I. GLEICHHEIT VOR DEM GESETZ (RECHTSVERWEIGERUNG) ' ÉGALITÉ DEVANT LA LOI
(DEN! DE JUSTICE)
58. Urteil vom 12. November 1921 i. S. Salami gegen Untersuchungsrîchter
und Staatsanwalt . des Mittellandes Bern.
Begriff der Unterschlagung nach kantonalem Recht (Bern).
Begehungsort. Die Untersuchungsbehörde, bei der gegen einen
Kantonseinwohner wegen Aneignung einer ihm im Kanton anvertrauten Sache
Strafklage erhoben wird, kann ohne Rechtsverweigerung die Verfolgung
nicht mit der Begründung ablehnen, dass die Aneignungshandlung nach den
vom Kläger bestrittenen ausserprozessualen Angaben des Angeschuldigten
ausserhalb des Kantons begangen Wäre und der Kläger für das Gegenteil
keine Anhaltspunkte beigebracht habe, sondern ist verpflichtet, den
Tatbestand nach dieser Richtung im Untersuchungsveriahren abzuklären,
bevor sie das letztere wegen örtlicher Unzuständigkeit einstellt.
A. Der Rekurrent Salami, von Torre de Piccinati, Italien, Uhrenfabrikant
in Biel sandte am 24. September 1920 der Kollektivgesellschaft Bommer &
Studer Importation und Exportation, Bern und Bombay , bestehend aus
den beiden in Bern wohnhaften unbeschränkt haftenden Teilhabern Eugen
Studer und Albert Bammer nach ihrem Sitze Bern eine Partie Uhren. Die
AS 47 I 1921 ao
448 ' Staatsrecht.
darüber ausgestellte Rechnung trägt nach der bei den Akten befindlichen
Kopie am Kopfe unter der Adresse der Empfänger den Vermerk: en
eonsignation, sauf retour 'entretemps, les montres seront facturées
fin décembre a. c. Davon wurde in der Folge eine Anzahl retourniert ;
der Rest, den Bommer & Studer behielten, hatte nach einer von Salami
am 15. Dezember 1920 darüber ausgestellten zweiten Faktur einen Wert
von 416 Fr. 50 Cts. Auf eine Mahnung des Rekurrenten um Rückgabe der
Uhren antworteten Bommar & Studer am 9. Februar 1921 : Nous possédons
votre honorée du 28 janvier et avons l'honneur de vous informer que nous
sommes disposés de demander le retour immédiat de vos échantillans. Vous
nous avez donné votre collection en consignation et restera celle ei
toujours votre
propriété. Pour Votre 'gouverne nous vous informons _
que notre sieur Studer nous a transmis quelques {ommandes sur vos
articles. Nous sommes bien préts de vous favoriser de ces ordres mais
devons nous abstenir pour le cas où vous demanderiez le retour de vos
échantillons, car nous ne pouvons en tout moment changer les fournisseurs.
Als der Rekurrent am Il. Juli 1921 neuerdings reklamierte, wurde er von
Bommer mit Post-
karte vom 19. Juli an Studer gewiesen, der die Kollek.
tion, wie vereinbart, auf die Ge'Schäftsreise nach BritischIndien
mitgenommen hahe und dafür verantwortlich sei. Er schrieb darauf am
20. Juli an Studer nach Bern, indem er auf seine verschiedenen früheren
Mahnungen
an Bommer & Studer Bezug nahm, und beifügte :__
De votre maison j'ai eu la réponse en san temps que ces échantillons
étaient près de vous en voyage. et que sitöt votre retour en Suisse
ces pièces me seraient rendues. Sachant votre retour en Suisse depuis
longtemps, j'ai écrit à la maison Bommer & Studer pas moins de quatre
fois sans avoir une réponse de leur part. Je leur ai envoyé une chargée
la semaine passée à laquelle je reeois une carte sur laquelle ils disent
de les réclamerGleichheit vor dem Gesetz. N° 58. 449
directement à vous que vous étes responsable de ces échantillons. Je
vous prie donc, de me les faire parvenir sans faute an plus tard jusqu'à
la fin du mais, autrement je ferai d'autres démarches. Studer erwiderte
darauf am 21. Juli, das er von den früheren Briefen des Rekurrenten keine
Kenntnis gehabt habe: Je ne savais non plus si nous avions acheté ces
échantillons à notre propre compte ou seulement en soumission puis-que
ce n'est pas moi qui ai traité l'affaire avec vous, c'était plutöt
Mrs. Bommer et Aberegg. Je ne peux pas comprendre que Monsieur Bommer
vous écrit que c'est moi qui vous est responsable pour ces montres; car
celles ci étaient facturées à Bammer & Studer et non à Studer. C'est
done la maison Bommer & Studer qui vous doit le montant de 416 fr. 50
e. et pas Mr. Studer. Veuillez done écrire à Mr. Bammer qu'il vous paye.
la moitié de ce montant et aussitöt que je sache que Mr. Bommer vous
a payé la moitié, je vous verserai immédiatement la seconde moitié.
Am 29. Juli setzte sodann der Rekurrent Bommer & Studer nochmals Frist
zur Erstattung der Uhren oder ihres Preises bis
,zum 3. August und am 5. August liess er eine letzte
gleiche Aufforderung durch seine Vertreter, das Advokaturbureau
Bossard und Hofmann in Biel, an die beiden Gesellschafter persönlich
ergehen. Darauf schrieb Bommer am 6. August 1921 an die genannten
Vertreter: Herr Salami hat uns unterm 24. September die van ]hnen
bezeichneten Uhren übergeben, welche Herr Studer zwecks Aufnahme von
Bestellungen nach BritischIndien mitgenommen hat. Da die Krisis in
BritischIndien jedes Geschäft verunmöglichte, ist Herr Studer im Mai
d. J. nach der Schweiz zurückgekehrt. Auf mein Befragen, wie es mit den
uns in Soumission gegebenen Uhren stehe, erklärte er mir, dass er etwas
davon ver-
kauft habe und der Rest noch drüben liege. Ich selbst
habe Herrn Studer vor seiner Abreise und mit Schreiben
,vom 25. April a. c. darauf aufmerksam gemacht, dass
450 ss Staatsrecht.
die uns in Soumission gegebenen Uhren auf keinen Fall verkauft
werden dürfen, sondern es müssen solche unbeschädigt den betreffenden
Besitzern wieder zurückerstattet werden. Wenn nun Herr Studer trotzdem,
allerdings in äusserster Notlage, da er über keine Existenzmittel mehr
in Indien verfügte, einzelne Uhren davon verkaufte, so kann ich als
Kollektivgesellschafter für die Handlungen des Herrn Studer auf keinen
Fall strafrechtlich belangt werden. '
Am 7. September 1921 reichte infolgedessen Salami, nachdem inzwischen
über die Firma Bommer & Studer der Konkurs eröffnet worden war, durch
seinen Anwalt gegen die beiden Teilhaber beim Regierungsstatthalter-amt
Bern Strafanzeige wegen Unterschlagung ein. Es
wird darin zunächst das Rechtsverhältnis zwischen den
Parteien erörtert und als Konsignation oder Soumission bezeichnet.
Das heisst, das Verhältnis gestaltete sich so, dass Salami Eigentümer
der Uhren blieb, und die beiden entweder die Uhren abzuliefern oder
den dafür erhaltenen Gegenwert zu erstatten hatten. Sobald bei diesem
Rechtsverhältnis die beiden Empfänger aus irgend einem Grunde die Uhren
nicht mehr in natura erstatten können, hat sich der Empfänger der Unter--
schlagung schuldig gemacht; Das Delikt der Unter--
schlagung ist ebenfalls gegeben, wenn der Empfänger die Ware verkauft,
den Erlös aber nicht sofort abliefert und dahingehende Aufforderungen
erfolglos bleiben. Sodann wird auf die verschiedenen Mahnungen des Klägers
und die Antworten der Angeschuldigten, insbesondere das Schreiben Bommers
an Bossard und Hofmann vom 6. August verwiesen. Dadurch ist festgestellt,
heisst es sodann zum Schluss, falls die Angaben des Bommer richtig sind:
1. dass die Behauptung Studers, er habe nicht gewusst, dass die Ware
noch im Eigentum von Salami stehe, unrichtig ist;
2. dass Studer die Uhren zum Teil verkauft und den Erlös für sich behalten
hat .....Gleichheit vor dem Gesetz. N° 58. 451
Die beiden Angeschuldigten, denen die Uhren gemeinsam als Firma übergeben
wurden, wussten, dass dieselben Eigentum des Salami waren und dass sie
die Verpflichtung zur Rückgabe derselben hatten. Die Uhren haben sie
aber offenbar verkauft und den Erlös für sich verwendet. Sie haben,
je nach der rechtlichen Anschauung, Unterschlagung an den Uhren selbst
oder an dem dafür erhaltenen Erlös, jedenfalls aber eine Unterschlagung
begangen. In diesem Sinne wird anmit Strafanzeige eingereicht.
Der Untersuchungsrichter II von Bern, dem die Sache vom
Regierungsstatthalter zur weitem Verfolgung überwiesen wurde, ordnete
zunächst am 14. September 1921 die rogatorische Einvernahme des Anzeigers
in Biel an mit dem Bemerken: Wenn Salami, wie wir vermuten, Ausländer
ist, kann die vorliegende Strafuntersuchung nicht an die Hand genommen
werden, weil die allfällige Unterschlagung nach dem Inhalt der Anzeige
selbst nicht in der Schweiz, sondern in BritischIndien begangen worden
ist, und zwar nur von Eugen Studer, und ferner, weil nach Art. 4 des
Gesetze betref- , fend den örtlichen Geltungsbereich des bernisohen
Strafgesetzbuehes im Ausland begangene Verbrechen und Vergehen nur dann in
der Schweiz verfolgt werden können, wenn der Geschädigte ein Schweizer
ist. In der betreffenden Einvernahme vor dem Untersuehungsrichter
von Biel am 16. September 1921 sagte der Rekurrent ssu. a. aus: Es
handelt sich nicht um eine gewöhnliche Uebergabe einer Anzahl Uhren
mit dem üblichen Soumissionsvorbehalt, sondern um eine absolut nicht
zum Verkauf bestimmte Musterkollektion, welche ich der Firma Studer &
Bommer als Exporthaus auf ihre Bestellung hin nach Bern sandte, behufs
allfälliger Anhahnung eines Uhrenhandels mit Indien. An Hand dieser
verschiedenartigen Muster versprechen die beiden Herren, in Indien für
mich Bestellungen in diesem oder jenem Genre aufzutreiben zu suchen .....
Bommer behauptet allerdings, Studer habe die Uhren
452 Staatsrecht.
wahrscheinlich in der Klemme in Indien verkauft, aber das behauptet er
nur, um sich der Verantwortung zu entziehen ..... Vielleicht oder sehr
wahrscheinlich haben die zwei die Kollektion, als sie das Wasser an den
Hals steigen sahen, in nächster Nähe verwertet. Das muss zunächst eben
festgestellt sein. si
Am 19. und 21. September 1921 verfügte jedoch der Untersuchungsrichter
II von Bern mit Genehmigung der Staatsanwaltschaft des Mittellandes:
1. Der Untersuchung gegen Eugen Studer und Albert Bammer wegen
Untersehlagung von Kommissionswaren im Werte von 416 Fr. 50 Cts.,
begangen im Frühjahr 1921 in Britisch-Indien durch Eugen Studer, werde
mangels Zuständigkeit der bernischen Gerichte keine weitere Folge gegeben
(Art. 4
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 4 - 1 Diesem Gesetz ist auch unterworfen, wer im Ausland ein Verbrechen oder Vergehen gegen den Staat und die Landesverteidigung (Art. 265-278) begeht. |
|
1 | Diesem Gesetz ist auch unterworfen, wer im Ausland ein Verbrechen oder Vergehen gegen den Staat und die Landesverteidigung (Art. 265-278) begeht. |
2 | Ist der Täter wegen der Tat im Ausland verurteilt worden und wurde die Strafe im Ausland ganz oder teilweise vollzogen, so rechnet ihm das Gericht die vollzogene Strafe auf die auszusprechende Strafe an. |
betreffend örtlichen Geltungsbereich des StGB vom -
5· Juli 1914).
2. Die Kosten des Verfahrens werden dem Staate auferlegt.
3. Der Kläger Giacomo Salami, sei für seine Zivilansprüche an den
Zivilrichter und für seine Strafansprüche an die zuständigen Gerichte
in Britisch-Indien verwiesen.
Die Erörterungen und Vermutungen des Klägers in seiner Aussage,
so heisst es in den Motiven, nützten nichts gegenüber der in der
Anzeige behaupteten und nicht zurückgenommenen Tatsache, dass der
eine Angeschuldigte, Studer, die Uhrenkollektion bestimmungsund
vertragsgemäss nach Indien mitgenommen habe, sodass also durch diese
Mitnahme keinesfalls eine Unterschlagung begangen sein könne. Erst durch
die zugestandenermassen in Indien, nicht etwa in Biel oder sonstwo in
der Schweiz vorgenommene Veräusserung der Uhren, kann eine Untersehlagung
begangen worden sein und zwar eben in Indien.
C. Gegen diesen ihm am 23. September 1921 eròffneten Beschluss hat Salami
die staatsrechtliche Be-Gleichheit vor dem Gesetz. N° 58. 453
schwerde an das Bundesgericht ergriffen mit dem Begehren, er sei wegen
Verletzung von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
die Begründung wird, soweit nötig, in den nachstehenden Erwägungen Bezug
genommen werden.
D. Der Untersuchungsrichter II von Bern und der Staatsanwalt des
Mittellandes haben auf Abweisung der Beschwerde angetragen. Aus
ihrer gemeinsamen Vernehmlassung ist hervorzuheben: auf Seite 5 der
Strafanzeige sei vom Kläger selbst, gestützt auf die schriftlichen
Angaben des Angeschuldigten Bammer in seinem Briefe vom 6. August 1921,
festgestellt worden, dass die Uhren von dem Mitangeschuldigten Studer,
zwecks Aufnahme von Bestellungen nach BritischIndien, mitgenommen
worden seien und dass Studer dort in der Not einen Teil davon verkauft
habe. Es fehlten in der Klage wie in der ergänzenden Aussage des Klägers
jegliche Angaben und Beweismittel über einen allfällig anderen Ort des
Verkaufes der Uhren. Mit blossen Vermutungen, die in der Verlegenheit
gemacht werden, könne ein Untersuchungsrichter nichts anfangen. Zu allem
Ueberfluss habe der Rekurrent bei der Einvernahme vom 16. September selbst
zugestanden, dass er die Kollektion den Angeschuldigten behufs Anbahnung
eines Uhrenhandels in Indien übergeben habe, womit das Schreiben Bommers
vom 6. August 1921 übereinstimme. Sind nun die Uhren, wie unter diesen
Umständen ohne weiteres angenommen werden muss, vom Angeschuldigten
Studer zugestandenermassen in Indien veräussert worden, so ist auch die
Unterschlagung dort begangen. Daran ändere der im Rekurse angerufene §
} des Gesetzes vom 5. Juli 1914, wonach der Täter die Tat da begehe, wo
er sie ausgeführt, u n d da, wo der Erfolg eingetreten ist, nichts. Der
Erfolg des strafbaren Handelns (Schaden für den Eigentümer) sei hier eben
eingetreten mit dem Augenblicke, wo Studer. die Uhren verkauft und den
454 Staatsrechî.
Erlös für sich verwendet habe, und folglich auch da, wo dieser Verkauf
bezw. diese Verwendung stattgefunden habe, und könne nicht deshalb,
weil der Geschädigte im Kanton Bern, in Biel, wohne, hierhin verlegt
werden, ganz abgesehen davon, dass dann die Klage in Biel und nicht in
Bern anhängig zu machen gewesen ware.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung :
Nach § 219 Ab". 1 des bernischen StGB macht sich der Unterschlagung
schuldig, wer eine fremde bewegliche Sache, deren Besitz oder Gewahrsam
er mit der Verpflichtung erlangt hat, sie zu verwahren, verwalten,
zurückzugeben oder abzuliefern, sich in diebischer Absicht aneign'et.
Die Unterschlagung, so
bestimmt anschliessend an diese Begriffsbestimmung '
Abs. 2, ist vollendet, sobald der Inhaber die Sache eigenmächtig
veräussert, verbraucht, verpfändet, beiseiteschafft oder sie dem zur
Zurückforderung Berechtigten wissentlich ableugnet. Den bernischen
Strafgesetzen unterliegen nach Art. 1 oes Gesetzes vom 5. Juli 1914 alle
im Kanton Bern begangenen strafbaren Handlungen, wobei als Begehungsort
nach Abs. 2 in Lösung einer alten Streitfrage .owohl der Ort gelten
soll, wo der Täter die strafbare Handlung aus- führt, als derjenige,
wo ihr Erfolg eintritt. Es ist nicht nötig, zu der Behauptung des
Rekurses Stellung zu nehmen, dass hier die Zuständigkeit der bernischen
Behörden jedenfalls aus dem letzteren Gesichtspunkte unter allen
Umständen gegeben Wäre, indem der Erfolg der Unterschlagung in dem
Entzuge der Verfügungsgewalt über die Sache bestehe, diese Wirkung,
die Vermögensverminderung aber da eintrete, wo der Eigentümer der Sache
(Geschädigte) wohne. Denn der Rekurs muss auch dann gutgeheissen werden,
wenn man diese Auffassung ablehnt und der entgegengesetzten Ansicht des
Untersuchungsrichters und Staatsanwaltes, wonach
_sièsiGleichheit vor dem Gesetz. N° 58. 455
Ort der strafbaren Handlung, d. h. der rechtswidrigen Aneignung der Sache
und des Erfolges hier zusammenfallen, beitritt oder sie wenigstens nicht
als willkürlich erachtet.
Die Verneinung der Kompetenz der bernischen Gerichte würde dann
voraussetzen, dass jene Handlung ausserhalb des Kantons ausgeführt
worden wäre. Von der Voraussetzung, dass es sich hier und zwar nach
den Angaben des Strafklägers selbst so verhalte, geht denn auch der
angefochtene Einstellungsbeschluss aus. Diese Annahme ist aber beim
heutigen Stande der Akten eine durchaus willkürliche und unzulässige.
Wenn der Rekurrent in seiner Anzeige vom 7. September 11. a. auf das
Schreiben Bommers vom 6. August 1921 verwies, so hat er doch damit
die darin enthaltene Darstellung nicht etwa als zutreffend anerkannt,
sondern mit dem Zusatze wenn diese Angaben richtig sind , klar zu erkennen
gegeben, dass er diese Frage als eine offene und noch zu untersuchende
betrachtet wissen wolle. Und ebensowenig kann aus der Erklärung, dass die
Musterkollektion nach den getroffenen Abreden von Studer zur Aufnahme von
Bestellungen nach Indien hätte mitgenommen werden sollen, das Zugeständnis
herausgelesen werden, dass dies tatsächlich geschehen sei. Auf Seite 4
der Anzeige wird ausdrücklich von der angeblichen Mitnahme der Uhren
durch Studer nach Indien gesprochen, auch diese Tatsache also bestritten
oder doch zum mindesten in Zweifel gezogen. Dem entsprechen denn auch die
zusammenfassenden Erörterungen am Schlusse der Eingabe; es wird darin die
Anschuldigung der Unterschlagung nicht etwa auf die Angaben Bommers vom
6. August gestützt, sondern lediglich ausgeführt, dass nach der Sachlage
die Angeklagten die Uhren offenbar eigenmächtig verkauft und den Erlös
für sich verbraucht hätten. Mit andern Worten, der Rekurrent beschränkte
sich auf die allgemeine Behauptung, dass aus dem ganzen Verhalten der
456 staatsrecht-
Angeschuldigten auf eine unerlaubte Aneignung der Sachen geschlossen
werden müsse, ohne über die Frage, wie, wann und wo diese unerlaubte
Verfügung erfolgt sei, bestimmte Anbringen zu machen oder diejenigen
der Angeschuldigten selbst als richtig anzuerkennen. Hätte über diesen
Sinn der Anzeige ein Zweifel bestehen können, so wurde er durch die
vom Untersuchungsrichter selbst veranlasste ergänzende Einvernahme vom
16. September gehoben, bei der der Rekurrent die Darstellung Bommers
ausdrücklich bestritt, als blosse Ausrede hinstellte und der Ansicht
Ausdruck gab, dass die Veräusserung der Uhren, ohne dass sie zuvor
den Kanton verlassen hätten, wahrscheinlich schon in Bern in einem
Augenblick finanzieller Bedrängnis erfolgt sei. Es ist demnach eine
offenbare Aktenwidrigkeit und damit
eine Verletzung von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
der Begründung keine Folge gegeben wurde, dass die strafbare
Aneignungshandlung, sofern eine solche vorliege, nach dem Anzeiger selbst
ausserhalb des Kantons, im Auslande, begangen worden Wäre. Die Willkür
wäre noch evidenter, wenn mit dem zugestandenermassen (wie es nach
der Beschwerdeantwort den Anschein haben könnte) die Anbringen der A n
g e s c hu ldi gt e n, Bommer & Studer über die Tatsache und den Ort des
Verkaufs gemeint sein sollten. Wie jede richterliche Entscheidung, so kann
auch diejenige über die örtliche Zuständigkeit in einer Strafsache nicht
einfach auf die einseitigen Behauptungen einer Partei, sondern nur auf den
wirklich gegebenen Tatbestand gestützt werden. Der Untersuchungsrichter
konnte demnach unmöglich berechtigt sein, die brieflichen Angaben
der Angeschuldigten darüber, die in Wirklichkeit kein Zugeständnis,
d. h. die Anerkennung einer ihnen ungünstigen Tatsache, sondern eine
Einrede, die Aufstellung einer Schutzbehauptung enthielten, die sie vor
der Verfolgung im Kanton schützen sollte, einfach als wahr hinznnehmen,
ohne irgendwelche Fest-
Gleichheit vor dem Gesetz. N° 58. ' . 457
stellungen über ihre Richtigkeit} zu machen oder auch nur die
Angeschuldigten darüber in gehöriger Form einzuvernehmen. Die nicht im
angefochtenen Entscheid, sondern erst in der Beschwerdeantwort erhobene
Einwendung aber, dass der Reknrrent selbst keine Anhaltspunkte und
Beweismittel beigebracht habe, welche geeignet wären, die behauptete
Aneignungshandlung als im Kanton geschehen erscheinen zu lassen, beruht
auf einer offenbaren Verkennung der Rechtslage. So gut wie die Anhandnahme
der Untersuchung an sich nach allgemeinen Rechtsgmndsätzen nicht von der
Gewissheit eines Vergehens abhängig gemacht Werden kann, sondern dazu die
Wahrscheinlichkeit oder auch nur der Verdacht eines solchen genügen muss,
so gut muss dies auch für die Frage gelten, ob die strafbare Handlung,
wenn eine solche vorliegt, im Kanton begangen sei. Der Verdacht, wenn
nicht sogar die Wahrscheinlichkeit, dass dies der Fall sei, kann aber
dann unmöglich abgelehnt werden, wenn es sich um die Anschuldigung
der Unterschlagung einer Sache durch eine im Kanton wohnhafte Person,
die auch im Zeitpunkt als sie die Sache erhielt, schon hier sesshaft
war, handelt. Mit der Feststellung, dass der Angeschuldigte hier den
Mittelpunkt seiner persönlichen und geschäftlichen Beziehungen hat und
schon damals hatte, ist von vorneherein auch eine gewisse Vermutung
dafür gegeben, dass es hier war, wo die Verfügung über den Gegenstand
erfolgte. Sie kann nicht schon dadurch allein beseitigt werden, dass
nach den getroffenen Abreden der Empfänger mit der Sache in einer
bestimmten Weise hätte verfahren, sie ins Ausland mitnehmen sollen,
da ja das Delikt der Unterschlagung gerade auf der Voraussetzung eines
Bruches des geschenkten Vertrauens, derNichteinhaltung des gegebenen
Wortes beruht. Indem der Anzeiger glaubhaft macht, dass er die Sache dem
Angeschuldigten auf Grund eines Verhältnisses, das sie nicht in dessen
Eigentum brachte,
458 staatsrecht-
übergeben hat und dass ihm deren Rückerstattung trotz erfolgter Mahnungen
unter Umständen, die auf eine diebische Aneignung schliessen lassen,
verweigert wird, hat er die Anforderungen, die vernünftigerweise an
ihn gestellt werden können, erfüllt. Weitere Angaben darüber, was
seither aus der Sache geworden ist, wie und unter welchen Umständen
die behauptete Aneignung erfolgt sein soll, können ihm nicht zugemutet
werden, wie er denn regelmässig, nachdem er den Gegenstand einmal
aus der Hand gegeben hat, dazu gar nicht im Stande sein würde. Die
Feststellung des Sachverhalts nach dieser Richtung ist eben die Aufgabe
der Untersuchungsbehörde, der dazu vom Gesetze die erforderlichen
Zwangsmittel zu Gebote gestellt sind, und kann von ihr in einem Falle,
wo es sich, wie hier, um eine Klage gegen einen Kantonseinwohner wegen
Aneignung einer ihm im Kanton anvertrauten Sache handelt, ohne offenbare
Rechtsverweigerung nicht mit der Erwägung abgelehnt werden, es fehle der
Beweis dafür, dass die Aneignung im Kanton erfolgt sei. Dazu kommt, dass
auch nach der Darstellung Bommers im Briefe vom 6. August selbst, deren
Richtigkeit angeblich in der Anzeige nicht bestritten werden sein soll, ja
nicht etwa alle Uhren, sondern nur ein Teil davon durch Studer in Indien
veräussert worden Wären, während der Rest noch (allerdings in Indien,
liegend) vorhanden wäre. Inhezug auf die Frage einer Unterschlagung
durch Nichtrückerstattung dieses Restes aber fehlt es für die Verneinung
der örtlichen Zuständigkeit im angefochtenen Entscheide überhaupt an
jeder Rechtfertigung. Die Nichtanhandnahme der Untersuchung inbezug auf
alle anvertrauten und angeblich veruntreuten Waren unter der Annahme
einer durch die Veräusserung derselben in Indien 0 o rt begangenen
Unterschlagung wäre daher insofern auch aus diesem Grunde unhaltbar
und willkürlich.
Der Rekurs ist demnach in dem Sinne begründet
Gleichheit vor dem Gesetz. N° 58. 459
zu erklären, dass der Untersuchungsrichter II von Bern die begehrte
Strafuntersuchung an die Hand zu nehmen und insofern durchzuführen
hat, als es zur Abklärung der Frage, was tatsächlich mit den vom
Rekurrenten den Angesohuldigten anvertrauten Uhren geschehen ist, und zur
Entscheidung darüber, wo eine allfällige rechtswidrige Aneignung erfolgt
wäre, auf Grund eines objektiven, nicht bloss auf den Behauptungen der
Angeschuldigten beruhenden Tatbestandes nötig ist. Dabei wird für diese
neue Entscheidung zu beachten sein, dass eine Unterschlagung offenbar auch
nach bernischem Rechte nicht nur durch die Veräusserung, Beiseiteschaffung
oder die Ableugnung des Besitzes der Sache, sondern je nach den Umständen
auch schon durch deren blosse Vorenthaltung trotz Rückgabeaufforderung
begangen werden kann, falls die Weigerung der Rückerstattung nach der
ganzen Sachlage auf die Absicht einer diebischen Aneignung schliessen
lässt. Wenn Art. 219 Abs. 2
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 219 - 1 Wer seine Fürsorge- oder Erziehungspflicht gegenüber einer minderjährigen Person verletzt oder vernachlässigt und sie dadurch in ihrer körperlichen oder seelischen Entwicklung gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. |
|
1 | Wer seine Fürsorge- oder Erziehungspflicht gegenüber einer minderjährigen Person verletzt oder vernachlässigt und sie dadurch in ihrer körperlichen oder seelischen Entwicklung gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. |
2 | Handelt der Täter fahrlässig, so ist die Strafe Geldstrafe.297 |
sobald der Inhaber die Sache veräussert oder verpfändet, beiseiteschafft
oder ihren Besitz wissentlich ableugnet, so kann dies angesichts der
allgemeinen Begriffsbestimmung des Abs. 1 nicht die Bedeutung haben,
dass nur diese Akte den Begriff der rechtswidrigen Aneignung im Sinne
des ersten Absatzes zu erfüllen vermögen. Vielmehr wird dadurch offenbar
nur der Grundsatz aufgestellt, dass zu der Aneignungsabsicht für die
Vollendung des Vergehens auch deren äusserliche Kundgabe in irgend
einer Form hinzutreten muss, wobei im Anschluss daran einige Arten
solcher Handlungen beispielsweise aufgezählt werden. In diesem Sinne
hat sich denn auch das bernische Obergericht in einem grundsätzlichen
Urteile vom Jahre 1906 bereits ausgesprechen (Zeitschrift des bernischen
Juristenvereins 41 S. 329). Eine solche Unterschlagung, liegend in der
Vorenthaltung der noch vorhandenen Ware, wäre aber hier
.460 Staatsrecht.
auf alle Fälle in Bern, wo die Angeschuldigten erfolglos zu deren
Rückgabe aufgefordert wurden, begangen. Aehnlich läge die Sache, wenn
sich bei den weiteren Erhebungen etwa herausstellen sollte, dass es
sich in Wirklichkeit nicht um eine blosse Musterkollektion , sondern
um Kommissiousware handelte, zu deren Veräusserung die Angeschuldigten
an sich, aber mit der Verpflichtung zur Ablieferung des Erlöses an den
Rekurrenten, berechtigt waren. Da dabei der Vertrieb durch Bereisung
eines überseeischen Landes durch einen der Empfänger in Frage stand,
konnte alsdann die Meinung offenbar nicht die sein, dass derselbe den
Erlös in Spe-Cie, d. h. die gleichen Geldstücke, die er vom Käufer
erhalten, abzuliefern habe, vielmehr konnte der Wille offenbar nur auf
Erstattung einer gleich grossen Summe Geldes, wie er empfangen, und auf
Rechnungslegung darüber nach seiner Rückkehr gehen. Es könnte daher auch
die Unterschlagung nicht schon in der Vermengung des Erlöses mit dem
eigenen Gelde des Kommissionärs oder dem Verbrauche desselben durch ihn,
solange er wenigstens noch der Meinung sein durfte, den Betrag jederzeit
aus den verfügbaren Mitteln der Gesellschaft wieder ersetzen zu können,
sondern erst in der Verweigerung jener Erstattung an den Kommittenten
liegen. Hiefür wäre aber Begehungsort zweifellos Wiederum Bern.
Demnach erkennt das Bundesgericht :
Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen gutgeheissen und der
angefochtene Beschluss des Untersuchungsrichters II von Bern und der
Staatsanwaltschaft des Mittellandes vom 19. u. 21. September 1921
aufgehoben.
Gleichheit vor dem u... ss '. ' 59. 461
59. Urteil vom 24. Dezember 1921 i. S. Einwohnergemeinde Emmen gegen
Luzern.
Grundsatz der Befreiung staatlichen Vermögens von direkter
Besteuerung. Willkür, wenn dieser Satz auch auf die Wertzuwachssteuer
bezogen wird, obwohl das Gesetz diese als indirekte bezeichnet. Natur
und Objekt der Wertzuwachssteuer. Unzulässigkeit extensiver Auslegung
von Bestimmungen, die Steuerprivilegien aufstellen.
A. Das Steuergesetz des Kantons Luzern vom 30. November 1892 bestimmt
in § 2, dass zur Erhebung von direkten Steuern v berechtigt seien: a)
die Einwohnergemeinden für das Polizeiwesen ; b) die Bürgergemeinden
für das Armenwesen; c) die Kirchgemeinden für das Kirchenwesen. Der
Regierungsrat kann auch andern gesetzlich organisierten Gemeinden eine
Steueranlage bewilligen, wenn das Bedürfnis dazu nachgewiesen wird ;
d) der Staat für die Bedürfnisse desselben. In § 3 wird als an das
Polizeiwie an das Armenwesen einer Gemeinde steuerbar erklärt a)
der Kataster, d. h. der Erwerb von Liegenschaften ', b) der persönliche
Erwerb (Berufseinkommen, Arbeitsverdicnst) ; c) das Immobiliarvermögen;
d) das Mobiliarvermögen. g 5 bestimmt, dass der Staatssteuer die
gleichen Gegenstände unterworfen seien, wie den Gemeindesteuern, zudem
das Polizeiund Armengut der Gemeinden. Von jeder Art der direkten
Besteuerung sind nach § 9 frei a) das bewegliche Vermögen des Staates,
sowie seine Liegenschaften, welche zu öffentlichen Verwaltungsoder
Staatszwecken benutzt werden. Die übrigen Liegenschaften desselben
sind gleich andern Liegenschaften im Polizeiund Armenwesen der Gemeinden
steuerpflichtig... Durch ein Gesetz vom 28. Juli 1919 wurde dasjenige vom
30. November 1892 teilweise abgeändert. Es enthält zwei Hauptabschnitte,
A mit dem Titel Direkte Steuern und B mit der Überschrift Indirekte}
Steuern für die Einwohner--