276 Staatsrecht.

III. STIMMRECHT, KANTONALE WAHLEN UND ABSTIMMUNGEN

DROIT DE VOTE, ÉLECTIONS ET VOTATIONS CANTONALES.

38. Urteil vom 8. Juli 1927 i. S. Petermann und Genossen gegen
Regierungsrat Luzern.

Der Ort der Stimmrechtsausübung wird auch für kantonale und nicht
bürgerliche Gemeindeangelegenheiten verbindlich durch den Wohnsitz im
Sinne von Art. 43
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 43 Aufgaben der Kantone - Die Kantone bestimmen, welche Aufgaben sie im Rahmen ihrer Zuständigkeiten erfüllen.
BV bestimmt. Begriff des politischen Domizils nach
dieser Verfassungsbestimmung. Wo befindet es sich für Studierende
(Insassen eines katholischen Priesterseminars) ?

* Nach Art. 27, 88 der luzernischen Staatsverfassung und § 8 des
luzernischen Wahlgesetzes vom 31. Dezember 1918 wird das Stimmrecht
in kantonalen Angelegenheiten und für Angelegenheiten der politischen
Gemeinden ausschliesslich in der Wohngemeinde ausgeübt. Als Wohngemeinde
ist diejenige Gemeinde anzusehen, in der der betr. Bürger in den letzten
drei Monaten vor der Wahl oder Abstimmung seinen ununterbrochenen
gesetzlich regulierten W o h n s i t z gehabt hat . Im Anschluss hieran
bestimmt ,5 9 des Wahlgesetzes: Der Wohnsitz befindet sich an dem Orte,
wo jemand sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält Niemand kann
an mehreren Orten zugleich seinen Wohnsitz haben. Nicht als Wohnsitz gilt
der Ort, wo jemand sich bloss zu besonderen Zwecken (Kur , Studien-,
Erwerbszwecken usw.) aufhäit. Die §§ 2 und 3 des Gesetzes über das
Niederlassungswesen vom 30. Mai 1894 schreiben vor, dass jeder, der
mehr als einen Monat in einer Luzernischen Gemeinde wohnen will, seinen
Wohnsitz in

* Gekürzter Tatbestand.Stimmrecht, kantonale Wahlen und Abstimmungen. N°
38. 277

derselben nach Massgabe dieses Gesetzes zu ordnen habe, Schweizerbürger
durch Abgabe eines Heimatscheins oder einer gleichbedeutenden
Ausweisschrift bei der Gemeinderatskanzlei der Wohngemeinde. Vorbehalten
ist der Aufenthalt in Gasthäusern und Pensionen oder bei Verwandten zu
Besuch in dem Sinne, dass hier die Verpflichtung zur Schriftenhinterlegung
erst nach dreimonatlichem Aufenthalt eintritt.

Bei Auflegung des allgemeinen Stimmregisters des Jahres 1927 in
der Gemeinde Luzern im Januar 1927 erhob sich-ein Anstand über die
Stimmberechtigung der Insassen des römisch-katholischen Priesterseminars
Luzern. Vier in Luzern stimmberechtigte Bürger, die heutigen Rekurrenten
Petermann, Schnjder, Sidler und Bucher verlangten die Streichung der
Seminaristen vom Register, weil sie nach dem Zwecke ihres Wohnens
in Luzern Besuch einer Lehranstalt hier keinen Wohnsitz hätten und
infolgedessen auch nicht stimmen könnten. Sämtliche Betroffene hatten
nach dem Eintritt in die Anstalt in Luzern ihre Ausweisschriften
hinterlegt. Auf die Einspraehe gegen ihre Stimmherechtigung gaben
sie ferner dem Stadtrat die Erklärung ab, auf die weiter unten Bezug
genommen werden wird. Ferner verlangten sie an ihrem früheren Wohnorte
die Abtragung vom Stimmregister, soweit sie darauf nicht schon gestrichen
waren. Trotzdem hiess der Stadtrat von Luzern das Begehren von Petermann
und Genossen unter Berufung auf § 9 des Wahlgesetzes gut. Auf Beschwerde
der Seminaristen ordnete indessen der Regierungsrat von Luzern durch
Entscheid vom 25. April 1927 deren Wiederauftragung im luzernischen
Stimmregister an. Im gleichen sinne hatte er schon in einem früheren
Rekursfalle vom Jahre 1907 unter der Herrschaft des alten 'Wahlgesetzes
von 1892 erkannt.

Einen staatsrechtlichen Rekurs von Petermann und

Genossen gegen den Entscheid vom 25. April 1927

hat das Bundesgericht a b g e w i e s e n. ·

278 . Staatsreeht. G r ü n d e : I. Die Beschwerdelegitimation der
Rekurrenten

wird vom Regierungsrat und den Rekursbeklagten mit Recht nicht
bezweifelt. Der Anspruch des einzelnen Stimmberechtigten auf Ausschluss
Nichtstimmberechtigter von der Stimmabgabe besteht schon gegenüber
der Anerkennung des Stimmrechts durch Auftragung oder Belassung im
Stimmregister. Es braucht für die Beschwerdeführung nicht die Teilnahme
der betreffenden Personen an einer bestimmten Wahl oder Abstimmung
abgewartet zu werden (BGE 38 I 468 Erw. 1 ; 53 I 122 Erw. 2 mit Zitaten).

2. Die Ausübung des Stimmrechts aber ist nicht nur für eidgenössische,
sondern auch für kantonale und nicht bürgerliche -Gemeindeangelegenheiten
insofern einheitlich geordnet, als sie kraft Bundesrecht, Art. 43
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 43 Aufgaben der Kantone - Die Kantone bestimmen, welche Aufgaben sie im Rahmen ihrer Zuständigkeiten erfüllen.
BV
nur am Wohnsitze im Sinne dieser Bestimmung erfolgen darf (ebenda 38
I 469
Erw. 2 ff.). Wie danach die Stimmabgabe an einem andern Orte
bundesrechtlieh ausgeschlossen ist, so gehört auch der Begriff des
politischen Wohnsitzes selbst in jenem Sinne dem eidgenössischen Recht
an. Die kantonale Gesetzgebung kann ihn weder erweitern, indem sie
als an einem Orte domiziliert auch Personenkategorien behandelt, die
die hiefür bundesrechtlich nötigen Erfordernisse nicht erfüllen, noch
dadurch einengen, dass sie anderen Kategorien trotz Vorliegens jener
Erfordernisse das Stimmrecht mangels Domizils abspricht (a. s a. O. 49
I 429
Erw. 2). Auch im vorliegenden Falle ist infolgedessen die Frage,
ob die Rekursbeklagten nach der Art ihrer Beziehungen zu Luzern dort die
Stimmberechtigung besitzen, vom Bundesgericht frei und selbständig anhand
der bundesrechtliehen Grundsätze zu entscheiden. Es handelt sich nicht,
wie der Regierungsrat anzunehmen scheint, lediglich um die Auslegung
kantonalen Gesetzesrechts, nämlich des § 9 des luzernischen Wahlgesetzes,
die vom Bundesgericht" nur aus dem Gesichtspunkte desStimmrecht, kantonale
Wahlen und Abstimmungen. N° 38. 279

Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV, der Willkür und Missachtung klaren Rechts nachzuprüfen
Wäre. Nur soweit die kantonalgesetzliche Umschreibung des Wohnsitzes
mit der aus Art. 43
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 43 Aufgaben der Kantone - Die Kantone bestimmen, welche Aufgaben sie im Rahmen ihrer Zuständigkeiten erfüllen.
BV sich ergebenden übereinstimmt, kann sie eben
Anspruch auf Bestand haben. Erfüllen die Rekursbeklagten die durch diese
Verfassungsnorm geforderten'Voraussetzungen des politischen Wohnsitzes,
so darf ihnen andererseits auch die Stimmberechtigung in Luzern trotz
jener kantonalen Gesetzesbestimmung nicht abgesprochen werden.

3. Der Ausdruck Wohnsitz gehört der Rechtssprache und zwar zunächst
derjenigen des Zivilrechts an. Er pflegt hier das Wohnen in der Absicht
der Begründung von Verbindungen von einer gewissen Intensität und
Dauer, den Ort zu bezeichnen, wo sich der Mittelpunkt der Beziehungen
und Interessen einer Person befindet. Es ist anzunehmen, dass auch in
Art. 43
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 43 Aufgaben der Kantone - Die Kantone bestimmen, welche Aufgaben sie im Rahmen ihrer Zuständigkeiten erfüllen.
BV das Wort in diesem hergebrachten Sinne verwendet ist, so
dass der politische Wohnsitz in d e r R e g el mit dem zivilrechtlichen
im Sinne von Art. 23 ff
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 23 - 1 Der Wohnsitz einer Person befindet sich an dem Orte, wo sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält; der Aufenthalt zum Zweck der Ausbildung oder die Unterbringung einer Person in einer Erziehungs- oder Pflegeeinrichtung, einem Spital oder einer Strafanstalt begründet für sich allein keinen Wohnsitz.23
1    Der Wohnsitz einer Person befindet sich an dem Orte, wo sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält; der Aufenthalt zum Zweck der Ausbildung oder die Unterbringung einer Person in einer Erziehungs- oder Pflegeeinrichtung, einem Spital oder einer Strafanstalt begründet für sich allein keinen Wohnsitz.23
2    Niemand kann an mehreren Orten zugleich seinen Wohnsitz haben.
3    Die geschäftliche Niederlassung wird von dieser Bestimmung nicht betroffen.
. ZGB zusammenfallen wird. Auf diesen Boden hat
sich denn auch das Bundesgericht in Übereinstimmungmit der herrschenden
Auffassung in dem zuletzt angeführten Urteile gestellt. Immerhin ist die
Übereinstimmung keine absolute. Es müssen dabei gewisse Abweichungen
vorbehalten bleiben, die durch die Verschiedenheit der Materie und
den besonderen Zweckgedanken des Art. 43
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 43 Aufgaben der Kantone - Die Kantone bestimmen, welche Aufgaben sie im Rahmen ihrer Zuständigkeiten erfüllen.
BV geboten sind. So wird der
Grundsatz des Art. 24 Abs. 1
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 24 - 1 Der einmal begründete Wohnsitz einer Person bleibt bestehen bis zum Erwerbe eines neuen Wohnsitzes.
1    Der einmal begründete Wohnsitz einer Person bleibt bestehen bis zum Erwerbe eines neuen Wohnsitzes.
2    Ist ein früher begründeter Wohnsitz nicht nachweisbar oder ist ein im Ausland begründeter Wohnsitz aufgegeben und in der Schweiz kein neuer begründet worden, so gilt der Aufenthaltsort als Wohnsitz.
ZGB, wonach der einmal begründete Wohnsitz
trotz tatsächlicher Preisgabe bis zum Erwerbe eines neuen rechtlich
fortbesteht, gleichwie im interkantonalen Steuerrecht (BGE 52 I S. 23),
auch auf dem Gebiete'der Ausübung der politischen Rechte keine Anwendung
finden können. Auch mag unter Umständen grösseres Gewicht als auf die
Dauer und Intensität der Beziehungen zum neuen Aufenthaltsorte darauf
zu legen sein, dass die Beziehungen zum bisherigen Wohnorte gelöst oder

280 Staatsreeht.

doch derart gelockert worden sind, dass sie vor den neu
begründeten zurücktreten {vgl. nach beiden Richtungen BURCKHARDT,
Komm. 2. Aufl. S. 372/3). Eine weitere Abweichung hat bereits die
Rechtsprechung des Bundesrates eintreten lassen. Schon Art. 3 Abs. 2
des BG über die zivilrechtlichen Verhältnisse der Niedergelas-senen und
Aufenthalter enthielt die mit dem heutigen Art. 26
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 26 - Volljährige unter umfassender Beistandschaft haben ihren Wohnsitz am Sitz der Erwachsenenschutzbehörde.
ZGB übereinstimmende
Vorschrift, dass der Aufenthalt an einem Orte zum Zwecke des Besuches
einer Lehranstalt keinen Wohnsitz hegründe; trotzdem wurde den
Studierenden unter der Voraussetzung der Erwirkung der polizeilichen
Niederlassungsbewilligung am Studienorte dort auch die Stimmberechtigung
zuerkannt. Die Stimmrechtsausübung wurde also nicht etwa

davon abhängig gemacht, dass neben den Studienzwecken.

noch andere engere Verbindungen mit dem betreffenden Orte bestehen,
welche ihn als den Mittelpunkt der Beziehungen derPerson und damit
als Wohnsitz auch im zivilrechtlichen Sinne erscheinen lassen, was
denkbar und denn auch vom Bundesgericht in zwei Fällen, wo es sich um
das Steuerdomizil und den Gerichtsstand nach Art. 59
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 59 Militär- und Ersatzdienst - 1 Jeder Schweizer ist verpflichtet, Militärdienst zu leisten. Das Gesetz sieht einen zivilen Ersatzdienst vor.
1    Jeder Schweizer ist verpflichtet, Militärdienst zu leisten. Das Gesetz sieht einen zivilen Ersatzdienst vor.
2    Für Schweizerinnen ist der Militärdienst freiwillig.
3    Schweizer, die weder Militär- noch Ersatzdienst leisten, schulden eine Abgabe. Diese wird vom Bund erhoben und von den Kantonen veranlagt und eingezogen.
4    Der Bund erlässt Vorschriften über den angemessenen Ersatz des Erwerbsausfalls.
5    Personen, die Militär- oder Ersatzdienst leisten und dabei gesundheitlichen Schaden erleiden oder ihr Leben verlieren, haben für sich oder ihre Angehörigen Anspruch auf angemessene Unterstützung des Bundes.
BV handelte, nach
den besonderen Umständen des Falles für Studenten angenommen worden ist
(BGE 20 S. 714; 32 I S. 76). Vielmehr ist es dem Willen des Studenten
überlassen worden zu entscheiden, mit welchem der beiden Orte, dem
Studienort oder dem Wohnorte seiner Eltern, wohin er ausser des Semesters
zurückkehrt, er sich als dauernder, fester verbunden betrachten will,
und durch eine polizeiliche Ordnung seiner Verhältnisse, welche der
Absicht eines nicht bloss vorübergehenden Verweilens entspricht, nämlich
durch das Verlangen nach einer Niederlassungshewilligung im Gegensatz
zu einer blossen Aufenthaltsbewilligung dem Wohnen am Studienorte auch
die Wirkung einer Verlegung des politischen Domizils zu verschaffen. In
diesem Sinne hat der Bundesrat schon im Rekursfalle Bielmann (BBl. 1896
II S. 788
) für Freiburger Studenten ent-Stimmrecht, kantonale Wahlen
und Abstimmungen. N° 38. 281

schieden, nachdem er früher allerdings in verschiedenen Tessiner
Rekursen aus dem Jahre 1891 die Luganeser Studenten für die Stimmabgabe
an den Wohnsitz ihrer Eltern verwiesen hatte. Er hat daran auch in
der Folge im Falle Rossi (ebenda 1902 V S. 461) und in dem Berichte
zum Rekurse Pagnamenta (a. a. O. 1909 VI S. 469) festgehalten, wo
im übrigen scharf zwischen Niederlassungsund Aufenthaltsbewilligung
einerseits, Wohnsitz andererseits unterschieden wird (während es
sich allerdings in dem weiteren Falle BB]. 1898 V S. 160 betreffend
die Schüler des Kollegium Mariahilf in Schwyz und der Stiftschule
Einsiedeln unmittelbar nur um das Stimmrecht der Aufenthalt-er nach
schwyzerischem Rechte handelte). Tatsächlich werden denn auch in den
schweizerischen Universitätsstädten, wie als notorisch gelten kann und
von den Rekurrenten gegenüber der schon im kantonalen Verfahren von den
Rekursbeklagten aufgestellten entsprechenden Behauptung nicht bestritten
worden ist, die Studenten unter der Voraussetzung des Besitzes der
Niederlassungsbewilligung allgemein als stimrnberechtigt behandelt.

Es hat sich also in der durch die BV der Auslegung anheimgegebenen
besonderen Frage des politischen Wohnsitzes der Studierenden auf
Grund der Rechtsprechung der damals zuständigen Bundesbehörde selbst
seit Jahrzehnten ein fester Rechtszustand herausgebildet. In ihn
einzugreifen kann umsoweniger Sache des Bundesgerichts sein, als sich für
die getroffene Lösung aus der Eigenart der Verhältnisse gerade dieser
Personengruppe hervorgehende Gründe geltend machen lassen, ernstliche
Misstände, welche damit verbunden wären, von den Rekurrenten nicht
haben aufgezeigt werden können und das darin liegende Abgehen von den
rein zivilrechtlichen Grundsätzen auch von der Doktrin gebilligt wird
(vgl. FLElNER, Bundesstaatsrecht S. 302 Nr. 15; ferner BURCKHARDT,
Kommentar S. 274, der ausführt : die tatsächlichen Verhältnisse,
namentlich die mehr

282 Staatsrecht.

oder minder enge Verbindung des Studenten mit dem Elternhaus sprachen
bald für das eine oder andere, d. h. die Verlegung des Wohnsitzes
an denjenigen der Eltern oder an den Studienort ; das Festhalten
an der bundesrätlichen Praxis empfehle sich aber im Interesse der
Rechtssicherheit). Im mehrerwähnten Urteil des Bundesgerichts BGE 49 I
428
, das die Rekurrenten anrufen, handelte es sich um eine andere Frage,
nämlich darum, ob das politische Domizil auch erworben werden könne
durch die Übersiedelung nach einem Orte ausschliesslich in der Absicht
der Teilnahme an einer bestimmten Wahl oder Abstimmung unter Verbleiben
während der hiezu kantonalrechtlich nötigen Zeit (drei Monate) vor dem
Abstimmungstage, was verneint wurde.

Dazu kommt, dasssich gerade die Verhältnisse der Seminaristen, die hier
in Frage stehen, von denjenigen gewöhnlicher Studierender noch wesentlich
im Sinne einer stärkeren und dauernderen Verbindung mit dem Studienorte
unterscheiden. Es steht dem katholischen Theologiestudenten nicht frei
den Studienort: von Semester zu Semester zu wechseln, vielmehr muss
er wenigstens während der letzten zwei Jahreskurse das ordentliche
Diözesanseminar besuchen, das sich für das Bistum Basel in Luzern
befindet. Infolge der Hausordnung des Seminars ist auch die Möglichkeit
von Besuchen im Elternhaus ,ausserhalb der Ferien eine beschränktere als
bei gewöhnlichen Studierenden und die Insassen des letzten Jahreskurses
kehren aller Wahrscheinlichkeit nach an den Wohnort der Eltern überhaupt
nicht mehr anders als rein vorübergehend zurück, weil sie nach der
Priesterweihe vom Bischof nach den Bedürfnissen der Diözese verwendet
und in deren verschiedene Teile entsendet werden. Die Beziehungen zum
elterlichen Heim, soweit ein solches noch besteht, sind demnach in
einem Masse gelockert, dass die vom Regierungsrat der Stimmrechtsfrage
gegebeneLösung auch darum als in den besonderen Verhältnissen begründet
erscheinenStimmrecht, kantonale Wahlen und Abstimmungen. N° 38. 283

lässt, wenn es nicht schon auf Grund der oben erwähnten Praxis für die
Studierenden überhaupt der Fall wäre.

Freilich fordert das luzernische Gesetz über das Niederlassungswesen
in den oben Fakt. A wiedergegebenen Bestimmungen die Hinterlegung der
Ausweisschriften von jedem, der in Luzern mehr als einen Monat sich
aufhalten, nicht nur von demjenigen, der hier Wohnsitz nehmen will,
ohne formell zwischen Niederlassungsund Aufenthaltsbewilligung zu
unterscheiden. Die blosse Schriftenhinterlegung durch die Seminaristen
könnte infolgedessen noch kaum als genügende Äusserung des Willens
gelten, in Luzern Niederlassung mit der daran sich knüpfenden Folge des
Erwerhes des politischen Wohnsitzes haben zu wollen. Die Rekursbeklagten
sind indessen hiebei nicht stehen geblieben. Sie haben dem Stadtrat
von Luzern die ausdrückliche Erklärung abgegeben, dass sie diesen Ort
als ihren Wohnsitz mit allen daraus hervorgehenden Wirkungen angesehen
Wissen wollen und sich dementsprechend an ihrem früheren Wohnorte nicht
mehr als domiZiliert und stimmberechtigt betrachteten. Diese Erklärung
kommt aber inhaltlich einem Verlangen um Bewilligung der Niederlassung
im Gegensatz zu blossem Aufenthalt gleich und muss es deshalb bei der
Eigenart der luzernischen Ordnung des Niederlassungswesens auch in seinen
Wirkungen ersetzen. Dass sie erst auf das Begehren der Rekurrenten um
Abtragung vom Stimmregister abgegeben werden ist, macht nichts aus,
sobald einmal überhaupt die Begründung des politischen Wohnsitzes am
Studienorte in der Weise in den Willen des Studierenden gestellt wird,
wie die Praxis es getan hat. Auch die Einwendung, dass es sich um
eine Art gezwungenen Aufenthaltes handle, dem deshalb die Wirkungen
einer Domizilbegründung nicht zukommen könnten, ist offensichtlich
unrichtig. Wenn die Seminaristen, um die Priesterweihe zu erhalten,
die letzten Jahreskurse im ordentlichen Diözesanseminar zubringen müssen
und hier einer Haus-

AS 53 I 1927 ' ' ' 18

284 staatsrecht-

ordnung unterstehen, so sind sie doch darin, ob sie überhaupt im Seminar
bleiben wollen, durchaus frei. Ihr Aufenthalt hier kann demnach in keiner
Weise mit demjenigen in einer Anstalt verglichen werden, in der jemand
durch für ihn verbindliche Anordnung eines Dritten untergebracht wird.

Selbst wenn ausschliesslich auf die zivilrechtliche Regelung abzustellen
wäre, würde dies übrigens nicht dazu führen die sämtlichen Seminaristen
aus anderen Kantonen und Gemeinden wegen dieser Eigenschaft allein vom
Stimmregister zu streichen. Es müssten die individuellen Verhältnisse
eines jeden untersucht und geprüft werden, ob danach nicht der Studienort
auch zivilrechtlich zugleich als sein Wohnsitz erscheine (vgl. die beiden
bereits erwähnten Urteile BGE 20 S. 714 und 32 I S. 76). In Betracht
fielen dabei namentlich diejenigen Seminaristen es sollen sich solche
unter den heutigen Rekursbeklagten befinden die" keine Elte1n oder doch
keinen Vater mehr besitzen. Ferner wäre zu erWägen, ob jene Folgerung
nicht für die Besucher des ;"Ietzten Jahreskurses auch unabhängig davon
aus den oben angedeuteten Tatsachen gezogen werden müsste.

'u 4. Dass andererseits luzernische Studenten, die an auswärtigen
Universitäten eingeschrieben sind, an den letzten Grossratswahlen
im Kanton Luzern teilgenommen haben, steht nicht im Widerspruch zum
Entscheide des Regierungsrates im vorliegenden Falle, solange nicht
behauptet werden kann, dass die Betreffenden durch Erwirkung der
Niederlassungsbewilligung am Studienort dort politisches Domizil
begründet und dasjenige in den luzernischen Gemeinden verloren
hatten. Die Rekurrenten sind aber nicht in der Lage darzutun, dass
der Regierungsrat, mit einem solchen Falle durch eine Wahleinsprache
befasst, die Stimmrechtsausübung in Luzern gleichwohl als zulässig erklärt
habe. Dasselbe gilt für den Fall des in Bern immatrikulierten Studenten
Curti, der in einem Urnenkreise der Stadt Luzern zumNiederlassungsireiheit
. N° 39. . 285

Mitglied des Wahlbureaus gewählt worden war. Den Fall des
RechtSpraktikanten Dr. Studer aber hat der Regierungsrat seit Einreichung
der Beschwerde im gleichen Sinne erledigt wie den vorliegenden, indem
er durch Entscheid vom 7. Mai 1927 Dr. Studer infolge Erwirkung der
polizeilichen Niederlassung in Luzern entgegen dessen Begehren als hier
und nicht in Escholzmatt stimmberechtigt erklärte.

IV. NIEDERLASSUNGSFREIHEIT

LIBERTÉ D'ÉTABLISSEMENT

39. Urteil vom 14. Oktober 1927 i. S. Schönholzer gegen Zürich.

Art. 45 Abs. 3
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 45 Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes - 1 Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
1    Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
2    Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend über seine Vorhaben; er holt ihre Stellungnahmen ein, wenn ihre Interessen betroffen sind.
BV. Eine Person fällt, auch wenn sie nur kurze Zeit aus
öffentlichen Mitteln unterstützt werden ist, doch dauernd der öffentlichen
Wohltätigkeit zur Last, sofern die Ursache der Unterstützungsbedürftigkcit
nicht in bloss vorübergehenden Umständen liegt. Frage der Wiedergewäh;
rung des entzogenen Niederlassungsrechtes. Die Vermutung spricht für
die Fortdauer der Unterstützungsbedürftigkeit.

A. Die Rekurrentin, Bürgerin von Wynigen (Bern), wohnte früher in Zürich
zusammen mit ihrem ehemaligen Ehemann, Johann Mathys. Im Dezember 1925
verliess sie diesen und führte, mit einem Liebhaber, Johann Ulrich,
umherziehend, ein unstätes Leben, wobei sie oft in einer Scheune die Nacht
zubrachten. Nachdem sie im März 1926 von der Polizei wegen Mittel-und
Arbeitslosigkeit aufgegriffen und Ulrich in seinen Heimatkanton nach
Schwyz, die Rekurrentin nach Zürich (u. a. in die dermatologisehe Klinik)
gebracht worden war, setzten sie ihr gemeinsames Vagabundenleben bald
wieder fort, bis sie am 2. November 1926 wiederum wegen Bettels und
Mittellosigkeit in Horgen
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Document : 53 I 276
Date : 08. Juli 1927
Published : 31. Dezember 1927
Source : Bundesgericht
Status : 53 I 276
Subject area : BGE - Verfassungsrecht
Subject : 276 Staatsrecht. III. STIMMRECHT, KANTONALE WAHLEN UND ABSTIMMUNGEN DROIT DE VOTE,


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1896/II/788