440 Familienrecht. N° 76.

76. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 8. Dezember 1927
i. S. Betst-er gegen Meister.

Versöhnung während des Scheidungsstreit e s : Art. 137 Abs. 3 ; 138 Abs. 3
und 142 ZGB : Schriftliche Versöhnungserklärung; sie gilt als freiwillig
gewollt, wenn die Ehegatten nachher die geschlechtlichen Beziehungen
wieder aufnehmen. Trotz der Versöhnung kann die Scheidungsklage, wenn
auch nicht wegen Ehebruchs und Misshandlung, so doch wegen tiefer
Zerrüttnng aufrechterhalten werden. Mit Rücksicht auf die Versöhnung
ist jedoch regelmässig anzunehmen, die Zerrütung sei nicht so tief,
dass den Ehegatten die Fortsetzung der ehelichen Gemeinschaft nicht mehr
zugemutet werden dürfe. '

Es ist materiellen Rechts und darum vom Bundesgericht zu überprüfen, ob
eine Versöhnung zwischen den Parteien stattgefunden hat, und welches ihre
Folgen sind. Auf Grund der tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanzen
ist an der Versöhnung nicht zu zweifeln. Danach hat sich die Klägerin
nach der schriftlichen Versöhnungserklärung zweimal dem Beklagten
gesehlechtlich hingegeben und zwar freiwillig und gewollt, da sie sich
zu diesem Zwecke in die Wohnung ihres Mannes begeben hat. Das lässt den
Rückschluss zu, dass auch die Versöhnungserklärung ihrem freien Willen
entsprach. Sie hat denn auch nachher erklärt, sie habe es mit dem Manne
noch einmal versuchen wollen. Durch diese Versöhnung ist der Klägerin
die Berufung auf den Ehebruch des Beklagten und die von ihm erlittene
Misshandlung abgeschnitten (Art. 137 Abs. 3 und 138 Abs. 3 ZGB).

Dagegen hindert sie die Versöhnung, nachdem es zum Rückzug der Klage
nicht gekommen ist, keineswegs, eine trotzdem tatsächlich bestehende
Zerrüttung der Ehe geltend zu machen, dem Beklagten das Verschulden am
Zerwiirfnis beizulegen und deshalb Scheidung zu verlangen. Denn aus dem
Zustand der Zerrüttung entsteht fortwährend das Recht auf Scheidung

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und das Verschulden als Ursache bestehender Zerrüttung wird durch
Verzeihung nicht ungeschehen gemacht. Etwas anderes ist es, dass
regelmässig in der Verzeihung ein entscheidendes Indiz dafür zu finden
ist, dass die Zerrüttung nicht in einem Grade vorhanden ist, wie ihn
Art. 142 ZGB zur Scheidung verlangt, nämlich so tief, dass den Ehegatten
die Fortsetzung der ehelichen Gemeinschaft nicht mehr zugemutet werden
kann. Wenn sich eine Frau, wie hier geschehen ist, zu einer schriftlichen
Versöhnungserklärung bereit findet, dann mit dem Ehemanne, obwohl sie
bereits getrennt leben, die Nacht zubringt und darauf noch ein weiteres
Mal zu diesem Zwecke sich in seine Wohnung begibt, so ist es schwer
anzunehmen, dass sie innerlich vom Manne losgelöst sei. Dafür ist gerade
ihre Behauptung ein weiteres lndiz, dass sie sich infolge der Drehung
des Mannes mit Selbstmord zur Unterzeichnung der Versöhnung-Erklärung
genötigt gefühlt habe ; denn diese Drohung würde doch wohl jeden Eindruck
auf sie verfehlt haben, wenn sie sich nicht noch mit dem Manne verbunden
gefühlt hätte. si
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 53 II 440
Datum : 08. Dezember 1927
Publiziert : 31. Dezember 1927
Quelle : Bundesgericht
Status : 53 II 440
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : 440 Familienrecht. N° 76. 76. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 8.


Gesetzesregister
ZGB: 137  138  142
Stichwortregister
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