einzig die Übereinkunft von 1883 insoweit, als sie Rickenbach die
Befugnis zugestand, die Aufnahme der Bewohner im st. gallischen Gemeindeteil
neu entstehender Höfe als Kirchgenossen von der Entrichtung eines
Einkaufsgeldes abhängig zu machen oder überhaupt zu verweigern. Gerade diese
Bestimmung ist dann aber infolge Kündigung der Übereinkunft von 1883 durch St.
Gallen beseitigt und in der letzten heute geltenden Übereinkunft von 1891
durch die dem früheren Zustande entsprechende «Anerkennung» ersetzt worden,
wonach die Zugehörigkeit zur Kirchgemeinde Rickenbach sich auf das durch die
Ausmarchung von 1669 abgegrenzte Gebiet als solches und damit auch auf alle
gegenwärtigen oder künftigen katholischen Einwohner desselben bezieht.
Es kommt deshalb nichts darauf an, ob für eine neue Zuteilung dieser Art in
kirchlicher Hinsicht durch Vertrag mit einem anderen Kanton der Regierungsrat
von St. Gallen (mit oder ohne Zustimmung des katholischen
Administrationsrates) von sich aus befugt gewesen wäre oder ob es dazu der
Mitwirkung des st. gallischen Grossen Rates und eventuell sogar eines
Referendums bedurft hätte. Da das bestehende Zugehörigkeitsverhältnis nicht
durch die Übereinkünfte von 1869, 1883 und 1891 geschaffen worden ist, sondern
auf davon unabhängigen viel älteren Vorgängen beruht, kann auch
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seine Verbindlichkeit für den Kanton St. Gallen nicht deshalb bestritten
werden, weil zu seiner Begründung im Zeitpunkt des Abschlusses jener
Übereinkünfte die Form des Staatsvertrages nach Art. 55 Ziff. 6 der st.
gallischen KV hätte eingehalten werden müssen. Und ebenso spielt die
«Kündbarkeit» der Übereinkunft vom 14. Dezember 1891 für die Entscheidung der
Streitfrage, um die es sich heute in Wirklichkeit handelt, keine Rolle. Denn
gekündigt werden könnte diese Übereinkunft auf alle Fälle nur mit Bezug auf
das, was darin selbständig, mit konstitutiver Wirkung geregelt worden ist,
also inbezug auf die Abreden, die sie über die Art und Weise der Ausübung des
Besteuerungsrechtes der Kirchgemeinde Rickenbach in dem Gebiete enthält. Das
Zugehörigkeitsverhältnis des Gebietes zu dieser Kirchgemeinde als solches kann
durch eine derartige Kündigung noch nicht berührt werden, weil es seine
Rechtsgrundlage nicht in der gekündigten Übereinkunft hat, sondern von ihr als
ein bereits gegebener feststehender Rechtszustand vorausgesetzt und anerkannt
wird. Wenn der katholische Administrationsrat des Kantons St. Gallen, dessen
Vernehmlassungen sich der Regierungsrat von St. Gallen in der
Klagebeantwortung und Duplik angeschlossen hat, auch seinerseits in der
Übereinkunft nur eine Ordnung zur Beseitigung und Verhütung lokaler
Steuerkonflikte erblicken will, die sich aus jenem Verhältnis ergeben hatten
oder noch ergeben könnten, dann aber doch aus der Kündbarkeit einer solchen
Vereinbarung wegen ihrer aus dem geregelten Gegenstand folgenden
vorübergehenden Natur die Möglichkeit einer einseitigen Aufhebung auch der
Gemeindezuteilung selbst herleiten will, so widerspricht er sich selbst.
Darauf und nicht bloss auf eine Revision der über die Besteuerung der st.
gallischen Gemeindegenossen getroffenen Abreden bei fortdauernder
Zugehörigkeit des Gebietes - zur Kirchgemeinde Rickenbach und fortbestehendem
Besteuerungsrechte derselben zielt aber die
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«Kündigung» der Übereinkunft durch St. Gallen ab. Und die Unzulässigkeit einer
Kündigung, die mit dieser Wirkung verbunden wäre, ist es, was Thurgau durch
den ersten Klageantrag festgestellt wissen will. Die Befugnis zu einer
einseitigen Aufhebung dieser Zuteilung aber kann nach dem Gesagten nicht auf
die «temporäre» Natur von Abkommen wie des am 14. Dezember 1891 zwischen den
beiden Kantonen abgeschlossenen gestützt werden. Sie müsste aus anderen
Rechtsgrundsätzen hergeleitet werden können.
3.- Materiell handelt es sich dabei, zum mindesten seitdem die
Gesamtkirchgemeinde Rickenbach sich über das Gebiet zweier selbständiger
Staaten (Kantone) erstreckt, also jedenfalls seit 1803, um eine sog.
völkerrechtliche oder Staatsdienstbarkeit, kraft deren der Kanton St. Gallen
gehalten ist, die Ausübung bestimmter öffentlichrechtlicher Befugnisse, die an
sich aus der Gebietshoheit fliessen würden, in einem zum Kanton gehörenden
Gebietsteile zu unterlassen und umgekehrt die Inanspruchnahme dieser
Befugnisse durch einen anderen Kanton, Thurgau bezw. einen thurgauischen
öffentlichrechtlichen Verband zu dulden. Die Möglichkeit und Zulässigkeit
solcher Verhältnisse und des darin liegenden teilweisen Souveränetätsverzichts
und zwar auch im Sinne einer dauernden Bindung steht in der Lehre des
Völkerrechts fest und muss daher auch für die Beziehungen zwischen den
Kantonen als selbständigen Staaten anerkannt werden, wie das Bundesgericht
bereits in dem Urteil vom 17. Februar 1882 in dem analogen Falle Luzern gegen
Aargau (BGE 8 S. 43 ff.) ausgesprochen hat (vgl. ferner BOLLE, Das
interkantonale Recht S. 54). Über den rechtlichen Charakter des Aktes, durch
den das Verhältnis hier ursprünglich begründet worden ist, fehlen Angaben in
den Akten. Doch kommt darauf nichts an, weil die beklagte Partei selbst nicht
etwa behauptet, dass es auf einem Rechtstitel beruhe, der ihr die Befugnis zu
einseitiger einfacher Aufhebung
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in einem weitergehenden Umfange zu verleihen vermöchte, als sie im Falle der
Begründung durch interkantonalen Vertrag (Staatsvertrag), nach den für die
Auflösung solcher geltenden Grundsätzen bestehen würde. Wenn Vereinbarungen
zwischen den Kantonen, wodurch sie sich lediglich zur Aufstellung gemeinsamer
abstrakter Rechtsregeln, zur übereinstimmenden gesetzgeberischen Ordnung einer
Materie zusammentun (die Konkordate) nach heute feststehendem Gewohnheitsrecht
grundsätzlich der freien Kündigung durch einen Beteiligten unterstehen, so
verhält es sich aber doch anders bei rechtsgeschäftlichen Verträgen, die, wie
die Errichtung einer Staatsdienstbarkeit, auf die Begründung eines konkreten
Rechtsverhältnisses und darauf bezüglicher subjektiver Rechte und Pflichten
der Parteien; auf eine Erweiterung der Herrschaftssphäre des einen Teils auf
Kosten des anderen gerichtet sind. Soll die in der Staats- und
Völkerrechtslehre anerkannte Rechtsgültigkeit solcher Abkommen nicht ein
blosses Wort sein, so muss der dadurch geschaffene konkrete Rechtszustand
solange für beide Teile verbindlich bleiben, als nicht ein durch den
Begründungsakt selbst vorgesehener oder sonst vom Rechte zugelassener
besonderer Aufhebungsgrund eingetreten ist. Dass es sich hier nach dem
rechtsbegründenden Vorgang selbst bloss um ein befristetes oder kündbares
Verhältnis hätte handeln sollen, hat aber st. Gallen nicht darzutun vermocht;
Es spricht dagegen von vorneherein die lange Dauer des Verhältnisses und die
Tatsache, dass es bei Gründung der beiden Kantone im Jahre 1803 unverändert
übernommen und seither bis zum Jahre 1923 ohne den Versuch einer Auflösung
weitergeführt worden ist. Es ist ferner anerkannten Rechtes, dass auch
Änderungen in der internen Gesetzgebung und sogar in der Verfassung des
belasteten Teiles ein Kündigungsrecht gegenüber einer Bindung der vorliegenden
Art nicht begründen können. Der Regierungsrat von St. Gallen
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behauptet denn auch selbst nicht, dass die Kompetenzen, welche die heute
geltende st. gallische Verfassung und Gesetzgebung dem Grossen Rate und den
autonomen Organen der katholischen Landeskirche einräumt, ein weiteres
Bestehen des streitigen Verhältnisses gegen den Willen dieser Organe selbst
dann ausschlössen, wenn es seine Entstehung Vorgängen verdankt, die vor dem
Erlass dieser Vorschriften liegen, sondern nur dass es wegen derselben vom
Regierungsrat bei Abschluss der Übereinkunft von 1891 nicht mit dauernder
Wirkung habe eingegangen werden können, eine Einwendung, die aus den in
Erwägung 2 angeführten Gründen unerheblich ist. In Frage kann demnach nur
kommen, ob nicht St. Gallen das Recht sich davon loszusagen aus dem
Gesichtspunkt der clausula rebus sic stantibus, wegen Veränderungen in den
tatsächlichen Verhältnissen zustehe, denen das Völkerrecht diese Wirkung auch
gegenüber einer vertraglichen Bindung beimisst. In dem mehrfach angeführten
Urteile in Sachen Luzern gegen Aargau hat das Bundesgericht ein
Rücktrittsrecht aus diesem Grunde nicht nur für den Fall angenommen, dass der
Fortbestand der Dienstbarkeit mit den Lebensbedingungen des verpflichteten
Teils als selbständigen Staates unvereinbar wäre oder dass sie sinnlos
geworden ist, sondern auch schon dann, wenn eine Veränderung solcher Umstände
eingetreten ist, die nach dem erkennbaren Willen der Parteien zur Zeit der
Begründung der Last die stillschweigende Bedingung ihres Bestandes bildeten.
Es mag dahingestellt bleiben, ob so weit wirklich gegangen werden dürfte (in
dem damals beurteilten Streite musste das Rücktrittsrecht auch dann verneint
werden). Selbst wenn es der Fall wäre, müsste verlangt werden, dass eine
derartige Veränderung in den Umständen, um als Rücktrittsgrund gelten zu
können, von dem Teil, der daraus Rechte herleiten will, innert angemessener
Frist angerufen wird, seitdem sie sich mit Sicherheit feststellen liess. Lässt
die belastete Partei
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trotzdem das Verhältnis noch während Jahrzehnten fortbestehen, so gibt sie
damit auch zu erkennen, dass sie den weggefallenen Tatsachen selbst nicht die
Bedeutung einer stillschweigenden Vertragsbedingung in dem umschriebenen Sinne
beilegt, und kann nach den Grundsätzen von Treu und Glauben, die auch die
zwischenstaatlichen Beziehungen beherrschen müssen, darauf nicht nachträglich
wieder zurückkommen, um einen von ihr versuchten Rücktritt von dem Verhältnis
zu begründen. (v. WALDKIRCH Völkerrecht S. 223). Danach erweist sich aber von
den verschiedenen «neuen» Umständen, die in den st. gallischen Prozesschriften
angeführt werden, von vorneherein als unerheblich der Bau der Strasse
Rickenbach-Kirchberg. Denn dieser Bau hat unbestrittenermassen schon im Jahre
1890 stattgefunden, also sogar noch bevor sich der Regierungsrat von St.
Gallen durch die Übereinkunft vom 14. Dezember 1891 nochmals ausdrücklich zur
Fortsetzung des Verhältnisses herbeiliess. Auch die Nachteile, die mit der
verschiedenen Zuteilung für Schule und Kirche verbunden sein sollen, könnten,
soweit sie überhaupt bestehen, nicht erst in letzter Zeit aufgetreten sein,
sondern müssten von jeher vorhanden gewesen sein. Im übrigen kann es sich auch
dabei nur um geringfügige Übelstände handeln, die nicht geeignet wären, die
Voraussetzungen eines einseitigen Rücktrittsrechts, wie sie oben umschrieben
worden sind, herzustellen. Die Bescheinigung des Bezirksschulrates
Alttoggenburg bezieht sich auf eine andere Schulfraktion der Gemeinde
Kirchberg als diejenige, zu der Lampertswil zugeteilt ist: bei der
ausserordentlich schwankenden Zahl der Absenzen der Schüler jener Fraktion,
die kirchlich einer anderen Gemeinde (Dussnang) zugeteilt sind, in den
einzelnen Jahren lässt sich zudem unmöglich mit einiger Sicherheit
feststellen, inwiefern der Grund dafür wirklich im letzteren Umstand lag. Und
wenn tatsächlich die Kinder von Lampertswil mit der Schule jeweilen
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auch den Religionsunterricht in Kirchberg besucht haben, so würde dies
höchstens einen gewissen Beitrag Rickenbachs an Kirchberg für diesem daraus
allenfalls erwachsende Mehrlasten rechtfertigen, nicht die Aufhebung der
bestehenden kirchlichen Zuteilung des Gebietes überhaupt. Auch von einer
besonderen Gefährlichkeit der Wegstrecke Lampertswil-Rickenbach überhaupt und
insbesondere im Vergleich mit der Strecke Lampertswil-Kirchherg kann nach den
Ergebnissen des Augenscheins nicht gesprochen werden. Die vereinzelten
Überfälle auf Frauen und Kinder, die in den Vernehmlassungen des katholischen
Administrationsrates erwähnt werden, bilden dafür umsoweniger einen Beweis,
als, wie durch den eingelegten Auszug aus dem Urteil des Bezirksgerichts
Alttoggenburg dargetan wird, zwei Vorfälle gleicher Art sich auch auf der
Strassenstrecke zwischen Lampertswil und Kirchberg ereignet haben (unsittliche
Handlungen vor Rosa Kunz und den Kindern Hürlimann). Auch die Behauptung, dass
die Bewohner von Lampertswil seit geraumer Zeit wenn nicht ausschliesslich so
doch überwiegend in Kirchberg und nicht in Rickenbach zur Kirche gehen, ist
durch das Beweisverfahren nicht bestätigt worden: wenn einzelne unter ihnen
den Kirchweg nach Kirchberg vorgezogen haben mögen, so hat doch die
Einvernahme der beteiligten Personen, deren Zeugnis als durchaus unverdächtig
angesehen werden darf, für die Mehrzahl eher das Gegenteil dargetan. Es kann
deshalb unerörtert bleiben, ob dieser Tatsache überhaupt irgendwie
entscheidendes Gewicht hätte beigelegt werden können. Was St. Gallen anstrebt,
ist denn auch in Wirklichkeit nicht sowohl seine Befreiung von der bestehenden
Staatsdienstbarkeit wegen Wegfalls der Voraussetzungen, auf denen sie beruhte,
als eine Neuordnung des Verhältnisses aus dem anderen Grunde, dass die
Vereinigung des Hofes mit Kirchberg auch in kirchlicher Hinsicht den
Verhältnissen und Bedürfnissen der Hofbewohner
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besser entsprechen würde (s. Ziff. II am Eingang der Vernehmlassung des kath.
Administrationsrates Act. 9). Diese Erwägung kann aber für sich allein sowenig
wie der Wunsch des gegenwärtigen Hofeigentümers ausreichen, um St. Gallen das
Recht einfachen Rücktrittes von einer entgegenstehenden zwischenstaatlichen
Verpflichtung zu geben, die es einmal eingegangen, bezw. bei Gründung des
Kantons von seinem Vorfahren in der Gebietshoheit mitübernommen hat. Ob
Thurgau allenfalls verhalten werden könnte, sich eine Ablösung der
betreffenden Staatsdienstbarkeit gegen Entschädigung gefallen zu lassen, ist
heute nicht zu erörtern, weil ein solches Begehren nicht ans Recht gestellt
worden ist. Da es sich um ein interkantonales Rechtsverhältnis handelt, könnte
auch darüber verbindlich für Thurgau mangels einer gütlichen Einigung nur die
zur Erledigung solcher Anstände eingesetzte Bundesbehörde und nicht das im
Kanton St. Gallen zu derartigen Abkurungen intern zuständige landeskirchliche
Organ verfügen, wie es der Administrationsrat nach den Äusserungen seines
Vertreters am Rechtstage vom 4. April 1927 anzunehmen scheint.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Klage wird im Sinne der Erwägungen gutgeheissen.