62 Strafrecht.

II. LEBENSM ITTELPOLIZEILOI ET ORDONNANCES SUR LES DENRÉES ALIMENTAIRES

13. Urteil des Kassationshofes vom 25. Lär1925
i. S. Schweiz. Bundessnwaltschaft gegen Schmutz.

Art. 16 Abs. 2 LMPG : Nicht-Verlangen einer Oberexpertise; Bedeutung
(Erw. 2).

Art. 19 LMPG : Wird die Sache dem Strairichter überwiesen, so ist dieser
zur Verlegung der Oberexpertisenkosten in Anwendung von Art. 19 kompetent.

Art. 48 LMPG: Kosten der s technischen Untersuchung (Erw. 1).

A. Das bernische Lebensmittelinspektorat hatte am 23. November 1921 die
Witwe Schmutz wegen Milchfälschung bei der Direktion des Innern des
Kantons Bern verzeigt. Die von der Kassationsbeklagten nach Art. 16
Abs. 2 LMPG verlangte Oberexpertise fiel zu ihren Ungunsten aus. Die
Direktion des Innern überband ihr deshalb gestützt auf Art. 19 LMPG
die Expertisenkosten und überwies die Sache dem Strafrichter zur
Beurteilung. Der Gerichtspräsident von Konolfingen dehnte, nachdem ein
Einstellungsbeschluss vom Kassationshof des Bundesgerichts aufgehoben
werden war, das Verfahren auf Hans Schmutz Sohn aus, sprach dann aber
am 28. April 1924 beide von der Anklage frei. Die sämtlichen Kosten,
inbegriffen die der Cher-expertise, überhand er dem staat. Die Erste
Strafkammer des bernischen Obergerichts änderte auf Beschwerde der
Bundesanwaitschaft den Kostenentscheid in dem Sinn, dass von den
Gesamtkosten von 750 Fr. 90 Cts. (samt denen der Oberexpertise) 150
Fr. gemäss Art. 343 Abs. 3 bern. StV dem Hans Schmutz, der Rest dem staat

Lebensmittelpolizei. N° 13. 63

auferlegt wurde. Das weitergehende Begehren der Bundesanwaltschaft,
die Kosten der Oberexpertise seien nach der Verfügung der Direktion des
Innern der Witwe Schmutz zur Zahlung vorzubehalten, wurde abgewiesen.

B. Dagegen erhebt die Schweizerische Bundesanwaltschaft im Namen
des eidgenössischen Justizund Polizeidepartements rechtzeitig die
Kassationsbeschwerde beim Bundesgericht.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung :

1. Gestützt auf den Expertisenbefund wird die Anzeige wegen Widerhandiung
gegen das Lebensmittelpolizeigesetz der zuständigen Verwaltungsbehörde
eingereicht (Art. 16 Abs. 1 LMPG). Der Beschuldigte ist befugt, binnen
fünf Tagen von der Kenntnisnahme an mit Einsprache eine Oberexpertise zu
verlangen. Fällt diese zu Ungunsten des Einsprechers aus, so werden ihm
die daraus entstandenen Kosten ganz oder teilweise auferlegt (Art. 19
LMPG). Gestützt auf das Ergebnis der Expertise bezw. der Oberexpertise
trifft die Verwaltungsbehörde ihre Verfügung. Sie stellt die Untersuchung
ein, wenn ein Anlass zur Strafverfolgung nicht besteht. Im andern Fall
überweist sie die Sache dem Strafgericht. Dieses führt das Verfahren
nach kantonalem Prozessrecht durch, sofern nicht das Bundesrecht etwas
anderes bestimmt (Art. 146 ff . OG). Das gilt auch für den Kostenentscheid
(Art. 156 OG, vgl. Art. 48 LMPG).

Es ist nun vorab zu prüfen, ob nach Art. 19 LMPG die Verwaltungsbehörde
ausschliesslich zum Entscheid über die Kosten der Oberexpertise zuständig
ist, auch wenn die Sache dem Richter überwiesen wird, oder ob mit der
Überweisung die Kompetenz zur Verlegung dieser Kosten mit an den Richter
übergeht. Der Kassationshof schliesst sich der zweiten Auffassung an:

Die Oberexpertise kann das Vorhandensein des objektiven Straftatbestandes
ergeben. Sie ist damit zu Ungunsten des Einsprechers ausgefallen, sodass
ihm nach

64 Strafrecht.

Art. 19 LMPG die Kosten ganz oder teilweise aufzuerlegen sind. Sind aber
die subjektiven Voraussetzungen der Strafbarkeit offensichtlich nicht
erfüllt, so wird

' trotzdem die Untersuchung eingestellt. In diesem Fall --

ist die Verwaltungsbehörde die ietztentscheidende Instanz und damit
notwendig zur Kostenauflage an den Einsprecher im Sinn von Art. 19
kompetent. In der Regel wird aber der ungünstige Ausfall der Ober-exper-

tise die Überweisung der Sache an den Richter zur-

Folge haben. Es kann nun nicht die Absicht des Gesetzes sein, über die
Verlegung der in der gleichen Untersuchungssache entstandenen Kosten zum
Teil vor Beginn des gerichtlichen Verfahrens durch die Verwaltungsbehörde
und zum Teil mit dessen Abschluss durch das Gericht entscheiden zu
lassen. In welchem Umfang die Kosten der Oberexpertise dem Einsprecher
aufzuerlegen sind, hängt wesentlich vom Ausgang des Prozesses ab. Die
Tatsachen, welche bei Ausfäilung des Kosten-

entscheids mit berücksichtigt werden müssen, sind also s

erst bei Erlass des Urteils in der Strafsache selbst und nur dem Richter
genügend bekannt. Auch die Aussetzung des Kostenentscheids durch
die Verwaltungsbehörde bis zur Urteilsfällung könnte dem nicht voll
Rechnung tragen, ganz abgesehen davon, dass für eine solche Auslegung von
Art. 19LMPG das Gesetz keinen Anhalt gibt. Art. 19 LMPG selbst steht der
hier vertretenen Auffassung nicht entgegen. Er bestimmt nur, dass beim
ungünstigen Ausfall der Oberexpertise deren Kosten ganz oder zum Teil dem
Einsprecher aufzuerlegen seien. W e r zu dieser Auferlegung kompetent ist,
wird dagegen nicht gesagt, sodass nach allgemeinen Grundsätzen die den
Endentscheid fallende Behörde als zuständig zum Erlass des Kostenurteils'
auch in dieser Beziehung angesehen werden muss. Zu Unrecht beruft
sich die Bundesanwaitschaft auf Art. 48 LMPG. Nach diesem werden dem
Verurteilten die Kosten der technischen Untersuchung (frais d'analyse)
auferlegt. Darunter will sieLebensmittelpolizei. N° 13. 65

nur die Kosten der ersten administrativen Expertise verstehen,
sodass diejenigen der Oberexpertise argumento e contrario dem Richter
vorenthalten würden. Der Begriff der technischen Untersuchung ist
aber weiter, als derjenige der ersten administrativen Expertise. Er
umfasst alle auf die Feststellung des Tatbestands gerichteten
Expertenhandlungen. die der Oberexpertise im Sinn von Art. 16 Abs. 2 und
Art. 19 LMPG so gut, wie die vorgehende und die folgenden gerichtlichen
Begutachtungen. Art. 48 LMPG bestätigt somit im Gegenteil den Schluss,
dass mit der Überweisung der Sache an den Richter die. Kompetenz der
Administrativbehörde zum Erlass des Kostenentscheids, sowie eine allfällig
schon getroffene Verfügung dahinfällt und nur noch das Strafgericht
darüber zu erkennen hat.

2. Dagegen ist der Bundesanwaltschaft darin Recht zu geben, dass
der Strafrichter bei Verlegung der Oberexpertisenkosten Art. 19
LMPG anzuwenden hat. Dieser schreibt schlechthin die Auferlegung der
Oberexpertisenkosten an den unterliegenden Einsprecher vor, ohne das auf
den Fall zu beschränken, wo die Verwaltungshehörde zu seiner Anwendung
zuständig ist. Auch aus allgemeinen Erwägungen folgt das gleiche. Wie
schon erwähnt, wird die Verwaltungsbehörde ordentlicherweise die Kosten
der Oberexpertise dann (ganz oder teilweise) dem Einsprecher auferlegen,
wenn sie das Vorhandensein des objektiven Tatbestandes ergab und nur
aus Mangel an den subjektiven Voraussetzungen von einer Strafverfolgung
abgesehen wird. Unter den gleichen Umständen kann ein Beschuldigter
auch vom Gericht freigesprochen werden. Es wäre nun ungerechtfertigt,
den gleichen Tatbestand hier anders, nach kantonalem Prozessrecht zu
beurteilen, nur weil die Kompetenz zu seiner Beurteilung an eine andere
Behörde übergegangen ist. Wird aber der Beschuldigte verurteilt, so ist
die Auferlegung der Oberexpertisenkosten _an ihn gemäss Art. 19 LMPG
umsomehr begrün-

ASSI 1 1925 °

66 Strafrecht.

det. Anders liegt zwar die Sache, wenn das Gericht in Abweichung von der
Oberexpertise zu einem Freispruch kommt. Allein Art. 19 LMPG sieht hier
keine Ausnahme vor, und unbillig ist seine Anwendung deswegen nicht,
weil ja dem Beschuldigten die Möglichkeit offen stand, sich seiner
Einreden gegen den Befund der ersten administrativen Expertise für
das gerichtliche Verfahren vorzubehalten. Der Einwand, nach bernischer
Praxis schliesse die Nichtanrufung der Oberexpertise die Anerkennung
des ersten Befundes in sich, geht fehl. Denn nach allgemeinem Grundsatz
des Strafprozessreehts, der mindestens in Bundesstrafsachen auch vom
kantonalen Richter zu befolgen ist, hat das Strafgericht in freier
Priifung den Tatbestand festzustellen, ohne an Parteierklärungen und
Anerkennungen gebunden zu sem.

3. Das vorinstanzliehe Urteil ist also in verschiedener Hinsicht
anfechtbar. Der Witwe Schmutz werden, obschon die von ihr allein verlangte
Oberexpertise zu ihren Ungnnsten ausfiel, entgegen Art. 19 LMPG keine
Kosten dieser Expertise auferlegt. Dagegen hat Hans Schmutz, welcher die
Oberexpertise nicht verlangte, in der Weise einen Teil davon zu tragen,
dass der ihm auferlegte Anteil auf den Gesamtkosten unter Zurechnung
derjenigen der Oberexpertise berechnet worden ist. Allerdings hat er
die Kassationsbeschwerde nicht ergriffen. Die Bundesanwaltschaft ist
aber zu deren Erhebung auch im Interesse eines Verurteilten legitimiert
(Schweiz. Zeitschrift für Strafrecht, Bd. XIII S. 152 Ziff. 2). Die
Rüge der gesetzwidrigen Belastung des Hans Schmutz muss deshalb als
rechtsgültig erhoben gelten. ·

Die Erste Strafkammer des Obergerichts von Bern wird deshalb einerseits
den von der Witwe Schmutz zu tragenden Anteil an den Kosten der
Oberexpertise und andrerseits den nach Massgabe des kantonalen Rechts
von Hans Schmutz zu tragenden Teil von den Gesamt-

Lebensmittelpofizei. No 18. 67 kosten n a c h Abzug derjenigen der
Oberexpertise zu

bestimmen haben. Demnach erkennt das Bundesgericht :

Die Kassationsbeschwerde wird gutgeheissen und das Urteil der
I. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern vom 3. Oktober 1924 im
Sinne der Erwägungen aufgehoben.

III. oRGANIsATIoN DER BUNDESRECHTSPFLEGE

ORGANISATION J UDICIAIRE FÉDÉRALE Vgl. Nr. 12. Voir n° 12.OFDÀG
Offset-. Formularund Fotodruck AG 3000 Bem
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 51 I 62
Datum : 25. Januar 1925
Publiziert : 31. Dezember 1925
Quelle : Bundesgericht
Status : 51 I 62
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : 62 Strafrecht. II. LEBENSM ITTELPOLIZEILOI ET ORDONNANCES SUR LES DENRÉES ALIMENTAIRES


Gesetzesregister
OG: 146  156
StV: 343
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
strafgericht • bundesgericht • witwe • beschuldigter • kostenentscheid • kassationshof • verurteilter • weiler • strafverfolgung • entscheid • lebensmittelpolizei • verfahren • bundesrechtspflegegesetz • bruchteil • richterliche behörde • anklage • wille • sprache • freispruch • endentscheid
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