106 Prozessrecht. N° 21.

2. Eventuell es seien die Akten an das Handelsgericht zurückzuweisen
zur Abnahme der offerierten Beweise.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Nach der hundesgerichtlichen Praxis hinsichtlich der Anwendung
des Art. 67 Abs. 2 OG ist auf die Berufung nur dann einzutreten, wenn
in dem Berufungsbegehren bezüglich des vorinstanzlichen Urteils ein
materieller Ahänderungsantrag enthalten ist, bezw. wenn wenigstens ein
solcher unzweideutig aus dem Berufungsbegehren in Verbindung mit der
Prozesslage hervorgeht.

2. -siDiese Erfordernisse sind im vorliegenden Falle nicht gewahrt. Der
Hauptantrag der Klägerin geht lediglich auf Aufhebung des vorinstanzlichen
Urteils, ohne dass gesagt oder sonst ersichtlich Wäre, welcher Art das
neue Urteil-sein soll (AS 32 II s.419 f.,33 II s. 463 Erw. 3, 37 II S. 336
f.), und der Eventualantrag auf Rückweisung ist nur ein prozessualer
nicht ein materieller Antrag (AS 32 II S. 419 f., 37 II S. 336f.). Nun
hat allerdings das Bundesgericht in einer Reihe von Fällen den blossen
Rückweisungsantrag als genügend erachtet, dies aber nur dann, wenn aus
den Umständen hervorging, dass es auf Grund der vorliegenden Akten,
d. h. ohne Rückweisung, nicht zu einem Zuspruch der Klage kommen würde
(AS 42 II s. 70 Erw. 2, S. 241 Erw. 3). Dies trifft ,im vorliegenden
Falle nicht zu.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

Auf die Berufung wird nicht eingetreten.

OFDAG Offset-, Formularund Fotodruck AG 3000 BernI. ERBRECH TDRO'IT
DES SUCCESSIONS

22. Urteil der II. Zivilabteilnng vom 25. April 1918 i. S. Bruggisser
Zehnder u. Islor, gegen Seller u. Mitbeteiligte

Art. 519 ff
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 519 - 1 Eine Verfügung von Todes wegen wird auf erhobene Klage für ungültig erklärt:
1    Eine Verfügung von Todes wegen wird auf erhobene Klage für ungültig erklärt:
1  wenn sie vom Erblasser zu einer Zeit errichtet worden ist, da er nicht verfügungsfähig war;
2  wenn sie aus mangelhaftem Willen hervorgegangen ist;
3  wenn ihr Inhalt oder eine ihr angefügte Bedingung unsittlich oder rechtswidrig ist.
2    Die Ungültigkeitsklage kann von jedermann erhoben werden, der als Erbe oder Bedachter ein Interesse daran hat, dass die Verfügung für ungültig erklärt werde.
. ZGB. Zulässigkeit der Ungültigkeitsklage i. S. dieser
Vorschriften gegen den Willensvollstrecker auf Ungültigerklärung
seiner Einsetzung als solchen. Wirkung des die Ungültigkeit der
Verfügung feststehenden Urteils, wenn die Klage nur gegen einzelne im
Testament Bedachte gerichtet worden ist. Massgebendes Recht für die
Beurteilung der Testierfähigkeit bei vor dem 1. Januar 1912 errichteten
Testamenten. Voraussetzungen der Handlungsfähigkeit nach Art. 4
SR 810.30 Bundesgesetz vom 30. September 2011 über die Forschung am Menschen (Humanforschungsgesetz, HFG) - Humanforschungsgesetz
HFG Art. 4 Vorrang der Interessen des Menschen - Interesse, Gesundheit und Wohlergehen des einzelnen Menschen haben Vorrang gegenüber den Interessen der Wissenschaft und der Gesellschaft.
HFG von
1881. Umfang der Kognition des Bundesgerichts und Stellung desselben
zu der von der kantonalen Instanz erhobenen, die Handlungsfähigkeit
verneinenden psychiatrischen Expertise.

A. Im Jahre 1906 starb bei einem Aufenthalte in Wohlen der in Manchester
wohnhafte Kaufmann Otto lsler, gebürtig von Wohlen. Als Erbin seines
ungefähr 1,000,000 Fr. betragenden Vermögens, zu dem neben Wertschriften
und Geschäftsheteiligungen in England auch das elterliche Haus in Wohlen
gehörte, hatte er seine allein noch lebende Schwester Emilie Isler,
geb. 1842 eingesetzt. Emilie Isler hatte früher während einer Reihe von
Jahren bei ihrem Bruder in Manchester gewohnt und war dann nach Wohlen
in das elterliche Haus zurückgekehrt, das sie seit dem im Jahre 1902
erfolgten Tode ihrer Mutter zusammen mit der Magd Julia Widmer, die
seit 30 Jahren in der Familie diente, und der heutigen Beklagten Lina
Seiler bewohnte. Letztere von Beruf Krankenpflegerin war ursprünglich
zur Pflege der an Gehirnerweichuug erkrankten Mutter Isler angestellt

AS 44 n 1918 8

168 Erbrecht. N° 22.

worden : nach dem Tode behielt die Tochter sie in ihrem Dienste. Bei
der Verwaltung des 1906 ererbten Vermögens _ stand der Emilie Isler
zunächst ihr Vetter, Fürsprech Emil Isler in Aarau bei. Nachdem er
1908 das Mandat zurückgegeben hatte, wie er sagt, weil er aus den
Bank-auszügen ersehen habe, dass seine Auftraggeberin zweimal ohne sein
Vorwissen über Beträge von je 100,000 Fr. schenkungsweise verfügt, was
er als Misstrauen ihm gegenüber aufgefasst habe, liess sich Fräulein
Isler in der Folge durch den Notar Bochsler in Bremgarten beraten.
Im Jahre 1907 erlitt sie einen Schlaganfall, der, nach dem Zeugnis des
Hausarztes, leichte Lähmungserscheinungen in den Gesichtsmuskeln und
im rechten Arme zur Folge hatte ; im Februar 1909, das genaue Datum ist
nicht mehr festzustellen, stellte sich ein zweiter stärkerer Schlaganfall
ein, die Lähmungserscheinungen waren deutlicher, nach der Aussage des
Dr. Müller, der allerdings erst etwa 10 Tage nach dem Anfall gerufen
wurde, machte der Patientin das Sprechen Mühe, auch hatten ihre geistigen
Fähigkeiten erheblich gelitten, oft habe sie die Namen und Bezeichnungen
für gewöhnliche Gegenstände nicht gefunden oder verwechselt, von einer
satzbildung sei keine Rede mehr gewesen. Das körperliche Befinden der
Fräulein Isler besserte sich dann Wieder wesentlich; inwieweit auch die
durch den Schlag beeinträchtigten geistigen Funktionen zurückkehrten,
wird später zu erörtern sein. Im Frühjahr 1910 glaubte eine auf Besuch
anwesende Verwandte, Frau Dr. Sprenger wahrzunehmen, dass Fräulein
Isler geistig nicht mehr normal sei ; sie äusserte sich in diesem
Sinne zu anderen Familiengliedern und gab auf deren Veranlassung dem
Fürsprech Emil Isler brieflich von ihren Beobachtungen Kenntnis. Darauf
stellte mit Eingabe vom 6. Juni 1910 Fürsprech Isler beim Gemeinderate
Wohlen zur Weiterleitung an das zuständige Bezirksgericht das Gesuch um
Bevormundung der Emilie Isler wegen Geistesschwäche im Sinne von §§ 260,
281 des aargauischen BGB. Der GemeinderatErbrecht. N° 22. 109

übermittelte die Eingabe dem Bezirksgericht Bremgarten

mit dem Anfrage, es sei Fräulein Isler zunächst auf ihren

Zustand ärztlich zu begutachten. Das Gericht trat jedoch

auf das Gesuch aus formellen Gründen nicht ein und

Für-sprech Isler erklärte infolge ihm durch Gemeinderat

Vock in Wohlen und Notar Bochsler mündlich über den

Stand der Dinge gegebener Aufschlüsse in einem Briefe

an Bochsler auf seinem Schritte nicht weiter zu bestehen.

Inzwischen hatte sich Fräulein Isler, die von dem Vorgehen ihres Vetters
sofort Kenntnis erhalten hatte, mit der

Lina Seiler nach Wilderswyl zum Ferienaufenthalte begeben und dort die
Bekanntschaft des Fürsprechers Dr. Brand aus Bern gemacht. Nachdem sie
ihn über ihre

Angelegenheit konsultiert, stellte sie ihm und seinem Bruder Notar
Brand in Bern eine Generalvollmacht aus, welche die Vollmachtträger
u. a. ermächtigte, die bei der Aargauischen Bank hinterlegten
Wertschriften der Vollmachtgeberin zurückzuziehen. Als Fürsprech Brand
gestützt hierauf am 27. August 1910 die Titel bei der Aargauischen
Bank erheben wollte, wurde ihm die Herausgabe auf Weisung des
Verwaltungsratspräsidenten der Bank, Fürsprech Isler verweigert. Letzterer
unterrichtete von dem Vorgange den heutigen Kläger Otto Bruggisser,
Neffen und nächsten in Betracht kommenden Intestaterben der Frl. Isler,
der darauf seinerseits am 30. August 1 910 beimBezirksgericht Bremgarten
das Entmündigungsverfahren gegen seine Tante einleitete. Am 17. September
1910 fand vor Bezirksgericht die persönliche Einvernahme der Frl. Isler
statt. Als sie am 27. Oktober 1910 wiederum erscheinen sollte, blieb sie
aus. Sie hatte inzwischen mit der Lina Seiler Wohlen verlassen und war
nach Bern übergesiedelt, wo sie bis zu ihrem Tode verblieb. Unterdessen
wurde im Entmündigungsprozesse in Bremgarten das Beweisverfahren
durch Einvernahme zahlreicher Zeugen und Erhebung einer psychiatrischen
Expertise durchgeführt. Die gerichtlichen Experten Dr. Fröhlich, Direktor
der Irrenanstalt Königsfelden und Dr. Ricklin,

110 Erbrecht. N° 22.

gewesener Inspektor für Irrenpflege in Zürich, die Frl. Isler zweimal
am 6. und 27. März 1911 in Bern in ihrer Wohnung untersucht hatten,
erklärten in ihrem Gutachten: das Krankheitsbild, das Frl. lsler biete,
sei durchaus klar und eindeutig, es handle sich um eine durch die
Schlaganfälle bewirkte geistige Verblöclung (postapoplektische Demenz)
mit anschliessender Altersverblödung (seniler Demenz). Die Erkrankung
sei als Geisteskrankheit aufzufassen und Frl. Isler als geistesschwach
und handlungsunfähig zu betrachten. Auf die Frage des Vertreters der
Frl. Isler, ob nicht diese bei zweckmässiger Lebensweise und befreit von
den Aufregungen des Prozesses sich erholen könnte, eventuell auf wie lange
die Handlungsuni'ähigkeit infolge Geisteskrankheit zurück-gehe, erwiderten
die Experten in einem Ergänzungsberichte : an eine wesentliche Erholung
von den psychischen Defekten sei nicht mehr zu denken, der Zustand müsse
im Wesentlichen als dauernder. angesehen werden ; das Leiden beruhe
auf organischen Veränderungen des Gehirns und werde von Gemütsafiekten
nicht wesentlich beeinflusst ; die schwachsinnige Handlungsweise, die
Unfähigkeit Personen und Dinge, rechtliche Verhaltnisse und finanzielle
Operationen richtig zu beurteilen, datiere zweifellos auf: lange Zeit,
wohl auf Jahr und Tag zurück. Gestützt hierauf stellte das Bezirksgericht
Bremgarten durch Urteil vom 13. Mai 1911 Emilie Isler unter Vormundschaft:
die _hiegegen von der Entmündigten ergrifienen Rechtsmittel blieben
erfolglos. Anlässlich eines von der Vormundschaftsbehörde Wohlen
eingeleiteten Administrativverfabrens auf Heimsehaflung, dem sich die
Vertreter der Frl. lsler wegen deren angeblicher Transportunfähigkeit
widersetzten, hatten die Experten Fröhlich und Ricklin in der Folge
am 25. Januar 1912 noch ein drittes Mal Gelegenheit, jene in Bern zu
untersuchen. _

Am 1. September 1913 starb Emilie Isler in Bern. Es ergab sich, dass
sie im ganzen mindesten sieben Testa--Erhrecht. N° 22. 111

mente errichtet hatte, nämlich am 17. Juni 1908, 15. Februar 1909,
14. Juli 1909, 21. September 1909, 30. Dezember 1909, 16. Juni 1910 und
15. September 1910. Davon sind die drei ersten nicht mehr vorhanden :
ihre Errichtung ergibt sich lediglich daraus, dass sie am Schlusse des
Testamentes vom 21. September 1909 als durch dieses aufgehoben erklärt
werden.

Im Testament vom 21. September 1909, dem ältesten der vier noch
vorhandenen, wird als Universalerbe, der Vetter der Erblasserin, Max
Zehnder in Birmensdori (Aargau) eingesetzt, dessen Ehefrau im Spätsommer
1909 während eines Erholungsaufenthaltes der Lina Seiler die Pflege
der Erblasserin übernommen und während mehrerer Wochen im Hause geweilt
hatte. Ferner sollten danach folgende Vermächtnisse ausgerichtet werden :
241,000 Fr. für öffentliche Zwecke und an Verwandte und Personen, welche
im_ heutigen Prozesse keine Rolle spielen, 20,000 Fr. der Lina Seiler,
der ausserdem noch das Haus mit Fahrhabe und 3000. Fr. für Besorgung
der Gräber zugewendet wurden, 20,000 Fr. den Eltern der

,Lina Seiler, den heutigen Beklagten Walter und Karoline

Seiler, 10,000 Fr. deren Tochter, der Beklagten Martha Seiler, 40,000
Fr. den Kindern des eingesetzten Erben Zehnder, 200,000 Fr. den Kindern
des Neffen Otto Bruggisser, der der nächste gesetzliche Erbe gewesen wäre,
mit der Bestimmung, dass die Eltern Bruggisser daran die lebenslängliche
Nutzniessung haben sollten. Schlägt man den Nachlass auf ungefähr eine
Million Franken an, so hätten mithin Max Zehnder und seine Familie
ungefähr 500,000 Fr., die Familie Bruggisser 200,000 Fr. und die Familie
Seiler 50,000 Fr. in baar und die Liegenschaft erhalten. ss

Das Zweite noch vorhandene Testament vom 30. Dezember 1909, widerruit
neben einigen Verschiebungen in den Vermächtnissen, die Erbeinsetzung
des Max Zehnder und die Zuwendungen an seine Kinder. Die Einsetzung
eines anderen Erben ist darin zwar vorbehalten-

112 ss Erbrecht. N° 22. --

aber nicht vorgenommen, sodass der ganze nach Ausrichtung der
Vermächtnisse verbleibende Nachlass danach kraft Intestaterbrechts an
den Kläger Otto Bruggisser si gefallen wäre.

Nach dem dritten Testamente (Kodizill) vom 16.J11ni 1910, errichtet
auf das Bevormundungsbegehren des Fürsprechs Isler vom 6. Juni 1910,
sollten Lina Seiler

und ihre Schwester Martha Seiler, die erstere zu 4/5 und

die letztere zu % 100,000 Fr. erhalten, darauf aber die früher
ausgesetzten Vermächtnisse von zusammen 50,000 Fr. an die beiden Genannten
und die Eltern Seiler angerechnet werden. Ferner wurde die Bestimmung über
das Haus mit Fahrhabe dahin abgeändert, dass dasselbe der Lina Seiler
nicht mehr unentgeltlich zufallen, sondern von ihr lediglich zu 35,000
Fr. _ offenbar einem Vorzugspreise sollte übernommen werden können. Im
übrigen sollten die bisherigen Verfügungen aufrecht bleiben. Nachdem dann
am 30. August 1910 Otto Bruggisser den Entmündigungsantrag gestellt,
folgte das vierte und letzte noch vorhandene Testament vom 15. September

si 1910. Es setzt als einzige Erbin die Lina Seiler ein. Die .

Vermächtnisse sind in der Hauptsache dieselben wie früher. Dasjenige
an die Kinder Bruggisser Wird auf _100,000 Fr. herabgesetzt und das
Nutzniessungsrecht der Eltern Bruggisser daran gestrichen.

B. Mit der vorliegenden, im Dezember 1913 eingeleiteten Klage verlangt
in erster Linie Otto Bruggisser in seiner Eigenschaft als Intestaterbe
die Ungültigerklärung aller vier vorerwähnten Testamente. Neben ihm
tritt als Kläger auf .] . Arnold Isler von Wohlen, geb. 1845, Bruder der
Erblasserin. Nach den Angaben der Klageschrift soll der Genannte seiner
Zeit nach Argentinien ausgewandert und dort im Jahre 1882 gestorben sein,
ohne dass indessen ein amtlicher Totenschein nach Wohlen gesandt werden
wäre. Da er infolgedessen noch als lebend in den Zivilstandsregistern
eingetragen ist, hat die Vormundschaftsbehörde Wohlen ihm in der
PersonErbrecht. N° 22. 113

des fürsprechs Dr. Edgar Isler' in Aarau vorsorglich

einen Beistand bestellt, um für den Fall, dass er doch noch leben sollte ,
seine gesetzlichen Erbrechte geltend zu machen.

In Bezug auf das letzte Testament vom 15. September 1910 richtet sich
die Klage gegen

1. Lina Seiler als eingesetzte Erbin,

2. die Ehegatten Walter und Karoline Seiler und deren Tochter Martha
Seiler als Vermächtnisnehmer,

3. Fürsprech Dr. Brandt und Notar Brand in Bern als im Testament ernannte
Testamentsvollstrecker.

Die übrigen Vermächtnisnehmer sind nicht ins Recht gefasst. Die
Kläger haben aber im Prozesse ausdrücklich erklärt, dass sie damit die
Rechtsbeständigkeit jener anderen Vermächtnisse nicht anerkennen 1wollten,
sondern sich vorbehielten, sie nach Art. 521 Abs. 3
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 521 - 1 Die Ungültigkeitsklage verjährt mit Ablauf eines Jahres, von dem Zeitpunkt an gerechnet, da der Kläger von der Verfügung und dem Ungültigkeitsgrund Kenntnis erhalten hat, und in jedem Falle mit Ablauf von zehn Jahren, vom Tage der Eröffnung der Verfügung an gerechnet.
1    Die Ungültigkeitsklage verjährt mit Ablauf eines Jahres, von dem Zeitpunkt an gerechnet, da der Kläger von der Verfügung und dem Ungültigkeitsgrund Kenntnis erhalten hat, und in jedem Falle mit Ablauf von zehn Jahren, vom Tage der Eröffnung der Verfügung an gerechnet.
2    Gegenüber einem bösgläubigen Bedachten verjährt sie im Falle der Verfügungsunfähigkeit des Erblassers oder der Rechtswidrigkeit oder Unsittlichkeit unter allen Umständen erst mit dem Ablauf von 30 Jahren.
3    Einredeweise kann die Ungültigkeit einer Verfügung jederzeit geltend gemacht werden.
ZGB einredeweise
zubestreiten, wenn sie von den betreffenden Bedachten auf Ausrichtung
der zugewendeten Summen belangt werden sollten.

Hinsichtlich der Testamente vom 16. Juni 1910 und 30. Dezember 1909
sind Beklagte Lina Seiler, deren Eltern und deren Schwester Martha
Seiler als in diesen Verfügungen mit Vermächtnissen bedachte Personen,
hinsichtlich des .Testamentes vom 21. September 1909 die Nämlichen als
Vermächtnisnehmer und Max Zehnder als eingesetzter Erbe.

Als Ungültigkeitsgrund wird für alle vier Testamente geltend gemacht,
dass die Erblasserin bei deren Errichtung nicht mehr handlungsund
testieriähig gewesen sei.

C. Durch Urteil vom 1. Dezember 1917 hat .das Obergericht des Kantons
Aargau I. Abteilung auf Grund der Ergebnisse des von der ersten
Instanz durcihgeführten Zeugenbeweises und eines von den bereits
im Vormund-schaftsprozesse bestellten Experten Fröhlich und Ricklin
eingehalten neuerlichen Gutachtens die Klage gegenüber den Beklagten
Lina, Walter, Karoline und Martha Seiler und Max Zehnder dahin geschützt,
dass es die Testa-

114 Erbrecht. N° 22.

mente vom 15. September 1910, 16. Juni 1910, 30. Dezember 1909 und
21. September 1909 als ungültig erklärte und aufhob , gegenüber den
Beklagten Fürsprech Dr. Brand und Notar Brand dagegen wegen fehlender
Passivlegitimation abgewiesen.

D. Gegen. dieses Urteil haben sowohl die Kläger als die Beklagten Lina,
Walter, Karoline und Martha Seiler die Berufung an das Bundesgericht
ergriffen :

d i e Kl äge r mit dem Begehren, es sei die Klage auch gegenüber
den Brüdern Brand als mit dem Recht und Vermögensvorteil der
Testamentsvollstreckung Bedachten gutzuheissen ;

d i e B e k l a g t e n Lina, Walter, Karoline u. Martha Seiler mit den
Anträgen, auf die Klage des J. Arnold Isler sei nicht einzutreten und
die Klage des Otto Bruggisser in vollem, Umfange, eventuell wenigstens
insoweit abzuweisen, als sie die Aufhebung der Testamente und Kodizille
bezwecke, welche demjenigen vom 15. September 1910 vorangehen,_eventuell
sei auch die Klage des .I. Arnold Isler im gleichen Sinne abzuweisen,
weiter eventuell, sofern trotz der den Beklagten günstigen Zeugenaussagen
eine Begutachtung Über die Frage der Testierfähigkeit für nötig erachtet
werden sollte, seien die Akten zur Bestellung neuer Experten an die
kantonalen Instanzen zurückzuweisen.

Der Beklagte Max Zehnder; hat ein Rechtsmittel nicht.

ergriffen. Das Bundesgericht zieht in Erwägung :

1. (Klagelegitimation des .]. Arnold lsler).

2. Dagegen kann in bezug auf die andere York-age, die Passivlegitimation
der Beklagten Dr. Brand und Notar Brand der Vorinstanz nicht beigetreten
werden. Nach der Begründung, welche für die Einbeziehung der Genannteu,
in den Prozess von den Klägerngegeben wird, sind sie

nicht etwa als Vertreter oder streitgenossen der im

Testamente vom 15. September 1910 eingesetzten ErbenErbrecht. N° 22. 115

und Vermäehtnisnehmer (1. h. deshalb belangt worden, weil die Kläger
annähmen, es könne dadurch ein die Ungültigkeit der Zuwendungen
aussprechendes Urteil gegenüber den letzteren überflüssig gemacht
werden oder es sei umgekehrt ein solches Urteil nur wirksam, wenn auch
der Testamentsvollstrecker Gelegenheit zur Teilnahme am Verfahren
und zur Verteidigung des letzten Willens gehabt habe. Vielmehrist
ihre Einklagung ausschliesslich zu dem Zwecke erfolgt, um die
UnWirksamkeit der sie betreffenden Anordnung, d. h. ihrer Ernennung zu
Willensvollstreckern feststellen zu lassen. Es handelt sich demnach
nicht um die Entscheidung darüber, ob der Willensvollstrecker im
Streite um die Gültigkeit von Erbeinsetzungen und Vermächtnissen passiv
legitimiert sei,· sondern um die davon verschiedene und unabhängige Frage,
ob die Einsetzung eines Willensvollstreokers als solche, für sich zum
Gegenstand einer Ungültigkeitsklage nach Art. 519 ff
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 519 - 1 Eine Verfügung von Todes wegen wird auf erhobene Klage für ungültig erklärt:
1    Eine Verfügung von Todes wegen wird auf erhobene Klage für ungültig erklärt:
1  wenn sie vom Erblasser zu einer Zeit errichtet worden ist, da er nicht verfügungsfähig war;
2  wenn sie aus mangelhaftem Willen hervorgegangen ist;
3  wenn ihr Inhalt oder eine ihr angefügte Bedingung unsittlich oder rechtswidrig ist.
2    Die Ungültigkeitsklage kann von jedermann erhoben werden, der als Erbe oder Bedachter ein Interesse daran hat, dass die Verfügung für ungültig erklärt werde.
. ZGB gemacht werden
könne. Dies ist aber nach der Ausgestaltung, welche die Institute der Wi
llensvollstreckungeinerseits und der Ungültigkeitskla ge andererseits im
Gesetze gefunden haben, zu bejahen. Indem das Gesetz für die Einsetzung
eines Willensvolls treckers die Form der letztwi lligen Verfügung verlangt
und sie damit den nämlichen Gültigkeitserfordernissen unterwirft wie die
anderen in einer solchen enthaltenen Anordnungen, bringt es unzweideutig
zum Ausdruck, dass es sie als eine Verfügung von Todeswegen, d. h. als
erbrechtlichen Dispositionsakt ansieht. Als solcher stellt sie sich denn
zufolge Art. 518 auch sachlich, den Wirkungen nach dar, indem dadurch
Befugnisse, welche an sich dem Erben zustanden Verwaltung und Teilung des
Nachlasses, Berichtigung der Schulden und Ausrichtung der Vermächtnisse
ihm entzogen und auf einen Dritten übertragen werden. Alsdann ist aber
nicht einzusehen, weshalb sich nicht der Erbe gegen eine derartige
Verfügung des Erblassers, wennusie an einem der in Art. 519, 520
aufgeführten Mängel leidet, ebensogut sollte zur Wehre

116 Erbrecht. N° 22.

setzen können, wie gegenüber jeder anderen letztwilligen Anordnung, die
ihn in seinen Rechten beeinträchtigt Es beruht demnach nicht auf Zufall
oder unzureichender Fonnulierung, wenn Art. 519 die Ungültigkeitsklage
beim Vorliegen solcher Mängel nicht nur gegenüber dem eingesetzten
Erben und den Vermächtnisnehmern, sondern gegenüber jeder Verfügung
von Todeswegen gewahrt, an deren Aufhebung der Kläger als Erbe oder
Bedachter ein Interesse hat . Da als Verfügung von Todeswegen jeder
rechtsgeschäftliche Akt erscheint, wodurch erst auf, den Fall des
Todes wirksam werdende Rechte am Vermögen des Verfügenden begründet
werden, muss demnach auch die Möglichkeit der Ungültigkeitsklage als
im nämlichen Umfange gegeben angesehen werden. Der Einwand, dass es
für eine besondere Klage gegen den Willensvollstrecker neben derjenigen
gegen die Erben und Vermächtnisnehmer an einem Bedürfnis fehle, weil mit
der Aufhebung der Zuwendungen an diese auch sein Mandat gegenstandslos
werde, hält nicht Stich. Er könnte allenfalls dann zutreffen, wenn
die eingeklagten Erben und Vermächtnisnehmer die einzigen wären,
welche im angefochtenen Testamente als solche eingesetzt sind. Dies
ist aber hier nicht der Fall. Vielmehr steht fest, dass das Testament
vom 15. September 1910 ausser den Zuwendungen anv die Beklagten Lina,
Walter, Karoline und Martha Seiler noch eine Reihe weiterer vorsieht,
deren Destinatäre nichts ins Recht gefasst worden sind. Da auch die von
einem verfügungsfähigen Erblasser errichtete letztwillige Verfügung
nach dem System des ZGB nicht schlechthin nichtig, sondern lediglich
anfechtbar ist und das das Vorliegen eines blossen Anfechtlmgsgrundes
feststellende Urteil nach allgemeinen Grundsätzen Rechts-

kraft nur gegenüber denjenigen Personen zu erlangen

vermag, gegen die es ergangen ist, kann demnach durch die Gutheissung der
Klage gegen die Beklagten Lina, Walter, Karoline und Martha Seiler das
angefochtene Testament vom 15. September 1910 nicht in seinerErbrecht. N°
22. ' 117

Gesamtheit, sondern nur inbezug auf die Zuwendungen an die Genannten
aufgehoben werden. In allen übrigen Punkten, d. h. inbezug auf die
weiteren darin ausgesetzten Vermächtnisse bleibt es vor der Hand
aufrecht. Die von einzelnen Kommentatoren vertretene abweichende Ansicht
mag für das gemeine Recht zutreffen, wo die Erbeseinsetzung einen
notwendigen Bestandteil des Testamentes bildete und ihre Ungültigkeit
daher auch diejenige aller anderen darin enthaltenen Anordnungen nach sich
zog, für das ZGB, welchem ein solches Abhängigkeitsverhältnis fremd ist,
kann sie nicht als richtig anerkannt werden, wie sie denn auch im Texte
des Gesetzes keinerlei Stütze findet. Ob die Kläger, wenn sie von jenen
anderen Bedachten auf Ausrichtung der ihnen zugewendeten Summen belangt
Würden, die Ungültigkeit der letztwilligen Verfügung noch nachträglich
einredeweise geltend machen könnten oder ob nicht einer solchen Einrede
die Repiik der Verjährung des Anfechtungsrechts entgegenstände, braucht
heute nicht geprüft zu werden. Auch wenn man das erstere annehmen wollte,
würde dadurch an dem Fortbestehen der fraglichen Testamentshestimmungen
bis zum Erlass eines die Einrede gutheissenden Urteils im Prozesse
zwischen den heutigen Klägern und de'n Vermächtnisnehmern nichts
geändert. Soweit das Testament nicht entkräftet ist blieben aber,
wenn den Klägern die Möglichkeit einer selbständigen Klage gegen die
Willensvollstrecker auf Ungültigerklärung ihrer Ernennung zu solchen
versagt würde, auch deren Befugnisse bestehen, sodass die Kläger
gewärtigen müssen, dieselben unter Berufung auf ihre Berechtigung und
Verpflichtung zur Ausführung des noch verbleibenden Teiles des letzten
Willens sich in die Nachlassliq'uidation einmischen zu sehen. Es haben
daher die Kläger schon aus diesem Grunde ein unverkennbares rechtliches
Interesse daran, dass die Ungültigkeit des Testamentes wegen mangelnder
Verfügungsfähigkeit der Erblasserin nicht nur gegenüber dem eingesetzten
Erben und den mit ihm ins Recht gefassten

-118 Erbrecht. N° 22.

Vermächtnisnehmern, sondern auch gegenüber den Willensvollstreckern
festgestellt werde.

ss 3. In der Sache selbst, (1. h. was die materielle Begründetheit der
Klage betrifft, ist davon auszugehen, dass sich dieTestierfähigkeit nach
dern Rechte zur Zeit der Testamentserriehtung, für vor dem 1. Januar 1912
errichtete Testamente, also nach Art. 4 des Handlungsfähigkeitsgesetzes
von 1881, der nicht nur für Rechtsgeschäfte unter Lebenden,_sondern
auch für letztwillige Verfügungen galt, beurteilt (AS 38 II S. 416
ff., 39 II S. 196). Das Schicksal der Klage hängt also davon ab, ob die
Erblasserin bei Errichtung der vier angefochtenen Testamente im Sinne der
angeführten Bestimmung des Vernunftgebrauches oder des bewussten Willens
beraubt gewesen sei. Dabei ist, wie in allen derartigen Streitigkeiten,
hinsichtlich des Umfanges der bundesgerichtlichen Kognition zwischen
dem Schlusse aus einem bestimmten geistigen Zustand auf das Vorliegen
der Handlungsfähigkeit bezw. Unfähigkeit einerseits und der Feststellung
jenes Zustandes selbst andererseits zu unter-

scheiden. Nachder ersteren Richtung handelt es sich, um die
Rechtsanwendung, die Subsumtion des Tat

bestandes unter einen bestimmten gesetzlichen Rechts-_ begriff, die
daher frei zu überprüfen ist. Nach der zweiten dagegen, d. h. inbezug auf
die Ermittlung des geistigen Befindens einer Person in einem bestimmten
Zeitpunkte, hat man es mit einer reinen Tatfrage zu tun. Das Bundesgericht
ist deshalb an die darauf bezüglichen Feststellungen der Vorinstanz
gebunden, sofern sie nicht aktenwidrig sind oder auf einem Verstosse gegen
bundesrechtliche Beweisregeln beruhen. Eine Nachprüfung der Beweismittel,
auf welche das angefochtene Urteil sich dafür stützt-auf ihren Beweiswert
steht ihm nicht zu. Es ist somit auch ausgeschlossen, dass die Akten, wie
es die Beklagten eventuell beantragen, wegen persönlicher Befangenheit
der Experten zur Anordnung einer neuen Expertise zurückgewiesen werden
könnten, da die Ent-Erbrecht. N° 22. 119

scheidung darüber, ob die Experten in persönlicher Beziehung die nötigen
Garantien für eine zuverlässige Begutachtung bieten, sich ausschliesslich
auf dem den kantonalen Instanzen vorbehaltenen Gebiete der Beweiswürdigung
und Anwendung kantonalen Prozessrechts' bewegt. Eine solche Rückweisung
könnte vielmehr höchstens in Betracht kommen, wenn die Expertise
inhaltlich Lücken aufwiese, welche dem Richter die rechtliche Beurteilung
des Falles verunmöglichten, wobei es den kantonalen Instanzen überlassen
bleiben müsste, ob sie die Ergänzung durch die bisherigen Experten
vornehmen lassen oder an deren Stelle neue bezeichnen wollten. (Vergl. das
bereits angeführte Urteil 39 II S. 196 H., ferner Praxis 1918 Nr. 35.)

4. Wird von diesen Gesichtspunkten aus an die Entscheidung der Streitfrage
herangetreten, so kann zunächst keinem Zweifel unterliegen, dass die
Erblasserin, als die Experten sie im Bevormundungsprozesse zum ersten Male
untersuchten (März 1911) sich in einem Zustande geistiger Verblödung
befand, der das Vorliegen der Handlungsfähigkeit ausschloss. Auch
wenn man annehmen. wollte, dass es sich bei den Symptomen , welche
die Experten in ihrem damaligen Gutachten dafür anführten schwere
Störungen bezw. Trübungen der Sprache, des Gedächtnisses, der Denkund
Urteilsfähigkeit, abnormale Unselbständigkeit und Beeinflussbarkeit des
Willens nicht um rein medizinische Feststellungen, sondern zum Teil auch
schon um die Verwendung von Rechtsbegriffe-n handle, müsste den darin
liegenden Folgerungen auf Grund der im Gutachten mitgeteilten Ergebnisse
der persönlichen Untersuchung der Erblasserin ohne weiteres zugestimmt
werden. Danach steht fest, dass diese nicht mehr im Stande war ihr Alter,
ihr Geburtsjahr, den Namen der Stadt in England, wo sie lange Zeit gelebt
hatte (Manchester) ihres Hausarztes Dr. Müller, mit dem sie in Wohlen
während einer Reihe von Jahren unter dem gleichen Dache gewohnt hatte,
der Magd Julia Widmer

120 Erbrecht. N° 22.

anzugeben. Einfache Gebrauchsgegenstände, wie Bleistift, Manchetten
usw. vermochte sie nicht mit dem zutreffenden Worte zu bezeichnen,
sondern musste sich dafür umständlicher und unbeholfener Umschreibungen
bedienen. Hatte sie einmal eine Bezeichnung oder eine Erklärung auf eine
Antwort gefunden, so verwendete sie dieselben auch nachher noch während
einer gewissen Zeit zur Beantwortung anderer ,Fragen, auf die sie durchaus
nicht passten, wofür das Gutachten eine Anzahl charakteristischer
Beispiele anführt. Beides die Wiedergabe einfacher Begriffe durch
Umschreibungen (Paraphasie) und das zuletzt erwähnte Haftenbleiben von
Vorstellungen (Perseveration) sind nach den Experten typische Merkmale der
postapoplektischen und senilen Demenz. Sie müssen daher mit den übrigen
festgestellten Defekten Versagen des Gedächtnisses auch in durchaus
einfachen Dingen und Unfähigkeit selbst über ganz kurz zurückliegende
Vorgänge aus dem eigenen Leben eine irgendwie zusammenhängende und
klare Auskunft zu geben genügen, um den von den Experten damals im
Bevormundungsverfahren inbezug auf die Frage der Handlungsfähigkeit
gezogenen Schluss zu rechtfertigen. Wo die Merkfähigkeit, die Möglichkeit
Vorgänge der Aussenwelt richtig aufzufassen,und das Gedächtnis, die
Möglichkeit solche Vorgänge zu reproduzieren, in einem Grade versagen
wie hier, da entfällt auch die Fähigkeit zur Motivbildung (Bestimmung
des Verhaltens durch vernunftgemäss erkannte Beweggründe) und ist die
Handlungsfähigkeit mindestens ebensosehr, wenn nicht schwerer erschüttert
als bei Personen, welche an Wahnideen, Zwangsvorstellungen oder anderen
ähnlichen, wegen ihrer Auffälligkeit für jedermann sofort erkennbaren
geistigen Erkrankungen leiden.

Es bleibt daher lediglich zu prüfen, ob dieser für den März
1911 festgestellte Zustand schon zur Zeit der verschiedenen
Testamentserrichtungen, also im Herbst und Winter 1909 und im Sommer
und Herbst 1910 vorhandenErbrecht. NOM W

war. Dies ist nach den Akten unbedenklich zu bejahen. Wenn schon die durch
den Schlaganfall hervorgerufenen akuten Erscheinungen verhältnismässig
bald zurückgingen, so bestehen doch eine Reihe schlüssiger Anhaltspunkte
dafür, dass das geistige Befinden der Erblasserin auch nach jener
teilweisen Besserung Während der Periode vom sommer 1909 bis Anfang 1910
im Wesentlichen das nämliche war, wie es die Experten für die spätere
Zeit ermittelt haben. Als Beweis dafür ist zunächst anzuführen das
sachverständige Zeugnis des Hausarztes Dr. Müller, der die Erblasserin
vier Male, im März, April, August 1909 und Januar 1910 besuchte und
erklärt, dass die Beobachtungen, welehe die ExpertenvFröhlich und Ricklin
bei ihrer Untersuchung inbezug auf Geistes-und Charakterschwäche gemacht
hätten, mit seinen Wahrnehmungen bei jenen Besuchen übereinstimmten und
dass die Patientin ihm nicht nur beim ersten dieser, sondern auch bei
den spätern den Eindruck geistiger Verblödung gemacht habe. Namentlich
aber fällt in Betracht die Aussage des Vermögensverwalters Notar Bochsler
über die Vorgänge, welche im Herbst 1909 sein Eingreifen in verschiedenen
Angelegenheiten veranlassten. Daraus ergibt sich und ist überdies nicht
bestritten, dass Frl. lsler im Jahre 1908 und im Sommer 1909 dem Henry
Siegler in Luzern, Freund ihres verstorbenen Bruders Otto, der bei ihr
häufig auf Besuch war, in zwei Malen je 100,000 Fr. hatte zukommen lassen
und dass sie bald darauf am 6. August 1909 dem Max Zehnder eine Vollmacht
ausstellte, auf Grund deren er von ihrem Bankkonto ebenfalls 107,000
Fr. für sich bezog. Als anfangs September 1909 Notar Bochsler, durch die
Lina Seiler und Frau Zehnder aufmerksam gemacht, dass Frl. Isler sich
mit siegler bei verschlossenen Türen über ökonomische Dinge unterhalten
habe, sie über diese Verhältnisse befragte, ergab sich, dass von all jenen
Vorgängen sozusagen nichts in ihrem Bewusstsein zurückgeblieben war. Sie
konnte nicht sagen, ob es sich bei den zweiten 100,000 Fr. des siegler

122 Erbrecht. N° 22.

um ein Darlehen oder eine Schenkung gehandelt habe und ob etwas
Schriftliches darüber aufgesetzt werden sei, während dann später
bei den Verhandlungen Bochslers mit Siegler drei Schriftstücke,
ein Darlehensschein, eine Schenkungsurkunde und eine Bankvollmacht
zum Vorschein kamen, wobei sich bezeichnender Weise nicht nur die
beiden letzteren, sondern auch der Schuldschein in Händen des siegler
befanden. Daran, dass Siegler schon früher, im Jahre 1908, gestützt auf
eine ihm ausgestellte . Vollmacht 100,000 Fr. erhoben hatte, errinnerte
sie sich überhaupt nicht mehr, sondern es wurde dieser Bezug erst
nachträglich durch Bochsler bei Prüfung der Kontokorrentauszüge der
Bank in Winterthur entdeckt. Ebenso entsann sie sich der dem Zehnder
übergebenen Vollmacht erst nachträglich, nachdem Bochsler den Bezug
von 107,000 Fr. auf die gleiche Weise festgestellt hatte, meinte dann
aber, dass es sich nur um eine kleinere Summe gehandelt habe. Erwägt
man, dass hiebei jeweilen nicht etwa geringfügige Zuwendungen, sondern
Hunderttausende von Franken in Frage standen, so darl darin der schlüssige
Beweis erblickt werden, dass ihr Gedächtnis und ihre Merklähigkeit
schon damals derart gelitten hatten, dass sie ausser Stande war,
Vorgänge, Welche über die gewöhnlichsten Ereignisse des täglichen Lebens
hinausgingen zutreffend aufzufassen und zu beurteilen, und die Richtigkeit
und Tragweite ihr von dritter Seite gemachter Insinuationen und Zumutungen
zu ermessen. Es wird dadurch das sachverständige Zeug-nis des Dr. Müller
in einer Weise bestätigt, die Zweifel an seiner Richtigkeit nicht mehr
aufkommen lässt. Das Nämliche trifft unzweifelhaft auch zu für die
spätere Zeitspanne vom Sommer und Herbst 1910. Wenn die Experten davon
ausgehen, dass zwar das körperliche und auch das geistige Be finden der
Erblasserin gewisse Schwankungen aufgewiesen haben möge, dass aber eine
wesentliche Besserung desselben nach einmal aufgetretener 'Jcrhlödung
und infolgedessen auch eine wesentliche,

Erbrecht. N ° 22. 123

Aenderung des Zustandes gegenüber demjenigen im Jahre 1909 und zu
Anfang 1911 für das Jahr 1910 nicht wahrscheinlich sei, so handelt
es sich hiebei um eine auf die Natur der Krankheit, die ihr zu Grunde
liegenden anatomischen und physiologischen Ursachen, und die Erfahrungen
der Psychiatrie gestützte medizinische Feststellung, die als solche
für den Richter massgebend sein muss und durch den Hinweis auf das
davon angeblich abweichende psychiatrische Gutachten in dem von den
Basler Gerichten beurteilten Testamentprozesse Tanner, nicht entkräftet
werden kann. Denn in jenem Falle handelt es sich um ein ganz anderes
Krankheitsbild, arteriosklerotische Psychose im Frühstadium, Während
hier von den Experten nicht nur ein Irresein auf art'eriosklerotischer
Grundlage, sondern eine an erlittene Schlaganfälle anschliessende senile
Demenz und zwar schon für das Jahr 1909 festgestellt wird. Es können
daher daraus, dass der Experte im Prozesse Tanner (Prof. Bleuler) für die
arteriosklerotische Psychose die Möglichkeit weitgehender Remissionen
und damit eines wechselnden Zustandes inbezug auf die Testieriähigkeit
angenommen hat, Schlüsse für den heutigen Fall nicht gezogen werden.
Wäre übrigens noch ein Zweifel darüber möglich, dass tatsächlich von
einer irgendwie erheblichen Besserung des Zustandes im Jahre 1910 nicht
gesprochen werden kann, so müsste er durch die Ergebnisse der persönlichen
Eiiivernahme der Erblasserin gehoben werden, die am 17. September 1910,
also z w ei T a g e nach Errichtung des letzten angefochtenen Testamentes,
im Entmündigungsprozesse vor Bezirksgericht Bremgarten stattfand.
Es zeigte sich dabei dasselbe Bild weitgehenden geistigen Zerfalls, wie
es durch die Zeugnisse des Dr. Müller und des Notar Bochsler für das Jahr
1909 und durch die persönlichen Wahrnehmungen der Experten für den März
1911 festgestellt ist. ,Zur Auskunft über den Rückgang ihres Vermögens
aufgefordert, weiss sich Frl. lsler zunächst nur an das Darlehen von
100,000 Fr. an Siegler zu entAS 4411 1918 , 9

1 24 Erbrecht. N° 22.

sinnen. Erst nachdem sie im Einzelnen befragt wird, taucht in ihrer
Erinnerung die Schenkung von 100,000 Fr. an einen katholischen Geistlichen
auf: sie kann aber nicht mehr sagen, wer der Empfänger war und wohin genau
das Geld bestimmt war : 100,000 Fr. gab ich an einen Herrn, der geistlich
ist, an eine neue Kirche. Lassen Sie nur die Seiler kommen die weiss es.
Befragt über die Schenkung an Zehnder erklärt sie, das Geld sei nach
Birme'nsdori gekommen, sie hätten es selbst genommen . Und das Darlehen
an Siegler motiviert sie wie folgt : Siegler habe ihr gesagt, das Geld
sei bei ihm am besten versorgt, wenn ich es ihm gebe, er hat es selbst
genommen. Daran dass sie dem Siegler eine Schenkungsurkunde ausgestellt
habe, was durch das Zeugnis Bochslers feststeht-, will sie sich trotz
mehrfachen Verhalts nicht erinnern. Ebenso ist sie über die Vorgänge
bei der Ausstellung der Generalvollmacht an Dr. Brand nur mangelhaft
orientiert. Sie weiss nicht mehr, wo sie dieselbe ausgestellt hat, wie
der Fürsprech heisst und behauptet, es sei der Anwalt, mit dem sie schon
seit zwei Jahren verkehre, Während sie ihn tatsächlich erst wenige Wochen
vorher kennen gelernt hatte. Von irgend einer auf Gedankenverbindung
beruhenden Motivierung ihrer Antworten, insbesondere auch nur von
einem Versuche, die verschiedenen grossen Darleihen und Schenkungen in
plausibler Weise zu begründen, ist Wiederum keine Rede. Wie bedenklich
der Eindruck war, den diese Befragung machte, zeigt auch die Tatsache,
dass Dr. Schneider, der Vertreter der Frl. Isler im Bevormundungsprozesse
sich veranlasst sah, einige Tage später eine Eingabe an das Gericht zu
richten, worin er dagegen Einspruch erhob, dass auf die Angaben der
Beklagten in der Gerichtsverhandlung abgestellt werde, da sie sich
in einer Aufregung befunden habe, welche die ruhige Ueberlegung bei
Beantwortung der Fragen verunmöglicht habe und physische Schwäche nicht
mit mangelnder Geistesklarheit verwechselt werden dürfe. Nachdem die
nämlichen Defekte sich schon früherErbrecht. N° 22. si 125

bei den Unterredungen mit Bochsler und später bei der wiederholten
Untersuchung durch die Experten zeigten, darf indessen täglich als
ausgeschlossen gelten, dass sie wirklich auf diesen Grund zurückzuführen
wären, wie dennauch die Experten die Vermutung, es könnten solche
Zufälligkeit-en mitgespielt haben, aus ähnlichen Erwägungen und
unter Hinweis darauf ausdrücklich ablehnen, dass ,die beobachteten
Störungen auf organische Veränderungen im Gehirn zurückzuführen seien
und durch Gemütsafiekte nicht wesentlich beeinflusst würden. Gegenüber
diesen Momenten, welchezwingend dartun, dass die Erblasserin sich bei
Enicht'ungder Testamente in einem Zustand befand, welcher es ihr unmöglich
machte vernunftgemäss. nach richtig erkannten Beweggründen zu handeln,
können die Aussagen von Zeugen, welche erklären, dass sie dieselbe bei
ihren Besuchen während jener Periode geistig frisch und normal gefunden
hätten, _ nicht in Betracht fallen. Es ist eine bekannte Erfahrung,

. dass Erkrankungen des Geisteslebens, welche sich nicht

in auifälligen akuten Erscheinungen, sondern in einer allgemeinen Abnahme
der geistigen Kräfte äussern, dem gewöhnlichen ungeübten Beobachter
leicht verborgen bleiben und vielfach nur durch eine eingehende
sachverständige Untersuchung festgestellt werden können, weil 'in den
Dingen des Alltags, wo sich die Gedanken in fest eingeschlifienen Bahnen
bewegen, das geistige Vermögen zunächst erhalten bleibt und solange die
Unterredung sich darauf beschränkt, daher auch dessen Defekte nicht zu
Tage treten. Da es sich hier um einen Erkrankungsprozess .dieser Art
handelt, kann somit dem Umstande, dass eine Reihe von Zeugen von der
durch andere bezeugten geistigenVer blödung nichtsbemerkt haben wollen,
kein entscheidendes Gewicht beigelegt werden. Ebenso hat das Zeugnis des
Dr. Schneider, des Verfassers des letzten Testamentes nur beschränkte
Beweiskraft. Bedä'ktwman, dass er der Vertreter der Frl. Isler in:.dem
damals bereits Hugigen Bevormundungsprozesse war,

128 Erbrecht. N° 22.

dass er als solcher seine Informationen einseitig aus dem Kreise
derjenigen Personen erhalten hatte, von denen der Widerstand gegen
das nach allem nachher _Festgestellten sachlich wohlbegründete
Bevormundungsbegehren ausging, und dass er in seinem Urteil notwendig
durch das ihm von Dr. Brand vorgelegte Privatgutachten des Dr. Walker
beeinflusst sein musste, so erscheint es durch_ aus erklärlich, wenn er
an die Unterredung mit Frl. Isler · von vorneherein mit einer gewissen
Voreingenommenheit herantrat und ihm infolge dieser optimistischen
Stimmung

deren Zustand günstiger vorkommen mochte als er in

Wirklichkeit war. Es bleibt daher als aufiallendes Moment nur das Zeugnis
des lrrenarztes Dr. Walker, der wie bereits angedeutet auf Veranlassung
des Fürsprechs Dr. Brand im Sommer 1910 die Erblasserin auf ihren Zustand
und den Besitz der für die Testierfähigkeit

erforderlichen Eigenschaften untersuchte und sich darüber .

in bejahendem Sinne aussprach. Dieses Zeugnis muss indessen schon
deshalb ausser Betracht fallen, weilihm die Vorinstanz als einem
reinen Privatgutachten, das zudem auf unvollständigen und einseitigen
Informationen beruhe

und vom Gutachter selbst nur unter allem Vorbehalt

abgegeben worden sei, die Beweiskraft abgesprochen hat, bei
welcher Beweiswürdigung es für das Bundesgericht sein Bewenden haben
muss. lin-übrigen hat auch Dr. Walker die Erblasserin nicht als normal
bezeichnet, sondern selbst eine Reihe geistiger' Defekte konstatiert. Eine
Meinungsverschiedenheit zwischen ihm und den gerichtlichen Experten
besteht nur über den Grad der Intensität dieser Störungen. Es ist
daher durchaus nicht ausgeschlossen, dass auch er, wenn ihm dasselbe
umfang-reiche Material für die Untersuchung der Kranken zu Gebote
gestanden hätte wie den gerichtlichen Experten zu einem anderen Schlusse
gekommen Wäre, wie er denn als Zeuge vor Gericht diese Möglichkeit selbst
nicht in Abrede gestellt hat.

.. c v.

Sachenrecht. N° 23. 127

'Demnach erkennt das Bundesgericht:

Die Berufung der Beklagten Lina, Walter, Karoline und Martha Seiler
wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom
1. Dezember 1917 ihnen gegenüber bestätigt. Die Berufung der Kläger
wird dahin gutgeheissen, dass die Klage auch gegenüber den Beklagten
Fürsprech Dr. Brand und Notar Brand gut--

geheissen wird.

II. SACHENBECHT

_a_._.

DROITS RÉELS

23. Urteil der II. Zivilabteilung vom 25. April 1918 i. S. Zimmermann
gegen Zürcher. '

Hypothekarische Schuldübernahme. Kommt eine solche dadurch zu Stande, dass
der Gläubiger, obschon er erklärt hat, den Veräusserer des Unterpfandes
als persönlichen Schuldner beibehalten zu wollen, den Erwerber auf
Pfandverwertung betreibt und dieser sich betreiben lässt ?

A. Durch Kaufvertrag vom 21. August 1911, gefertigt am 30. Mai 1912
verkaufte der Kläger Johann Zimmermann in Neuegg dem Beklagten
Albert Zürcher in Zug die Liegenschaft Hinterwyden in Unterägeri
und liess sich von ihm auf dieser für einen Teil des Kaufpreises eine
Grundpiandverschreibung errichten. In der Folge verkaufte der Beklagte das
Grundstück unter Ueberbindung sämtlicher darauf lastender Kapitalienan
J. Trinkler in Menzingen weiter. Mit Anzeige vom 7. März 1913 setzte
das Grundhuchamt Zug den Kläger vor der erfolgten Handänderung und
der zwischen den Kaufskontrahenten verabredeten Schuldübernahme in
Kenntnis. Dieser teilte jedoch dem Beklagten am
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 44 II 107
Date : 24. April 1918
Published : 31. Dezember 1919
Source : Bundesgericht
Status : 44 II 107
Subject area : BGE - Zivilrecht
Subject : 106 Prozessrecht. N° 21. 2. Eventuell es seien die Akten an das Handelsgericht


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OG: 67
ZGB: 519  521
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7 Nr. 35