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IX... INTERKANTONALES ARMENRECHT ASSISTANCE GRATUITE INTERCANTONALE
45. Urteil vom 19. Juli 1921 i. S. Zürich, Regierungsrat gegen Graubünden.
lnterkantonales Armenrecht. Unterstützung verarmter Ausländer nach
Staatsvertrag. Ersatzforderung des unterstützenden Kantons gegen einen
anderen, dessen Gemeinde den Ausländer im Zustande schon drohender
Unterstützungsbedürftigkeit abgeschoben hatte, statt selbst das Heim-
schaffungsverfahren einzuleiten. Der beklagte Kanton kann .
sich nicht darauf berufen, dass nach seinem internen Recht die Armenpflege
Gemeindesaehe sei.
A. Mit staatsrechtlicher Klage vom 15. April 1921 hat der Kanton Zürich
gegen den Kanton Graubünden beim Bundesgericht das Begehren gestellt :
der Beklagte sei zu verurteilen dem Kläger alle Kosten zu ersetzen,
die diesem aus der Unterstützung der österreichischen Staatsangehörigen
Frau Eliasch Weber sowie deren drei Kinder bis zur Heimschaiiung schon
entstanden seien und noch entstehen werden.
Frau Eliasch war am 15. Januar 1921 mit ihren Kindern in völlig
mittellosem Zustande von Passug-Araschgen, Gemeinde Churwalden nach
Zürich gekommen und hatte hier vorläufig im Zufluchtshaus der Heilsarmee
Unterkunft gefunden. Vom August 1918 bis April 1920, d. h. bis zur
Uebersiedelung nach Passug Araschgen
hatte sie in Chur gewohnt. Nach einem Berichte des -
Annensekretariates Chur an die Freiwillige und Einwohnerarmenpfiege
Zürich vom 28. Januar 1921 fing sie dort schon bald an, der
Oeffentlichkeit zur Last zu fallen, da es ihr nicht gelingen wollte,
hinreichendeInterkantonale's Armeni-echt N° 45. 325
Arbeit und Verdienst zu finden, um sich und die Kinder durchzubringen
; n die Stadt bezahlte für sie n. &. an Spitalkosten 231 Fr.,
Barunterstützungen in verschiedenen Malen 190 Fr., Auslagen für
Unterbringung der Kinder Während der Krankheit derMutter 108 'Fr.,
wozu noch Unterstützungen seitens wohltätiger Vereine im Werte von über
200 Fr. und einer in Chur wohnenden Schwester Frau Sonderegger Weber in
nicht festgestelltem Betrage kamen : h'otzdem sei es nicht gegangen ,
weshalb das Armensekretariat der Frau die Heimschaffung in Aussicht
gestth habe, wenn sie sich nicht endlich auf eigene Füsse stellen könne
. Der Gemeindevorstand von Churwalden bestätigte am 12. Februar 1921
der Freiwilligenund Einwohnerarmenpflege Zürich, dass Frau Eliasch sich
in der Tat einige Monate in der Gemeinde aufgehalten habe, jedoch ohne
Bewilligung : sie wurde dann aufgefordert unser Gemeindegebiet bis am
15. Januar 1921 zu verlassen, indem wir ihr sonst die Heimschaffung in
Aussicht gestellt haben ; Frau Eliasch war auf unser Gebiet sehriftenund
mittellos gezogen, was uns zu obiger Stellungnahme zwang.
Im Besitze dieser Berichte hatte die zürcherische
ss kantonale Armendirektion sofort dem graubündnerischen
Erziehungsdepartement geschrieben, dass sie auf den Antrag der
Einwohnerarmenpflege Zürich das Heimschaffnngsverfahren eingeleitet
habe, da bis zur Uebernahme durch die österreichischen Behörden noch
geraume Zeit verstreichen werde, aber um Gutsprache Graubündens für
die bis dahin erwachsenden Unterstützungskosten ersuchen müsse, nachdem
die Unterstützungsbedürftigkeit schon hier, vor der Uebersiedelung nach
Zürich vorhanden gewesen und zu Tage getreten sei : eventuell , so wurde
beigefügt, liesse sich denken, dass die Frau mit den Kindern wieder nach
ihrem früheren Wohnorteübernommen, dort weiter unterstützt und von dort
aus heimgeschafft Würde. Das graubnerische Erziehungsdepartement
(Abtei-
326 . Staaten-echt.
lung Armenwesen) lehnte jedoch beide Ansinnen ab, indem es zum
zweiten bemerkte : Es ist ausgeschlossen, dass die Familie Wieder
in eine Gemeinde unseres Kantons aufgenommen werde. Der Kleine Rat
von Graubünden, an den sich die zürcherische Regierung darauf wandte,
deckte mit Beschluss vom 5. und 11. April 1921 den Bescheid seines
Erziehungsdepartements.
Aueh gegenüber der vorliegenden Klage hält er mit Antwort vom 30. April
1921 an seinem ablehnenden _ Standpunkte fest mit der Begründung : der
Kanton Graubünden kenne nur eine Unterstützung-seitens der Gemeinden :
erhabe, von einem kleinen Notstandsfonds und Armenkredit abgesehen, keine
Gelder zur Verfügung, um daraus Unterstützungsbeiträge auszurichten. Falle
ein Ausländer einer Gemeinde dauernd zur Last, so}
habe sie beim Kleinen Rat dessen Heimschaffung nachzusuchen. Hier sei ein
dahingehendes Begehren weder von Chur noch von Churwalden gestellt worden,
was beweise, dass eine derartige Inanspruchnahme der öffentlichen Mittel
nicht vorgelegen habe : die kleineren Beiträge, welche Frau Eliasch
durch die Armenbehörde Chur erhalten habe, bedeutete-n noch keine
regelmässige Unterstützung: sie seien freiwilliger Weise :geleistet
worden. Auch fehle irgendwelcher Beweis dafür, dass die Frau den Kanton
nicht freiwillig, sondern durch die Gemeindebehörden dazu gezwungen,
verlassen habe. Nachdem man sie trotz der vorhergehenden Ausweisung
durch St. Gallen Während 2 % Jahren hier geduldet, ss
sei nicht anzunehmen, dass ihr ein weiteres Verbleiben unmöglich gemacht
worden wäre. Eventuell wäre, da sie ohne behördliche Bewilligung nach
Zürich gekommen sei, das einzig richtige Vorgehen gewesen, die Familie
Wieder dorthin zurückzubefördern, woher sie gekommen war. Ohne einen
solchen Versuch erfolglos unternommen zu haben, könne Zürich nicht jenem
anderen Orte die höheren Kosten belasten, welche die Unterstützung gerade
in der Stadt Zürich verursache. Es Interkantonales Armenrecht N° 45. 32?
sei aber-auch abgesehen hievon die Erstattungspflicht Graubündens
schon grundsätzlich nicht gegeben, nachdem es weder die Frau aus
armenpoiizeilichen oder anderen Gründen zum Verlassen des Kantons
veranlasst noch während des Aufenthaltes hier eine dauernde
Unterstützungshedürftigkeit bestanden habe.
B. Am 4. Mai 1921 hat sodann der Regierungsrat von Zürich noch mitgeteilt,
dass die Familie Eiiasch inzwischen die Rückreise nach Oesterreich
angetreten habe. Die bis dahin zu öffentlichen Lasten entstandenen
Unterstützungsauslagen beliefen sich nach beigelegter Aufstellung der
Freiwilligenund Einwohnerarmenpflege Zürich auf 848 Fr. 30 Cts. Der
Kleine Rat von Granbünden, dem diese Aufstellung zur Vernehmlassung
zugestellt werden ist, hat sie an sich nicht beanstandet, sondern sich
auf die erneute Bestreitung der grundsätzlichen Ersatzpflicht seines
Kantons beschränkt.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung :
Nach Art. 7 des schweizerischen-österreichischen Niederlassungsvertrages
vom 26. Januar und T. April 1875 verpflichten sich die beiden
vertragschliessenden Teile, mittellose Staatsangehörige des anderen Teils,
welche auf ihrem Gebiete erkranken oder verunglücken, mit Inbegriff der
Geisteskranken auf eigene Kosten und ohne Ersatzanspruch gegenüber
dem Heimatstaate bis zu dem Zeitpunkte zu verpflegen, in welchem die
Heimkehr ohne Nachteil für die Betreffenden oder für Dritte möglich
ist. Die Bestimmung ist in der Praxis beider Länder wie übrigens vom
Beklagten nicht in Abrede gestellt wird auch auf die Fälle einfacher
Verarmung ausgedehnt werden. (Bbl. 1887 II S. 672 Nr. 29; LANGHARD,
Niederlassungsrecht der Ausländer in der Schweiz, S. 117.) Sie begründet,
_wie das Bundesgericht in dem Urteile i. S. Zürich gegen Schaffhausen vom
27. September 1917 (AS 43 I S. 303 ff.) entschieden hat, ein Verhältnis
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der Solidarität, eine Interessengemeinschaft zwischen den Kantonen,
die sie verpflichtet, auf die damit gegenüber dem ausländischen
Vertragsstaat eingegangene Verbindlichkeit auch unter sich, bei Ausübung
ihrer hoheitlichen Befugnisse Rücksicht zu nehmen und diese nicht in
einer Weise zu handhaben, welche zur Folge hat, die staatsvertraglich
übernommene Last auf ein anderes Bundesglied abzuwälzen. Eine Verletzung
jener Rücksicht und unzulässige Abwälzung dieser Art liegt aber nach
dem erwähnten Urteil in der Abschiebung einer Person in einen anderen
Kanton nicht nur, wenn jene im bisherigen Aufenthaltskanton bereits
tatsächlich hatte unterstützt werden müssen, sonder-manch schon, wenn
die Unterstützungsbedürftigkeit in den Behörden bekannter oder bei
_pflichtgemässer Aufmerksamkeit
für sie nicht verkennbarer Weise erst drohte. Der Kanton, -
der unter solchen Umständen den Ausländer wegen Schriftenlosigkeit
oder aus irgend einem anderen statthaften Grunde nicht mehr bei sich
dulden Will, darf sich deshalb nicht begnügen, demselben den Aufenthalt
auf seinem Gebiete zu untersagen und ihn an seine Grenze zu stellen,
sondern er hat den Niederlassungsbezw. Aufenthaltsentzug in der Form
zu vollstreeken,
die den Interessen aller durch den Staatsvertrag Mit-
verpflichteten entspricht, d. h. das Heimschaffungsverfahren einzuleiten
und den Ausgewiesenen seinem Heimatstaate zu übergeben.
Im vorliegenden Falle steht aber an Hand der Be-
richte der Gemeindeorgane von Churund Churwalden ss
an die Freiwilligeund Einwohnerarmenpflege Zürich fest, dass sich Frau
Eliasch schon am ersten Orte als unfähig erwiesen hatte, für ihren und
ihrer Kinder
Unterhalt aus eigener Kraft aufzukommen, dass man ss
ihr deshalb wegen der wiederholten Notwendigkeit, ihr aus öffentlichen
Mitteln beizuspringen, die Heimschaffung in Aussicht gestellt hatte,
dass sie auch in Passug-Araschgen, Wohin sie sich infolgedessen
begab,Interkantonales Armenrecht N° 45. 329
ohne Mittel und genügenden Erwerb war und der dortige Gemeinderat sich
durch diesen ihm bekannten Umstand, &. h. die Gefahr einer finanziellen
Belastung der Gemeinde bei längerer Anwesenheit, nicht nur durch
die Schriftenlosigkeit bestimmt fühlte, ihr Frist zum Verlassen
des Gemeindegebietes bis zum 15. Januar 1921 unter Androhung der
Heimschaffung anzusetzen. Es wäre demnach die Pflicht dieser Gemeinden
gewesen, wenn sie die aus dem weiteren Aufenthalte der Familie Eliasch
auf ihrem Gebiete ihnen drohenden Lasten nicht auf sich nehmen wollten,
deren Heimschaflung durchzuführen, bezw. bei der Kanto'nsregierung zu
beantragen. Indem sie statt dessen der Frau Eliasch diese Massnahme nur
androhten, um sie zum Verlassen der Gemeinde zu veranlassen, haben sie
die Aufgabe, deren Erfüllung Graubünden oblag, in unzulässiger Weise auf
ein anderes Bundesglied, Zürich, abgewälzt und es kann dieses, weil es
mit der Durchführung der Heimschaffung und der Unterstützung der Familie
bis dahin fremde Geschäfte an Stelle des dazu eigentlich Verpflichteten
zu besorgen ' gezwungen worden ist, von Graubünden Ersatz der ihm
' daraus entstandenen Auslagen verlangen (vgl. das zitierte
Urteil Erw. 1 und Erw. 2 am Schluss. Die Behauptung der Klagenntwort,
dass Frau Eliasch das graubündnerische Gebiet freiwillig und ohne Zutun
der Gemeindebehörden von Chur und Churwalden verlassen habe, und daher
von einer nnzulässigen Abschiebung im Sinne des Entscheides i. S. Zürich
gegen Schaffhausen nicht die Rede sein könne, steht im Widerspruch mit
dem eigenen gewiss unverdächtigen Zeugnis der erwähnten Gemeindebehörden
selbst, das durch nichts widerlegt worden ist, und ist aktenwidrig. Und
darauf, dass Frau Eliasch während ihres Aufenthaltes in Passug Araschgen
noch keine Unterstützungen bezogen hatte, kann nach dem Gesagten nichts
ankommen, sobald die Lage der Familie derart war, dass bei längerer
Dauer des Auf--
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enthaltes die Gefahr einer solchen Inanspruchnahme der ökientlichen
Wohltätigkeit drohte. Dass dies aber dem Gemeinderat von Churwalden
nic'ht nur bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit hätte bekannt sein müssen,
sondern tatsächlich auch bekannt und mit ein Beweggrund für sein Vorgehen
gegen Frau Eliasch war, ergibt sich wiederum aus seinem eigenen Berichte,
und Würde übrigens schon durch den späteren Verlauf der Dinge in Zürich,
die Lage in der sich die Familie dort befand, in einer jeden ernstlichen
Zweifel ausschliessenden Weise dargetan.
Der Kanton Graubünden kann sich gegenüber dem Anspruch von Zürich
auch nicht darauf berufen, dass nach seinem internen Rechte die
Annenunterstützung Sache der Gemeinden'sei und den kantonalen Behörden
dafür keine Kredite zur Verfügung stehen. Es ist Sache.
der Kantone, dafür zu sorgen, dass den Verpflichtungen, die der Bund
zu Lasten seiner Glieder durch Staatsvertrag übernommen hat, auf ihrem
Gebiete nachgelebt wird, und die Verbände und Selbstverwaltungskörper,
denen sie die Führung gewisser Teile der öffentlichen Verwaltung
anvertraut haben, dazu anzuhalten. Für Lasten, die ihnen aus dem
fehlerhaften Verhalten eines solchen Verbandes erwachsen, mögen sie
allenfalls auf denselben zurückgreifen, dagegen kann es ihnen keinesfalls
zustehen, den .Bund oder einen anderen Kanton, dem daraus Ansprüche
entstanden sind, damit
an jenen zu verweisen. In gleicher Weise hätte auch,
der Umstand, dass von Rechtsweg-en schon Chur die Heimschaffung hätte
anordnen sollen, die Gemeinde Churwalden nur berechtigen können, die
Familie wieder
dorthin zurückzuschaffen oder für deren Unterstützung?
bis zur Heimschaffung auf Chur den Regress zu nehmen, nicht dieselbe einem
anderen Kanton zuzuschieben. , Zu der Frage aber, ob Zürich gehalten und
vom Standpunkte des Staatsvertrages berechtigt war, bevor es seinerseits
die Heimschaffung in die Wege leitete,Interkantonales Armeni-echt N°
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dem Kanton Graubünden die Rückverbringung der Heimzuschaffenden dorthin
anzubieten, braucht deshalb nicht Stellung genommen zu werden, weil aus
"der oben Fakt. A wiedergegebenen Korrespondenz her-
vorgeht, dass es dazu von Anfang an bereit und dass es lediglich der"
Widerstand des graubündnerischen Erziehungsdepartements selbst war,
an dem diese Lösung scheiterte. Es ist nicht verständlich, wie unter
diesen Umständen der Kleine Rat aus der angeblichen Unterlassung eines
solchen Versuchs eine Einrede gegen die Klage herleiten will.
Die Höhe der aus der Heimschaffung und der Unterstützung bis zur
Heimschaffung erwachsenen Auslagen laut Nachtragseingabe vom 4. Mai 1921
ist eventuell nicht bestritten werden.
Demnach erkennt das Bundesgericht : Die Klage wird gutgeheissen und der
Kanton Graubünden verurteilt, dem Kanton Zürich die eingeklagten 848
Fr. 80 Cts. zurückzuerstatten.