156 ' Staatsreeht.

III. POLITISCHES STIMMUND WAHLRECHTssDROIT ÉLECTORAL ET DROIT DE VOTE

22. Urteil vom 13. Mai 1922 i. S. Wälchli und Genossen gegen Bern.
Befugnis des bemisehen Grossen Rates, ein einheitliches, teils in der
Form des ausgearbeiteten Entwurfes, teils als hlosse Anregung gestelltes
Initiativbegehren zurückzuweisen. Prii-

fung der Frage der Einheitlichkeit eines konkreten, aus mehreren Teilen
bestehenden Initiativvorschlages.

A. Im Jahre 1921 wurde der Staatskanzlei des Kantons Bern eine Initiative
für Abänderung des kantonalen Steuergesetzes vom 7. Juli 1918 mit
folgenden Begehren eingereicht: I. In Form des ausgearbeiteten
Entwurfes. Das Gesetz über die direkten Staatsund Gemeindesteuern vom
7. Juli 1918 erhält in den Art. 19, 20, 22,25, 40 und 42 folgenden
Wortlaut Diese Abänderungen treten auf 1. Januar 1922 in Kraft. II. In
Form der einfachen Anregung. In Art. 32 des kantonalen steuergesetzes
vom 7. Juli 1918 ist der Be-

ginn der Zuschlagsteuer-Skala auf den Einheitsansatzf

des Art. 31 zu beziehen und zwar in der Weise, dass ein Steuerzuschlag
erst eintritt wenn der Einheitsansatz der gesamten Staatssteuer 75
Fr. übersteigt und die Skala ist in der Weise auszugestalten, dass dadurch
der durch die vermehrten Abzüge nach Abschnitt 1 dieses Initiativbegehrens
entstehende Ausfall gedeckt, wird. III. Die Initianten ermächtigen das
Aktionskomitee, die Initiative zu Gunsten eines Vorschlages von anderer
Seite zurückzuziehen, wenn diese die von den Initianten verfolgten
Interessen in vorteilhafterer Weise zu wahren vermag. Bei den unter
Ziff. II angeführten vermehrten Abzügen nach Abschnitt I handelt es
sich um eine Erhöhung des steuerfreien Existenzminimums oder um

Politisches Stimmund Wahlrecht. N° 22. 157

andere Einschränkungen der Steuerleistungen. Der Grosse Rat des
Kantons Bern entschied am 29. September 1921, dass die Initiative nicht
zustandegekommen sei, indem er erklärte : die Initiative entspricht
nicht den formellen Erfordernissen des Art. 9 der Staatsverfassung, indem'
eine Verbindung der Formen der einfachen Anregung und des ausgearbeiteten
Entwurfs in der nämlichen Initiativedem Wortlaut des Art. 9 Abs.. 2 der
Verfassung und der Natur der beiden Arten der Initiative widerspricht.
Der Entscheid stützt sich auf einen Bericht, der. Justizdirektion, aus dem
folgendes hervor ' zuheben ist : Die Formen der Initiative haben einen
Einfluss auf das Verfahren bei ihrer Behandlung. Wird das Begehren als
einfache Anregung gestellt, so wird damit der Grosse Rat aufgefordert,
ein Gesetz oder Dekret zu erlassen, aufzuheben oder abzuändern. Über die
Formen, insbesondere über die Fristen, die hierbei einzuhalten sind,
bestehen keine Vorschriften. Nur, wenn der Grosse-Rat nicht von sich
aus entspricht, legt er das Iritiativbegehren dem Volk spätestens am
zweitfolgenden Abstimmungstag vor. Der Grosse Rat ist bei

der einfachen Anregung auch hinsichtlich des Inhalts

des auszuarbeitenden Erlasses frei. Anders bei der Initiative in Form
des ausgearbeiteten Entwurfs. Hier besteht eine bestimmte Bindung
an die. Zeit. Einer Änderung und Beratung bedarf der ausgearbeitete
Entwurf nicht. Deshalb muss er spätestens am zweitfolgenden ordentlichen
Abstimmungstag dem Volke unterbreitet werden. Art. 9 Abs. 4 St Verf. Der
Grosse Rat hat auf den Inhalt des ausgearbeiteten Entwurfs keinen
Einfluss. Eine Verkoppelung beider Formen verunmöglieht die Bestimmung
des Zeitpunktes der Abstimmung. Soweit den ausgearbeiteten Entwurf
betreffend, sollte die Ab_ stimmung spätestens am zweit-nächstfolgenden
Abstimmungstag stattfinden. Soweit die einfache Anregung betreffend,
hat sich der Grosse Rat vorerst darüber 'si schlüssig zu machen, ob er
von sich aus eintreten Will,

158 . Staatsrecht.

ohne dass er inbezug hierauf an bestimmte Fristen gebunden wäre. Eine
Trennung der Initiative in ihre Bestandteile ist aber nicht vorgesehen
und nicht angängig. Die staatlichen Behörden haben keinen Anspruch
darauf, eine solche Trennung der als einheitlich gedachten Initiative
vorzunehmen. Eine gemeinsame. Abstimmung über die beiden Teile der
Initiative bietet aber eine Reihe von Schwierigkeiten. Die Verfassung
löst die Frage nicht, ob mit der Abstimmung der formulierte Teil der
Initiative Gesetz wird, Wie Art. 9 Abs. 4 dies vorsieht, oder ob die
Rechtskraft erst dann eintritt, wenn der einfachen Anregung Folge gegeben
und ein dahingehendes Gesetz angenommen ist. D_a die Verfassung diese
Frage nicht löst, muss angenommen werden, dass sie die Vermengung der
beiden Formen der Initiative nicht anerkennt. Die beiden Teile der
Initiative bilden sowohl ihrer Form als auch ihrem Inhalt nach ein
einheitliches Ganzes. Der Wille der Unterzeichner der Initiative ging
zweifellos dahin, dass beide Teile miteinander, nicht der eine Teil
ohne den andern in Rechtskraft erwachsen. Der Ausfall für den Staat,
den Teil I verursacht, soll durch Annahme der einfachen Anregung unter
Teil I I eingebracht werden._ Aus den vorstehenden

Ausführungen ergibt sich aber, dass dieses Ziel infolge .

der Mängel der Initiative nicht'erreicht werden kann.

B. Am 28. November 1921 haben Wälchli und Genossen als Unterzeichner
der Initiativbegehren gegen den Entscheid des Grossen Rates die"
staatsrechtliche Beschwerde an das Bundesgericht ergriffen mit dem Antrag
auf Aufhebung.

Sie machen geltend, es liege eine Verletzung der in Art. 9 KV enthaltenen
Garantie des Initiativrechtes, sowie Rechtsverweigerung vor, und führen
zur Begründung aus : Der Grosse Rat anerkenne ausdrücklich, dass die
formellen Erfordernisse für das Zustandekommen einer Initiative erfüllt
seien und dass der Inhalt der Initiativbegehren nicht materiell mit
der Verfassung

Politisches Stimmund Wahlrecht. N° 22. 159

im Widerspruch stehe. Eine weitergehende Prüfungsbefugnis stehe ihm in
Beziehung auf solche Begehren nicht zu ; insbesondere habe er nicht
zu untersuchen, ob diese dem Willen der lnitian-ten entsprechen. Im
vorliegenden Fall sei er nicht berechtigt gewesen, die beiden, Begehren
als ein. einheitliches zu erklären; zudem sei diese Feststellung auch
unrichtig. Man ,habe es der Form und dem Gegenstand nach mit zwei
verschiedenen Begehren zu tun, die nur auf demselben Initiativbogen
aneinander gereiht seien, aber gesondert zur. Abstimmung gebracht werden
müssen (vgi. Art. 104 KV). Die beiden Begehren seien nicht so materiell
mit einander verbunden, dass eine Trennung ihren Sinn und Zweck veränderte
oder dem Willen der lnitianten zuwiderliefe. Das erste Begehren sei vom
zweiten ganz unabhängig. Ein Zusammenhang bestehe nur insofern, als das
zweite von der Annahme des ersten abhänge, also gegenstandslos werde,
wenn das Volk das erste verwerfe. Demnach sei es möglich, die beiden
Begehren von einander zu trennen und jedes in einem besondern Verfahren
zu behandeln. Wenn was zu vermuten sei alle

, Bürger das Recht kennen, so habe jeder Unterzeichner der

Initiative wissen müssen, dass jedes Begehren vermöge seiner besondern
Form seinen besondern Weg gehen und daher das Schicksal beider nicht
notwendig das gleiche sein werde. Gerade weil die lnitianten die
Steuererleichterungen nicht von der Deckung des dadurch entstehenden
Ausfalls hätten abhängig machen wollen, sei für das zweite Begehren
bloss die Form der einfachen Anregung gewählt und ausdrücklich bestimmt
worden, dass die Steuererleichterungen schon auf den '1. Januar 1922 in
Kraft treten sollten. Auch die dem Aktionskomitee erteilte Ermächtigung
führe nicht zum Schluss, dass die Initiative von den Initianten als
,einheitliches Ganzes betrachtet worden sei.

C. Der Regierungsrat hat namens des Grossen; Rates Abweisung der
Beschwerde? beantragt. '

168 _. · . staatsrecht-

Das Bundesgericht zieht in Erwägung :

1. Art.. 9 der bem. KV bestimmt: Das Vorschlagsrecht umfasst das Begehren
von zwölf-tausend Stimmberechtigten um Erlass, Aufhebung oder Abänderung
eines Gesetzes... (Abs. 1). Solche Begehren können in der Form der
einfachen, Anregung oder des ausgearbeiteten Entwurfes gestellt-werden
(Abs. 2). Erfolgt das Begehren in der Form der einfachen Anregung,
so ist, wenn der Grosse Rat demselben nicht von sichaus entspricht, die
Volksabstimmung darüber in der Regel auf den erstfolgenden oder spätestens
den zweitfolgenden ordentlichen Abstiminungstag anzuordnen. Im Falle der
Annahme des Begehrens findet dessen Ausführung durch ein Gesetz statt
(Abs. 3). Erfolgt das Begehren in der Form des ausgearbeiteten Entwurfes,
so soll der Grosse Rat die Volksabstimmung darüber in der Regel auf
den erstfolgenden oder spätestens den zweitfolgenden ordentlichen
Abstimmungstag anordnen. Im Falle der Annahme ist der Entwurf Gesetz
(Abs. 4). Nach dieser Vorschrift kann die Gesetzesinitiative in
zwei verschiedenen Formen ausgeübt werden, indem, es den Initiaan
freistehtentweder die von ihnen erstrebten Gesetzesbestimmungen

genau zu formulieren oder ohne eine solche Redaktion

des Wortlautes den Inhalt, den sie bekommen sollen, mehr oder weniger
allgemein anzugeben. Je nachdem die eine oder die andere Form gewählt
wird, ist das zur Annahme oder Verwerfung des Gesetzesvorschlags führende
Verfahren verschieden. Wird ein ausgearbeiteter Gesetzesentwurf vorgelegt,
s'o ist darüber ohne weiteres die Volksabstimmung anzuordnen, die
definitiv dessen Schicksal bestimmt. Begnügen sich dagegen die Initianten
mit einer blossen Anregung, so kann diese erst zum Gesetz werden, wenn
der, Grosse Rat den Wortlaut der gewünschten Bestimmungfestgestellt hat;
es besteht daher hiefür ein umständlicheres Verfahren. Der Grosse Rat
muss zunächst darüber beschliessen, ob ohne weiteres

Politisches Stimmund Wahlrecht. N° 22. 161

der Anregung Folge zu geben und demgemässdie ihr entsprechende
Gæetzesbestimmung von ihm zu formulieren sei. Lehnt er dies ab, so
hat das Volk darüber zu entscheiden, ob der Grosse Rat das angeregte
Gesetz entwerfen solle. Wird in dieser Abstimmung die Initiative nicht
sogleich verworfen, so muss der Grosse Rat an die Ausarbeitung des
Gesetzes gehen. Der von ihm der Anregung gemäss aufgestellte Entwurf
unterliegt sodann noch der, Volksabstimmung. Aus dieser Verschiedenheit
des Verfahrens für die beiden Formen der Initiative schliesst nun der
Grosse Rat, dass ein Initiativbegehren, das ein einheitliches ,Ganzes
bildet, nicht teilweise in die Form eines ausgearbeiteten .Entwurfes
gekleidet und teilweise als blosse Anregung gestth werden könne,
und das wird von den Rekurrenten nicht bestritten. Es ist auch klar,
dass ein einheitliches Initiativbegehren nicht zum Teil in dem für
die blosse Anregung vorgesehenen Verfahren und zum Teil in demjenigen,
das für ausgearbeitete EntWiirfe bestimmt ist, behandelt werden kann,
da es dann seinem Wesen zuwider in zwei Teile auseinandergerissen würde,
deren Schicksal verschieden sein könnte, indem es möglich wäre, dass
trotz des innern Zusammenhangs beider Teile der eine angenommen, der
andere verworfen würde und damit ein dem Inhalt und Zweck der Initiative
widersprechendes, unhaltbares Ergebnis entstünde. Es wäre allerdings
denkbar, ein einheitliches Initiativbegehren, das teil-weise als blosse
Anregung und teilweise als ausgearbeiteter Entwurf abgefasst ist,
lediglich in dem für die Anregung vorgesehenen Verfahren zu behandeln,
so dass also der Grosse'Rat und eventuell das Volk sich zunächst über die
vorläufige Annahme oder die Verwertung der ganzen Initiative auszusprechen
und jener für den Fall der Annahme den Entwurf lediglich im Sinne der
Anregung zu vervollständigen hätte, worauf dann das Ganze dem Volk zur
endgültigen Annahme oder Verwertung vorgelegt würde. Allein weder die Kan-

182 Staaxsrecht.

tonsverfassung noch das Dekret über das Verfahren bei Volksbegehren
vom 4. Februar 1896 sehen ausdrücklich die Verbindung der beiden
Initiativformen in einem einheitlichen Begehren vor ; vielmehr scheint
der Wortlaut des Art. 9 Abs. 2 KV dafür'zu sprechen, dass ein solches
Begehren nur entweder ganz in der einen oder ganz in der andern Form
gestellt werden könne. Dafür spricht auch die Erwägung, dass, wenn
dem Grossen Rat die Formulierung von durch Initiative vorgeschlagenen,
innerlich mit andern zusammenhängenden Gesetzesbestimmungen übertragen
wird, er dann die Befugnis haben muss, die ganze Materie einheitlich
zu regeln, und hierin nicht dadurch eingeschränkt werden darf, dass die
Initianten den Wortlaut eines Teils der in Frage stehenden Bestimmungen
von vorneherein festlegen. Übrigens ist es nicht nötig, diese Frage
weiter zu erörtern, da die Rekurrenten selbst nicht behauptet haben,
ein einheitliches, teils als blosse Anregung, teils als ausgearbeiteter
Entwurf formuliertes Initiativbegehren müsse in dem für die Anregung
vorgesehenen Verfahren behandelt werden.

2. Wird nun dem Grossen Rate ein solcher in formeller Beziehung
mangelhafter Initiativvorschlag unterbreitet, so hat diese Behörde
unzweifelhaft die Befugnis, die Frage der Gültigkeit des gestellten
Begehrens zu prüfen und im Verneinungsfall die Vorlage an das Volk zu
verweigern. Allerdings besteht das Wesen der Initiative darin, dass eine
Anzahl von Aktivbürgern mit einem Vorschlag vor das Volk treten können,
ohne dass ihnen die Behörden dabei Hindernisse in den Weg legen dürften.
Aber die bernische Staatsverfassung lässt die Ausübung des Initiativrechts
nicht unbeschränkt zu, sondern knüpft sie an bestimmte Voraussetzungen
und Formen, und deshalb muss eine Behörde da sein, deren Sache es ist,
zu prüfen, ob diese vorliegen, und, wenn sie die Frage verneint, der
Initiative den weitern Weg zu versehliessen. Aus den §§ 7 u. 9 des
Dekretes vom 4. FebruarMW v_g W...sisisissss_... Politisches Stimmund
Wahlrecht. N° 22.

1896 ergibt sich denn auch, dass nur als gültig anerkannte Volksbegehren
dem Volke zur Abstimmung zu unterbreiten sind. Nun ist nach den Art. 9
und 26 KV und den §§6if. des erwähnten Dekretes der Grosse Rat die
höchste Staatsbehörde, die die Befugnis hat, über alle Gegenstände,
welche der Volksabstimmung unterliegen, Beschluss zu fassen und die
Initiativbegehren, nachdem ihm darüber vom Regierungsrat Bericht erstattet
wordeu ist, dem Volke vorzulegen. Hieraus ergibt sich zweifellos,
dass der Grosse Rat auch über die Gültigkeit, d. h. die Verfassungsund
Gesetzmässigkeit einer Initiative zu entscheiden hat, gleich wie es auf
eidgenössischem Boden der Bundesversammlung zusteht, eine Initiative, die
nicht nach den Vorschriften der Bundesverfassung zustande gekommen ist,
wegen Ungültigkeit zurückzuweisen. Übrigens hat der Grosse Rat es schon
früher einmal (1920) abgelehnt, eine Steuergesetzinitiative, die er wegen
formeller Mängel als ungültig betrachtete, dem Volke vorzulegen und geben
die Rekurrenten auch selbst zu, dass diese Behörde die Initiativbegehren
auf ihre formellen Erfordernisse zu prüfen hat. Hiezu gehören nun vorab
die von der Verfassung vorgeschriebenen Formen der Initiative. Wenn
daher ein einheitliches Begehren nach der Verfassung nicht teilweise
als Anregung und teilweise als ausgearbeiteter Entwurf formuliert
werden kann, so hat der Grosse Rat, sobald ihm ein aus mehreren Begehren
be-stehender, teils in die eine und teils in die andere Form gekleideter
Initiativvorsehlag vorgelegt wird, zu untersuchen, ob die verschiedenen
Begehren nicht vermöge eines innern Zusammenhangs ein einheitliches
Ganzes bilden und daher nur in e i n e r Form gestellt werden konnten,
wie er es im vorliegenden Falle getan hat. Dabei muss er allerdings auf
den Inhalt und Zweck der einzelnen Begehren eingehen; gleichwohl handelt
es sich aber im Grunde ,genommen nur um eine Prüfung der Initiative auf
ein formelles Erfordernis, wie im an-

164 ' Staatsrecht.

gefochtenen Beschlusse ausdrücklich bemerkt wird, und nicht etwa um
eine Untersuchung ihrer Zweckmässigkeit. In analoger Weise hat auch
die Bundesversammlung, wenn ein lnitiativvorschlag mehrere verschiedene
Materien betrifft, zu prüfen, ob er der Vorschrift des Art. 121
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 121 - 1 Die Gesetzgebung über die Ein- und Ausreise, den Aufenthalt und die Niederlassung von Ausländerinnen und Ausländern sowie über die Gewährung von Asyl ist Sache des Bundes.
1    Die Gesetzgebung über die Ein- und Ausreise, den Aufenthalt und die Niederlassung von Ausländerinnen und Ausländern sowie über die Gewährung von Asyl ist Sache des Bundes.
2    Ausländerinnen und Ausländer können aus der Schweiz ausgewiesen werden, wenn sie die Sicherheit des Landes gefährden.
3    Sie verlieren unabhängig von ihrem ausländerrechtlichen Status ihr Aufenthaltsrecht sowie alle Rechtsansprüche auf Aufenthalt in der Schweiz, wenn sie:
a  wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts, wegen einer Vergewaltigung oder eines anderen schweren Sexualdelikts, wegen eines anderen Gewaltdelikts wie Raub, wegen Menschenhandels, Drogenhandels oder eines Einbruchsdelikts rechtskräftig verurteilt worden sind; oder
b  missbräuchlich Leistungen der Sozialversicherungen oder der Sozialhilfe bezogen haben.86
4    Der Gesetzgeber umschreibt die Tatbestände nach Absatz 3 näher. Er kann sie um weitere Tatbestände ergänzen.87
5    Ausländerinnen und Ausländer, die nach den Absätzen 3 und 4 ihr Aufenthaltsrecht sowie alle Rechtsansprüche auf Aufenthalt in der Schweiz verlieren, sind von der zuständigen Behörde aus der Schweiz auszuweisen und mit einem Einreiseverbot von 5-15 Jahren zu belegen. Im Wiederholungsfall ist das Einreiseverbot auf 20 Jahre anzusetzen.88
6    Wer das Einreiseverbot missachtet oder sonstwie illegal in die Schweiz einreist, macht sich strafbar. Der Gesetzgeber erlässt die entsprechenden Bestimmungen.89
BV gemäss
in mehrere Begehren getrennt werden kann, und, wenn dies nicht möglich
ist, die Initiative als ungültig zurückzuweisen (BBI. 1920 IV S. 138 ff.;
BURckHARDT, Komm. z. BV 2. Aufl. S. 821; WALDKlRCH, Mitwirkung des Volkes
bei der Rechtsetzung S. 18).

3. Im vorliegenden Fall hat nun der Grosse Rat angenommen, dass die mit
I und II bezeichneten Initiativbegehren ein einheitliches Ganzes bilden,
und gegen diese Annahme richtet sich in der Hauptsache die Beschwerde.
Der Umstand; dass die Begehren gemeinsam als Initiative für Abänderung
des kantonalen Steuergesetzes bezeichnet, auf einem gemeinschaftlichen
Unterschriftenbogen den Stimmberechtigten zur Unterzeichnung vorgelegt
worden sind und demgemäss jede Unter-schrift zugleich für beide Begehren
abgegeben wurde, steht zwar der Annahme, dass es sich um eine Mehrheit
selbständiger Initiativvorschläge handle, nicht im Wege. Aber der Inhalt
und Zweck der beiden Begehren spricht für ihren innern Zusammenhang. Die
Rekurrenten geben 'selbst zu, dass das zweite Begehren durch das erste
bedingt sei, und hierauf deutet' auch der Schlussatz des zweiten Begehrens
hin, wo gesagt ist, die ProgressionsSkala sei so zu ändern, dass der durch
die Annahme des ersten Begehrens entstehende Einnahmenausfall gedeckt
werde. Entgegen der Behauptung der Rekurrenten darf aber auch angenommen
werden, dass das erste vom zweiten Begehren abhängig sei, dass also nach
dem Willen der Initianten die Steuererleichteru-ngen nur dann eintreten
sollten, wenn die Progression verschärft werde. Es ist zwar nicht
ausgeschlossen, dass die'Rekurrente'n oder andere Initianten für. daserste
Begehren eintreten__... I" _Politisches Stimmund Wahlrecht. N° 22. 155

wollten ohne Rücksicht darauf, ob das zweite angenommen werde oder
nicht, dass sie also bestrebt waren, die von ihnen vorgeschlagenen
Steuererleichterungen em.. zuführen, auch wenn der daraus entstehende
Einnahmenausfall, der von der Regierung auf 8 bis 9 Mill. Franken
beziffert wird, durch die Erhöhung der Progression nicht ausgeglichen
und infolgedessen das finanzielle Gleichgewicht im staat und in den
Gemeinden gestort würde. Allein eine solche Haltung Wäre nicht die des
vernünftig überlegenden und handelnden Staatsburgers, der, wenn er durch
eine Gesetzesrevision dem staate und den Gemeinden notwendige Einnahmen
entziehen Will, auch darauf bedacht sein muss, dass dabei die genannten
Gemeinwesen nicht in eine missliche finanzielle Lage geraten. Wenn nun
über den Willen der Initianten oder eines Teils derselben Zweifel bestehen
sollten, so ist der Auslegung der Vorzug zu geben, die eine vernunftige ·
n voraussetzt.

Ublglaksgudä letzte Satz des ersten Begehrens: . Diese Abänderungen
treten auf 1. Januar 1922 in Kraft es den Unterzeichnern der Initiative
zum Bewusstsein gebracht habe, dass es sich trotz der aussern Verbindung
der Begehren um zwei selbständige, innerlich getrennte Vorschläge handeln
solle, ist kaum anzunehmen. Es wäre möglich gewesen, das Abänderungsgesetz
erst nach dem 1. Januar 1922 zu erlassen und trotzdem den Beginn seiner
Wirksamkeit auf diesemZeitpunkt festzusetzen. Der Grosse Rat hätte
auch, Wie in einein Gutachten, das Prof. Blumenstein der kantonalen
Finanzdirektion abgegeben hat, gezeigt wird, den ausgearbeiteten Entwurf,
wenn dieser den Gegenstand einer selbstandigen Initiative bildete,
keineswegs notwendig vor dem 1. Januar 1922 dem Volke unterbreiten
müssen. Die Unterzeichner der Initiative sahen in dem erwähnten Satze
über das Inkrafttreten, soweit sie ihm eine Bedeutung für den Zeitpunkt
der Annahme des Gesetzes bedegten, wohl nur ein Mittel zur Beschleunigung
der Behandlung

1 66 Staatsrecht.

der Initiative. Unter diesen Umständen besteht für das Bundesgericht
kein Grund, von der Annahme des Grossen Rates, dass die beiden
Initiativbegehren ein zusammenhängendes Ganzes bilden, abzuweichen,
zumal da es Sich in Fragen, die speziell nur eine bestimmte einzelne
Kantonsverfassung betreffen, nicht ohne Not in Widerspruch mit der Ansicht
der obersten, zu deren Auslegung zuständigen, kantonalen Behörde setzt.

Handelt es sich aber um ein einheitliches Initiativbegehren, so konnte
es der Grosse Rat nach Art. 9 KV (vgl. die Ausführungen unter'Ziff. 1
hievor) wegen der doppelten dafür- gewählten Form als formell mangelhaft
erklären und zurückweisen. Art.. 104 KV, der sich auf ein Volksbegehren
bezieht, das mehrere unter sich verschiedenartige Gegenstände umfasst,
war demnach nicht analog anwendbar.

Da somit Art. 9 KV nicht als verletzt anzusehen ist,

liegt auch die Rechtsverweigerung, über· die sich die

Rekurrenten in zweiter Linie beschweren, nicht vor.

Demnach erkennt das Bundesgericht : Der Rekurs wird abgewiesen.

,)Niederlassungsfreiheit. N° 23. 187

IV. NIEDERLASSUNGSFBEIHEITLIBERTÉ D'ÉTABLISSEMENT

23. Urteil vom 11. Februar 1922 i. S. Wiederkehr gegen Regierungsrat
St. Gallen.

Art. 45
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 45 Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes - 1 Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
1    Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
2    Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend über seine Vorhaben; er holt ihre Stellungnahmen ein, wenn ihre Interessen betroffen sind.
BV: Pflicht zur Hinterlage von Ausweisschriften am Orte der
Niederlassung. Bei mehrfacher Niederlassung muss sich der Ort der späteren
Niederlassung mit einem Ausweis über die Hinterlage der Schriften am
Orte der früheren Niederlassung begnügen.

A. Der Rekurrent Max Wiederkehr, geb. 1895, von Gontenschwil (Kanton
Aargau), ledig, hielt sich seit seiner Geburt mit kurzer Unterbrechung
in Zürich auf, wo er seinen Heimatschein eingelegt hat. Seit dem 1. Mai
1920 ist er bei der Firma Marchev & Cle angestellt, die in Flawil
(Kanton St. Gallen) eine Strumpffabrik betreibt und in Zürich ein Bureau
besitzt. Wiederkehr arbeitete bis zum 20. März 1921 auf dem Bureau _in
Zürich; von da an hatte er sich in der Hauptsache in Flawil zu betätigen,
muss aber, vom Geschäfte aus, jeden Samstag auf dem Bureau in Zürich
sein. Er hat infolgedessen in Flawil ein Zimmer gemietet ; in Zürich,
wo er jeweilen über den Sonntag bleibt, wohnt er mit Mutter und Schwester
in gemeinsamem Haushalt.

Das Kontrollbureau in Flawil verlangte von ihm die Hinterlegung seines
Heimatscheines, weil er dort Wohnsitz habe. Der Rekurrent weigerte sich,
weil er seinen Wohnsitz in Zürich beibehalten habe. Der Gemeinderat von
Flawil und auf Beschwerde hin der Regierungsrat des Kantons St. Gallen,
letzterer mit Entscheid vom 28. Oktober 1921, erklärten ihn aber
für verpflichtet, der Auflage nachzukommen, wobei für den Fall der
Nichterfüllung Einleitung des Straf-

AS 48 I 1922 12
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 48 I 156
Datum : 13. Mai 1922
Publiziert : 31. Dezember 1922
Quelle : Bundesgericht
Status : 48 I 156
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : 156 ' Staatsreeht. III. POLITISCHES STIMMUND WAHLRECHTssDROIT ÉLECTORAL ET DROIT


Gesetzesregister
BV: 45 
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 45 Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes - 1 Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
1    Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
2    Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend über seine Vorhaben; er holt ihre Stellungnahmen ein, wenn ihre Interessen betroffen sind.
121
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 121 - 1 Die Gesetzgebung über die Ein- und Ausreise, den Aufenthalt und die Niederlassung von Ausländerinnen und Ausländern sowie über die Gewährung von Asyl ist Sache des Bundes.
1    Die Gesetzgebung über die Ein- und Ausreise, den Aufenthalt und die Niederlassung von Ausländerinnen und Ausländern sowie über die Gewährung von Asyl ist Sache des Bundes.
2    Ausländerinnen und Ausländer können aus der Schweiz ausgewiesen werden, wenn sie die Sicherheit des Landes gefährden.
3    Sie verlieren unabhängig von ihrem ausländerrechtlichen Status ihr Aufenthaltsrecht sowie alle Rechtsansprüche auf Aufenthalt in der Schweiz, wenn sie:
a  wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts, wegen einer Vergewaltigung oder eines anderen schweren Sexualdelikts, wegen eines anderen Gewaltdelikts wie Raub, wegen Menschenhandels, Drogenhandels oder eines Einbruchsdelikts rechtskräftig verurteilt worden sind; oder
b  missbräuchlich Leistungen der Sozialversicherungen oder der Sozialhilfe bezogen haben.86
4    Der Gesetzgeber umschreibt die Tatbestände nach Absatz 3 näher. Er kann sie um weitere Tatbestände ergänzen.87
5    Ausländerinnen und Ausländer, die nach den Absätzen 3 und 4 ihr Aufenthaltsrecht sowie alle Rechtsansprüche auf Aufenthalt in der Schweiz verlieren, sind von der zuständigen Behörde aus der Schweiz auszuweisen und mit einem Einreiseverbot von 5-15 Jahren zu belegen. Im Wiederholungsfall ist das Einreiseverbot auf 20 Jahre anzusetzen.88
6    Wer das Einreiseverbot missachtet oder sonstwie illegal in die Schweiz einreist, macht sich strafbar. Der Gesetzgeber erlässt die entsprechenden Bestimmungen.89
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
initiative • ausgearbeiteter entwurf • kv • frage • wille • verfassung • regierungsrat • bundesgericht • stimmberechtigter • kantonales steuergesetz • weiler • gemeinde • entscheid • heimatschein • hauptsache • frist • bundesversammlung • kantonsverfassung • autonomie • bundesverfassung
... Alle anzeigen