8 Staatsrecht.

III. NULLA POENA SINE LEGE.

3. Urteil vom 28. April 1939 i. S. Neck gegen Staatsanwaltsehait und
()hcrgericht Thurgau.

Nuda poem Sine lege : Wo, wie nach thurgauischem Recht der leichtsinnige
Bankerott ein Sonderdelikt ist, d.h. nur von dem in Konkurs geratenen
Schuldner begangen werden kann, verstösst gegen diesen Grundsatz die
Bestrafung eines Andern als desjenigen, über den der Konkurs eröffnet
worden ist, auch dann, wenn er tatsächlich Geschäftsinhaber war.

Nulla poema eine lege : Lorsque comme en droit thurgovien seul le débiteur
en faillite peut se rendre coupable de banqueroute frauduleuse, il est
contraire au principe susénoncé de condasimner une autre personne que
le failli, meine lor-eque cette personne était en fait proprie-tane
de l'entreprise.

Nulla poema eine lege : Quando, come in diritto turgoviese, la bancarotta.
fraudolenta è un delitto Speciale, cioè non può essere commesso che dal
debitore caduto in fallimento, è contraria al principio sopra enunciato
la condanna di colui che di fatto, ma non di diritto è proprietario
dell'impresa.

A. Das thurgauische Einführungsgesetz zum SchKG bestimmt in § 68 :
Der in Konkurs geratene Schuldner, welcher: a) die durch Gesetz,
Geschäftssitte und Umfang des Geschäftsbetriebes geforderten Bücher
entweder gar nicht oder in solcher Unordnung geführt, dass daraus sein
Vermögensstand nicht ersehen werden konnte, ebenso derjenige, welcher
die übungsgemässen Bücherabschlüsse nicht gezogen ;... macht sich des
leichtsinnigen Bankerotts schuldig und wird nach den Bestimmungen des §
62 dieses Gesetzes bestraft . B. Der im Jahre 1927 von der thurgauischen
Kriminalkammer wegen Betruges, betrügerischen und leichtsinnigen
Bankerottes zu 2 Jahren Arbeitshaus verurteilte Rekurrent Ferdinand
Neef Hungerbühler gründete im Herbst 1932 in Dietlikon (Kt. Zürich) eine
Konservenfabrik. Im Handelsregister wurde die Kommanditgesellschaft Hans
Neef & Cie. als Geschäftsinhaberm ein-Nulla. poena sine lege. N° 3. 9

getragen. Hans Neef, der Sohn des Rekurrenten war unbeschränkt
haftender Gesellschafter. Am 20. Februar 1933 wurde das Unternehmen in
die Einzelfirma (( Hans Neef umgewandelt und am 30. September 1933 nach
Erlen (Kt. Thurgau) verlegt. Ferdinand Neef besorgte die Geschäftsleitung
;ss sein Sohn betätigte sich als Arbeiter. .

C'. Am 3. Dezember 1934 eröffnete das Bezirksgerichif Bischofszell
über die Firma den Konkurs. Auf Veranlassung des Ferdinand Neef, der
den Gläubigern die Bezahlung einer Dividende zusieherte, zogen diese
die Konkurseingaben zurück, sodass der Konkurs widerrufen wurde. Da
der Rekurrent den übernommenen Verpflichtungen nicht nachkam, wurde am
11. September 1936 fiber den inzwischen nach Zürich übersiedelten Hans
Neef der Konkurs neuerdings eröffnet, jedoch bereits am 17. September
1936 mangels Aktiven Wieder als geschlossen erklärt.

D. Auf Strafklage von zwei Gläubigern beschloss die thurgauische
Anklagekammer nach durchgeführt-er Untersuchung am 3. Mai 1938 die
Überweisung der Angeschuldigten wegen leichtsinnigen Bankerottes
event. Gehilfenschaft dazu an das Bezirksgericht Bischofszefl, das
Hans Neef von der Anklage freisprach, den Rekurrenten dagegen zu einer
Arbeitshausstrafe von 9 Monaten verurteilte. Das thurgauische Obergericht
bestätigte auf Appellation hin das erstinstanzliche Urteil mit ,Entscheid
vom 24. Januar 1939.

E. Mit rechtzeitig erhobener staatsrechtlicher Beschwerde beantragt
der Rekurrent die Aufhebung des obergerichtlichen Urteils. Er
macht die Verletzung von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV und § 9 Abs. 2 der thurgauischen
Kantonsverfassungs geltend.

Das Bundesgericht hat die Beschwerde gutgeheissen.

Aus den Erwägungen :

N ach § 68 EG SchKG wird wegen leicht-sinnigen Bankerotts nicht jeder
bestraft, der eine Bankerotthandlung

l O staatsrecht-

begangen hat, sondern nur der in Konkurs geratene Schuldner,
der sich eine solche Handlung hat zuschulden kommen lassen. Die
Rechtsprechung der thurgauischen Gerichte nimmt in Übereinstimmung
mit der herrschenden Lehre an, es bedürfe keines Kausalzusamrnenhanges
zwischen den Bankrotthandlungen und der Konkurseröffnung (vgl. die nicht
publizierten Entscheide des Bundesgerichtes i. S. Lenz vom 16. Mai
1930 und i. S. Duetsch vom 7. Oktober 1938). Dagegen muss Zwischen
Bankerotthandlung und Konkurseröfinung ein tatsächlicher Zusammenhang
insofern bestehen, als sich die Bankerotthandlung auf das Vermögen
beziehen muss, das infolge der Konkurseröftnung liquidiert wird. Dieselben
Gläubiger, die durch die Bankerotthandlung benachteiligt werden
können, müssen durch die Konkurseröfinung benachteiligt sein (FRANK,
Strafgesetzbuch, 17. Aufl. § 239 Ziff. VI S. 627 ; SYDOW-BUSCH-KRIEG,
Konkursordnung, 16. Aufl. § 240 Note 2; EBEBMAYR, Reichsstrafgesetzbuch
KO § 239 Note 19).

War der Rekurrent, wie das Obergericht annehmen durfte, der wirkliche
Inhaber der Firma Hans Neef, so ist er zwar auch Schuldner der
Firmaglaubiger, aber doch nicht ihr in Konkurs geratener Schuldner
geworden. Ein in Konkurs geratener Schuldner ist er nur insofern, als
über ihn einige J ahre'vor der Gründung der Konservenfabriken Dietlikon
und Erlen ein Konkursverfahren durchgeführt und abgeschlossen worden war.

Doch fallt jenes Verfahren hier ausser Betracht; denn

die dem Rekurrenten vorgeworfenen Bankerotthandlungen stehen nicht mit
dem seinerzeit über ihn durchgeführten,

sondern allein mit dem im Jahre 1934 über den Sohn ss

Hans Neef eröffneten Konkurs in einem tatsächlichen Zusammenhang.

Das Obergericht anerkennt, dass der Rekurrent nach dem Wortlaut von §
68 nicht als Haupttater bestraft werden könne. Wenn es ihn gleichwohl
als solchen bestraft hat, geschah dies ausschliesslich deshalb, weil
esNullapoena eine lege. N° 3. ll

annahm, die gesetzliche Bestimmung regle nur den Normalfall; ihm dürfe
aber der vorliegende, mit dem im Gesetz geregelten wesensgleichen
Tatbestand gleichgeachtet werden. Damit hat das Obergericht die
Grenzen der ausdehnenden Gesetzesauslegung überschritten und einen
Analogieschlussangestellt. Während die ausdehnende Auslegung dem
Gesetz einen möglichst weiten, aber immer noch mit dem Wortlaut zu
vereinbarenden Anwendungsraum gibt, besteht die Analogie darin, dass
ein Rechtssatz auf einen Tatbestand angewendet wird, der ausserhalb des
Wortlautes des Gesetzes liegt, aber mit dem vom Gesetz entschiedenen
Tatbestand wesensgleich ist, d. h. nicht über den dem Gesetz zugrunde
liegenden Rechtsgedanken hinausgeht. Die Bestrafung des Rekurrenten
als Haupttater mag dem dem Gesetze zugrunde liegenden Rechtsgedanken
entsprechen, geht aber ofiensichtlich über den Gesetzeswortlaut
hinaus und schafit durch Weglassung einer vom Gesetz aufgestellten
formalen Strafbarkeitsvoraussetzung einen neuen Deliktstatbestand. Der
Strafrichter, der in dieser Weise vergeht, verletzt aber den im Kanton
Thurgau als § 9 in die Verfassung aufgenommenen Grundsatz nulla poena
sine lege (BGE 58 I S. 39 und dort zitierte Entscheide).

In dem Entscheid vom 12. November 1921 (Rechenschaftsbericht pro 1921
Nr. 22) hat das Obergericht selbst erklärt, dass nur der in Konkurs
geratene Schuldner das Delikt des leicht-sinnigen Bankerottes begehen
könne. Auch im Urteil vom 8. Marz 1938 hat es diesen Grundsatz nicht
verlassen oder eingeschränkt ; die darin vertretene Auffassung, dass
im Konkurse einer juristischen Person auch ein bloss tatsächlicher
Geschäftsleiter zu den schuldigen Einzelpersonen der Verwaltungsund
Aufsichtsorgane im Sinn von § 69 EG gehören könne, geht nicht über eine
ausdehnende Gesetzesauslegung hinaus und kann daher zur Unterstützung
des angefochtenen Entscheides nicht angerufen werden.

Der hier vertretenen Auffassung entspricht auch die

12 Staatsrecht.

Rechtsprechung des zürcherischen Obergerichtes und die deutsche Literatur
und Praxis : die erstere hat bei der Anwendung von § 202 lit. a des
zürch. STG, der mit § 68 des thürgauischen EG übereinstimmt, stets an dem
Grundsatz festgehalten, dass beim leichtsinnigen Banker-ott nur der in
Konkurs geratene Schuldner in Betracht falle, und hat einen Angeklagten,
der unter dem Namen eines andern Familienangehörigen ein Geschäft betrieb,
freigesprochen (Blätter Bd. 15 Nr. 101 ; Bd. 26 Nr. 52). Die letztere
hat bei Auslegung von § 240 KO stets angenommen, dass gestützt auf
die Konkurseröflnung der Urheber der Bankerotthandlungen nur dann zur
Verantwortung gezogen werden dürfe, wenn sich die Konkurseröiinung gegen
ihn selbst richtete (Entscheidungen des Reichsgerichtes in Strafsachen
Bd. 25 S. 121 /2 ; 29 s. 105/6 ; 49 s. 322 ; 65 s. 413 ; FRANK, 1. c. §
239 Ziff. VIII, § 240 Ziff. VI ; SYnow-BusoH-Knrnc, 1. c. S. 519 ;
OLSHAUSEN, Kommentar 9. Aufl. KO § 239 Not-e 6 lit. d ; EBERMAYR,
]. e. KO § 239 Note 2).

Der Zustand, wie er gemäss § 68 des EG besteht, mag das Rechtsempfinden
verletzen. Er hat zwar nicht, wie die Staatsanwaltschaft behauptet,
zur Folge, dass ein Unschuldiger für den Schuldigen bestraft wird; denn
wenn denjenigen, der seinen Namen für den Geschäftsbetrieb hergegeben
hat, kein strafrechtlich erhebliches Verschulden trifft, muss er
freigesprochen werden (PFLEGHART, SJ'Z Bd. 19 S. 98). Möglich ist aber,
dass der Hauptschuldige strafirei bleibt, während der Wenigerschuldige
bestraft wird. Diese Lücke kann nur der Gesetzgeber ausfüllen. Im
schweiz. Strafgesetzbuch geschieht dies wenigstens teilweise dadurch, dass
der Konkurseröflnung die Ausstellung eines Verlustscheines gleichgestellt
wird.Staatsverträge. N° 4. 13

IV. STAATSVERTRÀGE

TRAITÉS INTERNATIONAUX

4. Arrét du 3 février 1939 dans la cause dame Magnus-Lévy contre Chambre
des recents du Tribunal cantonal vaudois et Speelmann.

Convention de La Haye du 12 juin 1992 pour régler la tin-elledes mmeurs. '

La. Convention ne concerne que la tutelle des mineurs proprement dite,
à l'exolusion de la puissance pater-nelle. L'art. 7, qui réserve aux
autorités locales le sein de prendre les mesures néeessaires dans tous
les cas d'urgence, ne s'applique lui meme qu'en rapport avec une tutelle.

C'est au regard du droit (Stranger qu'il kaut examiner si la puissance
de l'époux survive-at sur ses enfants équivaut a une véritable tutelle.

Haager Übereinkunft zur Regelung der Vormundschaft über Minderjährige
vom 12. Juni 1902.

Die Übereinkunft gilt nur für bevormundete, nicht auch für unter
elterlicher Gewalt stehende Minderjährige. Daher ist auch Art. 7, der
den zuständigen Orts-behörden in allen dringenden Fällen die Sorge für
den Erlass von Massnahmen vor behält, nur im Zusammenhang mit einer
Vormundschaft anwendbar. --

Ob die elterliche Gewalt des überlebenden Ehegatten über seine Kinder
einer eigentlichen Vormundschaft gleichkommt, beurteilt sich nach
ausländischem Recht.

Convenzione deîl'A-ia, del 12 giugno 1902, concernente la tutela dei
minorenni.

La. convenzione concerne soltanto la tutela. dei minorenni propriamente
detta, esclusa la pci-,esta dei genitori. L'art. 7, ehe riserva alle
autorità locali il compito di prendere i provvedimenti neeessari in
tuttii casi urgenti, si applica soltanto in connessione con una tutela.

La questione di sapere se la poteeta del coniuge superstite sui propri
figli equivale ad una tutela. vera e propria va esaminata alla stregua
del diritto este-ro.

A. _ Helene-Suzanne Speelmann, née en 1930, est la fille de Benjamin
Speelmann, citoyen hollandais, domicilié à Amsterdam. Comme les parents
vivaient en mauvaise intelligence, l'enfant a été, des l'äge de 13
mois, confiée à sa grand'mère maternelle, dame Magnus Lévy, demeurant
actuellement à Lausanne. La mère de la fillette est
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 52 I 8
Datum : 01. Januar 1925
Publiziert : 31. Dezember 1926
Quelle : Bundesgericht
Status : 52 I 8
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : 8 Staatsrecht. III. NULLA POENA SINE LEGE. 3. Urteil vom 28. April 1939 i. S. Neck


Gesetzesregister
BV: 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BGE Register
58-I-33
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
thurgau • schuldner • not • unternehmung • nulla poena sine lege • elterliche gewalt • bundesgericht • verurteilter • strafgesetzbuch • staatsvertrag • entscheid • beschuldigter • kind • staatsrechtliche beschwerde • annahme des antrags • bewilligung oder genehmigung • gerichts- und verwaltungspraxis • betrug • analogie • strafsache
... Alle anzeigen