84 Eisenbahnhaftpflieht. N° 16.

Rentenbeträgen zugemutet werden, nämlich im Umfange von 70 %.

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Demnach erkennt das Bundesgericht .-

Die Berufung Wird dahin teilweise begründet erklärt, dass in Abänderung
des Urteile-s des Appellationsgerichtes des Kantons Basel-Stadt vom
30. November 1926 die Summen, welehe die Beklagte an die Kläger zu
bezahlen hat, je auf 70% der dort genannten Beträge herabgesetzt werden.

VI. E ISENBAHNHAFTPF LICHT

RESPONSABILI'ÎÉ CIVILE DES CHEMINS DE FER

16. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 2. Februar 1927
i. S. Eigenmann gegen Politische Gemeinde St. Gallen.

Eisenb ahnhaftpflicht: Zusammenstoss eines in zu raschem Tempo fahrenden
Radfahrers mit einem Tramzug bei der Einmündung einer abschüssigen,
schmalen Seitenstrasse in eine Hauptstrasse, unmittelbar nach einer
erfolgten Tramzugkreuzung. Konkurrenz von Selbstverschulden mit erhöhter
Betriebsgeiahr. EHG Art. 1 und 5.

Tatbestand :

Am 5. August 1925, kurz vor nachmittags 2 Uhr, fuhr der zwanzigjährige
Ernst Eigenmann in St. Gallen mit seinem Velo die etwas abschüssige
Kanzleistrasse hinunter in der Absicht, sich zu seiner Arbeitsstätte
bei Julius Ochsner, hintere Schützengasse, zu begeben, wo er als
Schreibmaschinenreparateur tätig war. Im Momente, als er in die
St. Leonhardstrasse einbiegen wollte, kam vom Broderbrunnen her ein
westwärts, nach dem Helvetiaplatz fahrender, aus einem Meter-wagen mit
An-Eisenbahnhaftpflicht. N° 16. 8-5

hänger bestehender Tramzug, nachdem fast gleichzeitig ein in
entgegengesetzter Richtung fahrender T ramzug die Einmündung der
Kanzleistrasse gekreuzt hatte. Eigenmann, der das Herannahen des
erstgenannten Zuges offenbar zu spät bemerkt hatte, fuhr mit diesem
zusammen und wurde mit solcher Wucht zu Boden geschleudert, dass er an
den dadurch erlittenen Verletzungen tags darauf starb.

In der Folge strengten die Eltern des Veruni'allten, Karl Eigenmann und
Frau Clementina Eigenmann geb. Studach, gegen die Politische Gemeinde
der Stadt St. Gallen als Eigentümerin der städtischen Tramunternehmung
auf Grund des Eisenbahnhaftpflichtgesetzes eine Schadenersatzklage
an, indem sie für die ihnen durch den Unfall entstandenen Kosten, für
entgangene Unterstützung, die ihnen der Verunfailte hätte leisten können,
sowie für Genugtuung insgesamt 12,000 Fr., eventuell einen Betrag nach
richterlichem Ermessen geltend machten.

Mit Urteil vom 5. November 1926 hat das Kantonsgericht von St. Gallen
die Klage (in Abweichung von der ersten Instanz, die den Klägern
einen Betrag von 2500 Fr. zugesprochen hatte.) abgewiesen, weil der
Unfall ausschliesslich auf das Selbstverschulden des Verunglückten
zurückzuführen sei.

Die von den Klägern hiegegen erhobene Berufung wurde vom Bundesgericht
teilweise gutgeheissen.

Aus den Erwägungen :

Zu Unrecht hat die Vorinstanz das Vorliegen einer mit dem
Selbstverschulden des Verunglückten konkurrierenden besonderen
Betriebsgefahr verneint-. Ihr Hinweis darauf, dass der Unfall auch
dann'sich ereignet hätte, wenn anstatt des fraglichen Tramzuges im selben
Moment ein anderes Fahrzeug die Einmündung der Kanzleistrasse gekreuzt
hätte, ist nicht schlüssig. Die Vorinstanz übersicht, dass infolge des
Gewichtes der

86 Elsenbahnhaftpflicht. N° 16.

Tramwagen und ihrer Anhänger sowie des Umstandes, dass diese auf
Geleisen fahren (was die Reibung stark vermindert), ein Zusammenstoss mit
solchen Zügen naturgemäss mit ungleich stärkerer Wucht erfolgt, als ein
Zusammenstoss mit irgendeinem gewöhnlichen auf der Strasse verkehrenden
Fahrzeug, ganz abgesehen davon, dass ein Tramzug, weil er auf Schienen
fährt, im Gegensatze zu andern Fahrzeugen auch nicht in der Lage ist,
durch Änderung seiner Fahrtrichtung einem Zusammenstoss auszuweichen
oder doch wenigstens den Anprall zu vermindern. Infolge dieser für das
auf der Strasse verkehrende Publikum durch den T rambetrieb verursachten
erhöhten Gefahren rechtfertigt es sich, die Tramunternehmung auch dann
haften zu lassen, Wenn zwar den durch einen derartigen Zusammenstoss
Verunfallten ein Selbstverschulden trifft, es sich hiebei aber mehr nur um
ein augenblickliches Versehen, eine momentane Unaufmerksamkeit handelt,
d. h. um eine Erscheinung, mit der nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge
beim Strassenverkehr in der Stadt gerechnet werden muss. Bei Unfällen
dieser Art ist der Erfolg als durch die Gefährlichkeit des Betriebes
begünstigt anzusehen und diese als rechtlich relevante Mitursachc zu
werten (vgl. BGE 33 II S. _22 ff. ; S. 500 f. Erw. 4; 34 II S. 453
f. Erw. 8; 35 II S. 21 f. Erw. 3; 37 II S. 466 f. Erw. 4). Diese
Voraussetzungen liegen hier vor. Eine Strassenhahnunternehr'nung,
die ihre Tramzüge auf Strassen verkehren lässt, in welche abschüssige,
schmale Seitenstrassen einmünden, muss damit rechnen (besonders wenn die
Geleise auf der Strassenseite liegen, wo jene Einmündungen sind), dass
gelegentlich Fussgänger oder Fahrer, die von einer solchen Seitenstrasse
herkommen, in momentaner Unachtsamkeit unerwartet, kurz vor dem Herannahen
eines Tramzuges, die Geleise überqueren; dies besonders dann, wenn, Wie
dies hier der Fall war, unmittelbar vorher zwei Tramwagen bezw. Tramzüge'
sich gekreuzt haben. In

Eisenbahnhaftpflicht. N° 1 6. 87

einer solchen Situation, wie sie hier verlag, liegt eine derartige Häufung
von Gefahrsmomenten, dass auch bei grobem Verschulden des Verunfallten die
durch den Trambetrieb geschaffene erhöhte Betriebsgefahr als rechtlich
relevante Mitursache nicht vollständig ausgeschlossen werden kann,
solange das unsachgemässe Verhalten des betreffenden Verunfallten nicht
direkt auf besonders grobe Unachtsamkeit bezw. Leichtsinn zurückzuführen
ist. Das kann hier jedoch nicht angenommen werden. Aus den Aussagen des
Zeugen Weber ergibt sich nämlich, dass Eigenmann der nicht etwa den
Ruf eines ausgesprochenen Schnellfahrers genoss kurz vor dem Unfall
noch in mässigem Tempo gefahren ist. Die Vermutung liegt daher nahe,
dass er wie auch der Zeuge Weber glaubt bei der Unfallstelle deshalb ein
rascheres Tempo angeschlagen hat, weil er durch ein schnelles Überqueren
der Geleise der ihm drohenden Gefahr eines Zusammenstosses mit dem von
ihm wegen der Unübexsichtlichkeit des Ortes zu spät entdeckten Tramzuge
entgehen zu können hoffte, ein Verhalten, das wohl unsachgemäss und
regelwidrig war, das aber, wenigstens zum Teil, auf die infolge des
Zusammentreffens von verschiedenen Gefahrsmomenten bei ihm enstandene
Verwirrung zurückzuführen ist.

VII. Schuldbetreibungs und KONKURSRECHT

POURSUITE ET FAILLLTE

Vgl. III. Teil Nr. 10. Voir III partie n° 10.

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Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 53 II 84
Datum : 02. Februar 1927
Publiziert : 31. Dezember 1927
Quelle : Bundesgericht
Status : 53 II 84
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : 84 Eisenbahnhaftpflieht. N° 16. Rentenbeträgen zugemutet werden, nämlich im Umfange


Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
selbstverschulden • weiler • fahrender • betriebsgefahr • zeuge • verhalten • bundesgericht • vorinstanz • politische gemeinde • kantonsgericht • gefahr • wert • schuldbetreibungs- und konkursrecht • ehg • basel-stadt • erste instanz • gewicht • uhr • tag • hauptstrasse
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