41. Urteil vom 1. Oktober 1920 i. S.Wa1ämeier gegen Rheinfelden.
Formelle Rechtsverweigerung, wenn ein Gericht auf eine an sich gültige
Beschwerdeerklärung deshalb nicht eintritt,
weil sie mit einer nach seiner Auffassung ungültigen Rechtsschrift zu
einer einzigen Eingabe verbunden worden ist.
ss A. Dem Rekurrenten wird auf Grund des aargaui-schen
Expropriationsgesetzes Land enteignet. Er macht deswegen
Entschädigungsansprüche gegen die Rekursbeklagte geltend.' Nachdem
die in § 33 des Expropriationsgesetzes vorgesehene Schätzungs-_oder
Exprepriationskommission hierüber am .19. Februar 1920 ihren Entscheid
gefällt hatte, reichte Notar Mahrer am 9. März 1920 dem Gerichtspräsidium
Rheinfelden zu Handen des Obergerichts des Kantons Aargau eine von ihm für
den Rekurrenten verfasste und als Begehren nach § 42 des aargauischen
Expropriationsgesetzes bezeichnete Eingabe "ein, worin gegen den
Entscheid der Expropriationskommission Beschwerde erhoben wird. Die
Eingabe enthält zunächst den. Antrag auf Erhöhung der Entschädigung und
sodann eine Begründung dieses
Begehrens; sie ist sowohl vom Rekurrenten persönlich .
als auch von Notar Mahrer unterzeichnet.
Das Obergericht entschied am 9. April 1920, dass auf die Beschwerde nicht
eingetreten werde, indem es ausführte: Gemäss §42 aarg. Expr.-Ges'. ist
dieViÎeitel-zie hung eines Entscheides der Expropriationskommission
durch Einreichung eines daherigen Begehrens beim Gerichtspräsidenten
zu erklären. Dabei handelt es sich, wenn das Begehren nicht mit einer
Begründung ver sehen ist, nicht um eine Rechtsschrift. Ist dem Be-
gehren aber wie üblich eine Begründung beigefügt, die sich über die
rechtliche und tatsächliche Seite der Sache verbreitet, so liegt ein
schriftlicher Vortrag im
Sinne des § 13 des Advokatengesetzes vor. Zur Er'Gleichheit vor dem
Gesetz. N° 41. 331
stattung solcher Rechtsschriften sind aber nach jenem Gesetz .ausser
den Parteien selbst nur patentierte Anwälte befugt, aber nicht
Notare. Überhaupt sind
' Notare, wenn der Streitwert 300 Fr. übersteigt, nicht
befugt, als Vertreter der Parteien zu handeln oder für sie schriftliche
Eingaben zu verfassen.
B. Gegen diesen ihm am 23. April 1920 zugestelltcn Entscheid hat Waldmeier
am 17. Juni 1920 die staatsrechtliche Beschwerde an das Bundesgericht
ergriffen mit dem Antrag, er sei aufzuheben und das Obergericht
anzuhalten, auf seine Beschwerde vom 9. März 1920 materiell einzutreten.
Der Rekurrent macht geltend, dass eine Rechtsverweigerung vorliege, und
führt zur Begründung aus: § 13 des aarg. Advokatengesetzes laute : Die
Gerichtsbehörden werden darüber wachen, dass keine schrift-lichen Vorträge
angenommen werden, welche entweder nicht selbst von einer Partei wirklich
und persönlich verfasstoder von einem zugelassenen Anwalt unterschrieben
sind. Das Obergericht gebe zu, dass ein blosses Begehren ohne Begründung
keine Rechtsschrift sei; § 13 l. c. könne daher auf ein solches nicht
angewendet werden. Für die Beschwerde nach § 42 des Expmpriationsgesetzes
sei nun aber eine Begründung nicht erforderlich; ein blosses Begehren
genüge. Wenn § 13 des Advokatengesetzes auch im Expropriationsverfahren
Anwendung fände, so wäre daher höchstens die Begründung der Beschwerde
vom 9. März 1920, nicht aber auch das Begehren selbst ungültig. Indessen
sei die genannte Gesetzesbestimmung im Expropriationsverfahren
nicht anwendbar, da sie nur von Gerichtsbehörden spreche und nach §
1 des Advokatengesetzes sich lediglich auf ZiVil-, Administratibund
Straffälle beziehe. Hiezu gehöre ein Expropriationsverfahren nicht. Das
Obergeric'ht sei in diesem Verfahren nicht richterliche Behörde, sondern
Ohersehätzungskommis r sich. Nach § 39 des Expropriationsgesetzes könnten
1
302 Staatsrecht.
sich die Parteien vor der erstinstanzlichen schätzungskommission durch
Personen vertreten lassen, die nicht Anwälte seien. Das müsse auch für
die zweite Instanz gelten. Das Obergericht lege die §§ 1 und 13 des
Advokatengesetzes willkürlich aus.
C. Das Obergericht beantragt Abweisung der Beschwerde. Seinen
Ausführungen ist folgendes zu entnehmen : das Ohergericht ist im
Enteignungs verfahren nicht bloss obere Schätzungsbehörde ..... , sondern
hat nach § 32 aarg. Expr..Ges. auch über den Umfang der Abtretung
Zu entscheiden. Seine Tätigkeit ... im Enteignungsverfahren ist im
gesamten betrachtet richterliche Betätigung und steht im Gegensatze
zu den Vorarbeiten und Verfügungen der Verwaltungs behörden. sodann
sind Eingaben, die wie die vorliegende eine eingehende Begründung des
gestellten Begehrens o enthalten, schriftliche Vorträge und immer als
eigentn liebe Rechtsschrikten behandelt worden. Ein vollss ständiges
Analogon ist die Beschwerde nach §337 litt. b. ZPO. An ihrer Statt kann
ebenfalls ein blosses u Begehren aus Recht gesetzt werden; die Beschwerde
selbst ist ein schriftlicher Vortrag.
D. Der Gemeinderat von Rheinfelden stellt den
Antrag, es sei auf die Beschwerde nicht einzutreten,.
eventuell sei sie abzuweisen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung :
1. Der Rekurrent behauptet nicht, dass § 13 des Advokatengesetzes an sich
verfassungswidrig sei, und das Bundesgericht hat denn auch im Entscheide
i. S. Koch gegen Obergericht des Kantons Aargau vom 9. Februar 1917
unter einem gewissenVorbehalt ausgeführt, dass die genannte Bestimmung
als solche
mit Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
daher lediglich, ob seine Anwendung im vorliegenden Fall eine
Rechtsverweigerung bedeute. 2. Die Annahme des 0bergerichts, dass §
13 desGleichheit vor dem Gesetz. N° 41. 303
Advokatengesetzes auch auf das Verfahren Anwendung finde, das sich vor
ihm bei Streitigkeiten über Exprepriationsentschädigungen abspielt,
ist jedenfalls nicht willkürlich. .............. . . . . . .
3. Was die Annahme betrifft, dass sich die Beschwerdeeingabe vom 9. März
1920 ihres Inhaltes wegen als schriftlicher Vortrag im Sinne des § 13
des Advokatengesetzes darstelle, so ist zunächst festzustellen dass auch
nach der Auffassung des Obergerichts eine Begründung der Beschwerde in
tatsächlicher und rechtlicher Beziehung für die Gültigkeit der Ergreifung
des Rechtsmittels nicht erforderlich war, hiefür also eine blosse
Weiterziehungserklärung mit einem bestimmten Antrag genügte. Dies steht
auch im Einklang mit dem Wortlaut des §42 des Expropriationsgesetzes,
der-nur von der Einreichung eines Begehrens spricht. Das Obergericht
gibt sodann weiter zu, dass eine Eingabe, die nichts anderes als das
blosse Weiterziehungsbegehren enthält, keinen schriftlichen Vortrag im
Sinne des § 13 des Advokatengesetzes bilde. Es erblickt einen solchen
in der Beschwerdeschrift vom 9. März 1920 nur deshalb, weil in dieser
neben dem Antrag noch dessen Begründung in tat-sächlicher und rechtlicher
Beziehung enthalten ist. Hätte der Rekurrent diese weggelassen und sich
auf den Antrag beschränkt, so hätte ihm also das Obergericht den § 13 des
Advokatengesetzes nicht entgegen gehalten und die Beschwerde materiell
behandelt. Dass etwa die Unterschrift des Notars neben derjenigen der
Partei auch die hlosse Weiterziehungserklärung unwirksam machte, sagt
das Obergericht nicht, und da es sich hiehei lediglich um ein Auftreten
neben der Partei, nicht um deren eigentliche Vertretung im Sinne der §§
1 des Advokatengesetzes und 51 ZPO, die nur von einem patentierten Anwalt
hätte übernommen werden können, handelt, so hat es darin offenbar auch
keinen formellen Mangel der blossen Weiterziehungserklärung gesehen. Man
hat es daher mit einem Fall zu
304 Staatsrecht.
tun, in dem ein Gericht auf eine an und für sichgültige
Beschwerdeerklärung deshalb nicht eintritt, weil sie mit ' einer
nach seiner Auffassung ungültigen Rechtsschrift zu einer einzigen
Eingabe verbunden worden ist. Darin liegt ein ausserordentlicher,
nicht verständlicher Formalismus, zumal dann, wenn sich, wie hier,
die an sich gültige Erklärung von den als unzulässig betrachteten
Ausführungen deutlich abhebt. Das Obergericht führt keinen Grund an,
der diesen äusserst formalistischen Standpunkt zu stützen vermöchte ;
es verweist lediglich auf seine Praxis.. Es handelt sich demnach um eine
Verschliessung des Rechtsweges durch einen übertriebenen und insoweit
auf keiner positiven Gesetzesbestimmung beruhenden Formalismus; hierin
muss eine formelle Rechtsverweigerung gefunden werden.
Wenn die Beschwerdebegründung eine nach § 13 des Advokatengesetzes
unzulässige Rechtsschrift bildete, so hätte sich das Obergericht darauf
beschränken sollen, sie unberücksichtigt zu lassen, d. h. als nicht
geschrieben zu betrachten (vergl. die Rechtsprechung des Bundesgerichts
in Berufungssaehen AS 33 II S. 2, 218; 34 II S. 541; 35 II s. 15 Erw. 1
; 38 II 8.88). Da es statt dessen die ganze Beschwerdeeingabe aus dem
Rechte wies, so
ist sein Entscheid als gegen Art; 4 BV verstossend auf-_
zuheben.
Im schon erwähnten Fall i.'S. Koch gegen das aargauische Obergericht,
wo es sich um einen ähnlichen Tatbestand handelte, hat das Bundesgericht
den staatsrechtlichen Rekurs allerdings nicht gutgeheissen. Allein
abgesehen davon, dass nicht eine Weiterziehung durch Begehren nach §
42 des Expropriationsgesetzes in Frage stand, sondern die Beschwerde
im Sinne des 5337 litt. 1). ZPO, wurde damals nicht geltend gemacht,
das jedenfalls der Beschwerdeantrag an und für sich
zulässig gewesen sei und eventuell gesondert von der
Begründung hätte behandelt werden sollen.Gleichheit vor dem Gesetz. N°
42. 305
Demnach erkennt das Bundesgericht :
Der Rekurs wird gutgeheissen und der Entscheid der 1. Abteilung des
'Ohergerichts des Kantons Aargau vom 9. April 1920 aufgehoben.
42. Urteil vom 9. Oktober 1920 i. S. Market gegen Solothurn.
Unanfechtbarkeit des Bundesratsbeschlusses vom 29. Oktober
1918 betreffend Bekämpfung der Wohnungsnot durch Beschränkung der
Freizügigkeit. Dieser Beschluss ermächtigt die Kantone nicht, jemandem
das Wohnen in der Heimatgemeinde zu verbieten.
A. Am 17. Januar 1919 erliess der Regierungsrat des Kantons Solothurn
eine Verordnung betreffend Bekämpfung der Wohnungsnot durch Beschränkung
der Freizügigkeit und durch Inanspruchnahme unbenutzter
fWohnungen. Diese ermächtigt in § 1 gestützt auf den
Bundesratsbeschluss vom 29. Oktober 1918 die Oberämter, auf Antrag der
Ammannämter der Einwohnergemeinden neu einziehenden Personen, welche
die Notwendigkeit ihrer Anwesenheit in der Gemeinde nicht hinreichend
zu begründen vermögen, die Niederlassung
' und den Aufenthalt zu verweigern. Der Rekurrent,
der pensionierter Lokomotivführer ist und bisher mit seiner Familie in
Olten gewohnt hatte, wollte im Herbst 1919 nach seiner Heimatgemeinde
Gunzgen übersiedeln und mietete dort für sich eine Wohnung. Diese wurde
jedoch durch Beschluss des Regierungsrates des Kantons Solothurn vom
22. Oktober 1919 für die Gemeinde Gunzgen mit Beschlag belegt, da deren
Wohnungsfürsorgekommission darin jemand anders unterbringen wollte.