432 Prozessrecht. N° 73.

tonale Gericht hat die Sache hinsichtlich des ·Erhreehtsanspruches zur
Beweisergänzung an die erste Instanz zurückgewiesen, die Lohnforderung
aber abgelehnt. Auf die gegen die Abweisung der Lohnforderung erklärte
Berufung ist das Bundesgericht nicht eingetreten.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

' Das angefochtene Urteil hat nur über das eine der beiden eingeklagten
Rechtshegehren entschieden, das andere aber zur Beweisergänzung an die
erste Instanz zurückgewiesen. Ein solches'Urteil ist kein Haupturteil,
zu dessen Begriff nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts erforderlich
ist, dass es über den ganzen Rechtstreit endgültig entscheide (BGE 30 II
479
). Freilich betrachtet das Bundesgericht auch solche Urteile, die nur
über einen Teil der mit der Klage geltend gemachten Begehren erkennen,
dann ,als Haupturteil, wenn die nicht beurteilten Fragen im Laufe des
Prozesses in ein besonderes Verfahren verwiesen worden sind (BGE 30 II
458
; 41 II 696 E. 2; 46 II 218 E. 1). Allein diese Voraussetzung-trifft
hier nicht zu : für das noch nicht entschiedene Begehren ist lediglich
eine Beweisergänzung im nämlichen Verfahren vorbehalten werden. Erst
wenn die Vorinstanz (oder auch die erste Instanz, falls ihr Urteil
über. das zurückgewiesene Begehren nicht an die Vorinstanz weitergengen
werden sollte), über dieses Begehren endgültig entschieden haben wird,
kann gegen das heute vorliegende Erkenntnis über das andere Begehren im
Zusammenhang mit der ganzen Streitsache die Berufung an das Bundesgericht
erklärt Werden. Heute ist die. Berufung verfrüht. -

_,._ W -, ..-.szW. ... _;,V ... ...,

Eisenhamshaftpflicht. N° 74; 433

VL EISENBAHNHAFTPFLICHT

RESPONSABILITÉ CIVILE DES CHEMINS DE FER

74. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteiiung vom 3. November 1927
i. S. Elektrische Strassenbau Zürich-Gerlikon-Seebach gegen Huber. ss

Eisenbahnhaf'tpilicht. Tramunfall.

Selbstverschulden eines Fussgängers, der ohne vorher Umschau zu halten das
Geleise einer Strassenbahn betrat und infolgedessen von einem in langsamem
Tempo daher-fahrenden Tramwagen erfasst und zu Boden geworfen-wurde
(Erw.1).

Teilweiser Ausschluss des Seibstverschuldens wegen verminderter
Zurechnungsfähigkeit (infolge Psychopathie) des Verunfallten (Erw. 2).

Bewertung der verminderten Zurechnungsfàhigkeit bei der Schadensberechnung
an Hand eines Expertengutachtens durch die kantonale Instanz. Stellung
des Bundesgerichtes zu diesem Berechnungsmodus (Erw. 3).

EHG Art. 1 und 5.

Aus dem Tatbestand. Am 6. Juli 1924 19.20 Uhr wurde Rudolf Huber,

. Bankkommis in Zürich, bei der Einmündung der Kanzlei-

strasse in die Zürcherstrasse in Oerlikon, als er das auf der Ostseite
der Strasse liegende Tramgeleise überschreiten bezw. auf diesem Geleise
nach dem vom Bahnhof Oerlikon her erwarteten Tramwagen Ausschau halten
wollte, von einem von Zürich herkommenden Strassenbahnwagen erfasst
und zu Fall gebracht, wobei er eine Gehirnerschütterung nebst einem
Schädeibruch erlitt.

Die von Huber gegen die Strassenhahngesellschaft erhobene Klage auf
vollen Ersatz des ihm durch den Unfall entstandenen Schadens wurde durch
das Bundesgericht teilweise geschntzt *434 Einsebahnhaftpflicht. N° 74 .

Aus den Erwägungen.

1. Die Beklagte bestreitet jede Schadenersatzpflieht, weil der fragliche
Unfall ausschliesslich durch das Verschulden des Klägers verursacht
worden sei, während der Kläger seinerseits jegliches Selbstverschulden
verneint und daher Ersatz des vollen ihm durch den streitigen Unfall
entstandenen Schadens verlangt. Keiner der beiden Auffassungen kann
beigepflichtet werden. Zwar ist richtig, dass der Kläger in kopfloser
Weise sich auf das Geleise des von Zürich herannahenden 'lramwagens
begeben hat; wurde doch von verschiedenen Zeugen festgestellt, dass er
von der Kanzleistrasse herkommend,

_'ohne auf dem Trottoir anzuhalten und sich vorher umzusehen, die
Fahrbahn betreten habe, (1. h. sozusagen direkt in den fraglichen
Tramwagen hineingelaufen sei. Dass in einem solchen, die elementarsten
Vorsichtsmassregeln missachtenden Verhalten eine grobe Fahrlässigkeit
erblickt werden muss, bedarf keiner weiteren Erörterung. Auch lässt sich
dieses Verhalten dadurch nicht entschuldigen, dass unmittelbar vor dem
Unfall noch viele andere Personen die Strasse überschritten hatten. Der
fragliche Tramwagen fuhr damals festgestelltermassen in einem äusserst
langsamen Tempo (zirka 8-10 Stundenkilometer), wobei der Vagenführer
ständig Glockensignale gab ;'auch war der Tramwagen nach übereinstimmender
Zeugenaussage von der Trottoirstelle aus, von der der Kläger die Geleise
betreten hatte, leicht sichtbar. Von einer Überraschung des Klägers kann
daher keine Rede sein. Zudem hatte. der Umstand, dass vorher noch Viele
andere Personen die Strasse überschritten hatten, dieser Menschenstrom
aber plötzlich anhielt und die Fahrbahn frei liess, den Kläger auf
die ihm drohende Gefahr noch besonders aufmerksam machen müssen. Ein
Gedränge herrschte festgestelltermassen nicht, so dass die Behauptung,
der Kläger sei sozusagen auf die Fahrbahn,hinausgeschoben

Eisenbahnhafipflicht. N° 74. 435

worden, nicht zutrifft Unter diesen Umständen käme auch das Bundesgericht
dazu, das Verhalten des Klägers, wenn dieser im Momente des Unfalls
geistig vollständig normal gewesen wäre, als derart grob unachtsam zu
erklären, dass ihm das ausschliessliche Verschulden an der Entstehung
des Unfalles zugeschrieben werden müsste.

2. Nun hat aber die Vorinstanz, in Übereinstimmung mit der untern
kantonalen Instanz, auf Grund eines psychiatrischen Expertengutachtens
festgestellt, dass der Kläger schon vor dem Unfall ein erheblich stark
belasteter Psychopath schizoider Art gewesen sei und dass sein Zustand
auf die Gestaltung seines Verhaltens im Momente des Herannahens der
beiden von entgegengesetzten Richtungen herkommenden Tramwagen einen
so erheblichen Einfluss ausgeübt habe, dass dadurch seine Fähigkeit,
auf den von Zürich her-kommenden Tramwagen zu achten, stark vermindert
werden sei. Diese Feststellung ist tatsächlicher Natur und daher
für das Bundesgericht verbindlich. Daraus ergibt sich aber, dass dem
Kläger iin Momente des Unfalles die v elle Urteilsfähigkeit, d. h. die
Fähigkeit vernunktgemäss zu handeln, gemangelt hat; es'kann ihm daher
sein unvernünftige-s Verhalten nur teilweise zum Verschulden angerechnet
werdenInfolgedessen muss die Klage grundsätzlich gutgeheissen werden, doch
ist die Entschädigung gemäss Art. 5 EHG entsprechend herabzusetzen.3. Die
Vorinstanz hat im Hinblick auf die Obwaltenden Umstände dem Kläger
60 % des ihm durch den Unfall entstandenen Schadens zuerkannt. Das
Bundesgericht hat keinen Anlass, diesen Verteilungsmodus zu ändern,
zumal da es sich hiebei ausschliesslich um eine Bewertung des Masses
der Verminderung, die die Urteilsfähigkeit des Klägers durch die bei ihm
verhandene Psychopathie erfahren hat, handelt, also um eine Feststellung,
die derart eng mit der vom Tatsachenrichker endgültig zu entscheidenden
Frage nach dem Umfange-

436 Eisenhahuhaftpflieht. N° 74.

der Beschränkung des geistigen Reaktionsvermögens des Klägers
zusammenhängt, dass der Berufungsrichter . hievon ohne zwingende
Gründe nicht abweichen soll. Zu einer Abänderung der von der Vorinstanz
vorgenommenen Bemessung besteht auch nicht etwa deswegen ein Anlass,
weil der Experte in seinem Gutachten erklärt hat, dass die Psychopathie
des Klägers einen so erheblichen Einfluss auf sein Verhalten im Momente
des Unfalles ausgeübt. habe, dass dadurch seine Fähigkeit, auf den von
Zürich herkommenden Tramwagen zu achten, ganz ausgeschaltet oder doch
stark vermindert gewesen sei. Die Vorinstanz hat hierin mit Recht einen
Widerspruch erblickt, den sie aber dadurch beseitigte-, dass sie. (wozu
sie, ohne dadurch ein Aktenwidrigkeit zu begehen, berechtigt war) sich
für die letztere Alternative entschloss, d. h, die Reaktionsfähigkeit
des Klägers im Momente des Unfalles nur zum Tei} als durch seine
Psychopathie ausgeschaltet erachtete. Diese Feststellung die übrigens
wohl den Tatsachen entspricht ist für das Bundesgericht verbindlich.

vn. Schuldbetreibungs und nennensREckIT

POURSUITE ET FALLLITE

Vgl. III. Teil Nr. 44-46. Voir me partie, nos 44 a 45.

I. FAMILIENRECHT DROIT DE LA FAMILLE75. Auszug aus dem Urteil der
II. Zivilabteilung vom 25. November 1927 i. S. Pfister gegen Waisensmt
Tuggen. Art/374 ZGB. Anhörung des zu Bevormundenden:

Blosse Verwarnung genügt nicht. Eröffnung der einzelnen Tatsachen,
gestützt auf welche die Entmündlgung ausgesprochen werden
soll. -Wann ist dem zu Bevormundenden genügend Gelegenheit gegeben,
die Beweisanträge für die Ablehnung seiner Entmündigung anzubringen
'? Es ist nicht erforderlich, dass ihm jedes einzelne Beleg schon
vor dem Entmündigungsbeschluss vorgelegt werde, sofern ihm nur im
Beschwerdeverfahren die Möglichkeit geboten wird, sich darüber zu äussern.

Zu Unrecht behauptet die Beschwerdeführerin, sie sei vom 'Waisenamt
Tuggen entgegen der Vorschrift des Art. 374
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 374 - 1 Wer als Ehegatte, eingetragene Partnerin oder eingetragener Partner mit einer Person, die urteilsunfähig wird, einen gemeinsamen Haushalt führt oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet, hat von Gesetzes wegen ein Vertretungsrecht, wenn weder ein Vorsorgeauftrag noch eine entsprechende Beistandschaft besteht.
1    Wer als Ehegatte, eingetragene Partnerin oder eingetragener Partner mit einer Person, die urteilsunfähig wird, einen gemeinsamen Haushalt führt oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet, hat von Gesetzes wegen ein Vertretungsrecht, wenn weder ein Vorsorgeauftrag noch eine entsprechende Beistandschaft besteht.
2    Das Vertretungsrecht umfasst:
1  alle Rechtshandlungen, die zur Deckung des Unterhaltsbedarfs üblicherweise erforderlich sind;
2  die ordentliche Verwaltung des Einkommens und der übrigen Vermögenswerte; und
3  nötigenfalls die Befugnis, die Post zu öffnen und zu erledigen.
3    Für Rechtshandlungen im Rahmen der ausserordentlichen Vermögensverwaltung muss der Ehegatte, die eingetragene Partnerin oder der eingetragene Partner die Zustimmung der Erwachsenenschutzbehörde einholen.
ZGB über die ihr zur
Last gelegten Entmündigungsgründe nicht angehört worden. Zwar ist
richtig, dass in der Anzeige vom 3. Mai 1927, worin der Gemeinderat
Tuggen der Beschwerdeführerin ihre Bevormundung zur Kenntnis brachte,
der Entmigungsgrund nicht ausdrücklich angegeben war. Allein
die Beschwerdeführerin hat aus den Entmündigungsverhandlungen, 'die
bereits im Dezember 1926 begonnen haben, die ihr zur Last gelegten
Entmündigungsgründe genau gekannt. Sie hatte seinerzeit von ihrem Bruder,
der wegen Geisteskrankheit unter Vormundschaft steht, ihr Heimwesen
gekauft und das 'Waisenamt wiederholt um Nachlass ihrer rückständigen
Grundpfandzinse er-

sisucht; bei Anlass einer solchen Verhandlung eröffnete

ihr das Waisenamt, vor dem sie mit ihrem Anwalt er-

si schienen war, laut dem Verhandlungsbericht vom 16.

AS 53 II 1927 31
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 53 II 433
Datum : 03. November 1927
Publiziert : 31. Dezember 1927
Quelle : Bundesgericht
Status : 53 II 433
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : 432 Prozessrecht. N° 73. tonale Gericht hat die Sache hinsichtlich des ·Erhreehtsanspruches


Gesetzesregister
EHG: 5
ZGB: 374
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 374 - 1 Wer als Ehegatte, eingetragene Partnerin oder eingetragener Partner mit einer Person, die urteilsunfähig wird, einen gemeinsamen Haushalt führt oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet, hat von Gesetzes wegen ein Vertretungsrecht, wenn weder ein Vorsorgeauftrag noch eine entsprechende Beistandschaft besteht.
1    Wer als Ehegatte, eingetragene Partnerin oder eingetragener Partner mit einer Person, die urteilsunfähig wird, einen gemeinsamen Haushalt führt oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet, hat von Gesetzes wegen ein Vertretungsrecht, wenn weder ein Vorsorgeauftrag noch eine entsprechende Beistandschaft besteht.
2    Das Vertretungsrecht umfasst:
1  alle Rechtshandlungen, die zur Deckung des Unterhaltsbedarfs üblicherweise erforderlich sind;
2  die ordentliche Verwaltung des Einkommens und der übrigen Vermögenswerte; und
3  nötigenfalls die Befugnis, die Post zu öffnen und zu erledigen.
3    Für Rechtshandlungen im Rahmen der ausserordentlichen Vermögensverwaltung muss der Ehegatte, die eingetragene Partnerin oder der eingetragene Partner die Zustimmung der Erwachsenenschutzbehörde einholen.
BGE Register
30-II-453 • 30-II-477 • 41-II-693 • 46-II-213
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
bundesgericht • verhalten • vorinstanz • psychopathie • schaden • erste instanz • frage • selbstverschulden • weiler • ehg • richtigkeit • strasse • zeuge • entscheid • verfahren • sachverständiger • verminderte zurechnungsfähigkeit • uhr • strassenbahn • grobe fahrlässigkeit
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