72 staatsrecht-

V. INTERKANTONALES ARMENBECHT'ASSISTANCE JUDICIAIRE GRATUITE INT
ERCANTONALE _

113. Aus dem Urteil vom 4. Februar 1918 i. S. Zürich gegen Tessin.

Fürsorge für erkrankte mittellose Ausländer. Welcher Kanton hat die
Verpflegungskosten zu tragen,falls der Erkrankungsort und der Ort wo die
Hilfsbedürftigkeit eingetreten, ist, verschiedenen Kantonen angehören
(Art. 7 des schweizerischösterreichischen Niederlassungsvertrages vom
26. Januar,! 7. April 1876)?

A. Die im Jahre 1865 geborene, ledige Josephine Hanyatszek von Kresztfalu,
Ungarn, befindet sich wegen dementia praecox paranoides seit dem
28. September 1913 im Sanatorium Kilchherg bei Zürich. In dieser Anstalt
wurde sie untergebracht von ihrem in Lugano wohnhaften Arbeitgeber
Giovanni Marangoni, mit welchem sie im Jahre 1898 in den Kanton Tessin
gekommen war. Eine Niederlassungsoder Aufenthaltsbewilligung daselbst
hat sie, nach den Angaben der tessiner Behörden, nie gelöst. Vor der
Versetzung nach Kilehberg befand sie sich auf Kosten des Marangoni
wiederholt in der kantonalen Irrenanstalt in Mendrjsio. Auch für die
Kosten in Kilehberg kam Marangoni bis 1. Juli 1917 auf. Mit Schreiben vom
27. August 1917 erklärte er der Anstaltedirektion Kilchberg für die Kranke
nichts mehr tun zu können, da er selbst in finanzielle Schwierigkeiten
geraten war. Die Verwaltung des Sanatoriums Kilehherg wandte sich am
18. August 1917 an die Direktion des Armenwesens des Kantons Zürich
und ersuehte um Kosten; garantie für die Patientin. Die Direktion des
Armenwesens lehnte eine Unterstützungspflicht grundsätzlich ab und
wandte sich ihrerseits an das tessinische Departe-ment iür öffentliche
Unterstützung (Dipartimento dell 'Am- lnterkantonales Armeni-echt. N°
13. 73 _

ministrativo, ramo assistenza) mit dem Ersuchen um Uebernahme der
Verpflegungskosten his zur Heimschafi'ung der Patientin, eventuell um
Uebernahme der Patientin selbst. Das genannte tessinische Departement
lehnte das Begehren ab

B. Mit staatsrechtlichei Klage vom 15. Dezember 1917 hat dei Regierungsrat
des Kantons Zürich dem Bundesgerichte den Fall unterbreitet in der
Meinung. dass es sich um einen Fall von Ausländerunterstützung

' handle, die nicht zu Lasten des Kantons Zürich, sondern

des Kantons Tessin falle. Der Kläger stellt das Begehren, es sei
der Kanton Tessin zur Rückvergütung der vom 18. August 1917 bis zu1
Heimschaffung für Josephine Hanyatszek im Kanton Zürich entstehenden
Unterstützungsauslagen pflichtig zu erklàlen. In del Klagehegründung
verweist der Kläger zunächst auf das Urteil des Bundesgerichtes vom
26. Juni 1914 i. S. Zürich gegen Thurgau (AS 40 I s. 409 und ff.), wonach
die nach Staatsvertrag bestehende Unterstützungspflicht gegenüber kranken
Ausländern demjenigen Kanton obliegt, in dessen Gebiet die Erkrankung
erfolgt ist, die zu behörd-_ lichem Einschreiten Anlass gegeben. hat,
wobei als Ort der Erkrankung der Ort bezeichnet worden ist, wo die
Erkrankung in einer Art offenbar wurde, die zum Einschreiten Anlass
gegeben hat oder hätte geben sollen. Dieser Entscheid, führt der Kläger
aus, gehe insofern für den vorliegenden Fall nicht ohne weiteres eine
eindeutige Lösung, als hier der Ort der Erkrankung und des Eintrittes der
Hülfsbedürftigkeit nicht mit dem Orte identisch sei, wo das Eingreifen
der Armenbehörde erfolgen musste (Zürich). Die Erkrankung und die
Anstaltsbedürftigkeit del Hanyatszek seien schon im Kanton Tessin klar
zu Tage getreten und die tessinische Armenbehörde hätte sich, trotz des
von ihr behaupteten Fehlens einer richtigen Niederlassung, ohne Zweifel
der Kranken auch angenommen, wenn nicht zunächst private Hilfe

' T ,(des Marangoni) eingesetzt hätte.

2-3. Staatsrecht.

' C. Der Staatsrat des Kantons Tessin stellt in seiner Antwort vom
?. Januar 1918 das Begehren, es sei die Unterstützungspflicht gegenüber
der Hanyatszek nicht dem Kanton Tessin aufzuerlegen. Die Hanyatszek
habe nie ihren rechtlichen Wohnsitz Im Kanton Tessin gehabt: sie habe
dort niemals eine Aufenthaltsoder Niederlassungsbewilligung eingeholt,
sondern nur tatsächlich gewohnt bis zu ihrer Versorgung in Kilchberg. So
lange sie im Kanton Tessin gewesen sei, sei sie weder zu Lasten der
öffentlichen Wohltätigkeit gefallen, noch sei dies zu befürchten gewesen.

Das Bundesgericht zieht in Erwiigung:

in der Frage, welcher Kanton im internationalen Un'terstützungsverhältnis
zur Verpflegung und Unterstützung erkrankter und bedürftiger Ausländer
verpflichtet sei, steht die Rechtssprechung des Bundesgerichtes
(in analoger Anwendung der auf dem Gebiete der interkantonalen
Unterstützungspflicht gemäss dem Bundesgesetz vom 22. Juni 1875 geltenden
Sätze) auf dem Standpunkt, dass nicht auf eine allfällige Niederlassung
des Kranken und Bedürftigen, sondern darauf abzustellen sei, auf welchem
Gebiet (Kanton) dessen Erkrankung eingetreten sei (AS 40 I Erw. 2 S. 415
und 416).

Im vorliegenden Falle ist als Ort der Erkrankung der Kanton Tessin zu
betrachten, denn die Hanyatszek war schon wiederholt in der Irrenanstalt
Mendrisio, bevor sie im Sanatorium zu, Kilchberg untergebracht wurde. Erst
mit dem Wegfalle der Unterstützung seitens Marangonis, also in Zürich,
ist aber die Hanyatszek hilfsbedürftig geworden d. h. der öffentlichen
Wohltätigkeit zur Last gefallen. Es fragt sich somit, ob der obgenannte
Grundsatz, welcher den Regelfall im Auge hat, wo die Erkrankung mit der
Bedürftigkeit zusammenfällt, auch dann zu gelten habe, wenn diese beiden
Momente zeitlich auseinander-fallen-

Entscheidend für die Frage der öffentlichen Unter-Interkantonales
Armes-redu. N° iL. . stützungspflicht ist nicht der physiologische Vorgang
der Erkrankung, sondern der Eintritt der Bedürftigke-it, denn erst wenn
die kranke Person keine Mittel mehr besitzt und auch nicht von Dritten
unterstützt wird, erwächst dem Staate die Pflicht für sie zu sorgen. Bei
erkrankten und mittellosen Personen werden die Momente der Erkrankung
und der Bedürftigkeit in der Regel zusammenfallen ; ausnahmsweise kann
es aber auch vorkommen, dass infolge irgend Welcher Umstände (Aufbrauch
der etwa vorhandenen Mittel, Wegfall der Person, die, mit oder ohne
Rechtspflicht, für die Kranke sorgt u. s. w.) die Hilfsbedürftigkeit
erst im Laufe der Erkrankung eintritt. Erst in dem Momente aber, wo der
Kranke hilfsbedüritig wird, fällt er der öffentlichen Wohltätigkeit zur
Last. Die Bedürftigkeit, die Armut der Kranken, ist somit das Moment,
worauf, auch im internationalen Verkehr, abzustellen ist. Der Umstand,
welcher die internationale Hilfepflicht auslöst, ist nicht die Erkrankung,
sondern die Verarmung, die Mittellosigkeit. Hieraus folgt, dass wenn
die Erkrankung und die Mittellosigkeit auseinanderfallen, für die Frage
der kantonalen Abgrenzung der Hilfspflicht nicht der Ort massgebend
ist, wo die Erkrankung, sondern derjenige, wo die Mittellosigkeit,
die Verarniung zu Tage getreten ist. Dur-nach wird derjenige Kanton
unterstützungspflichtig sein, auf dessen Gebiet der Kranke sich t a t s
a c h l i c h aufhielt in dem Momente, wo seine Bedürftigkeit in einer
Weise eintrat und offenbar wurde,sdie das Einschreiten der Behörden
zur Folge hatte oder bei pflichtgemässem Handeln hätte zur Folge haben
müssen und zwar ohne Rücksicht darauf, ob der Kranke, im Momente des
Eintrittes der Hilfsbedürftigkeit in einem anderen Kanton r e c h tl
i c h niedergelassen oder domiziliert war (vergl. AS 40 I Erw. 2 in
fine S. 416). Der Entscheid Würde nur dann anders ausfallen, wenn der
Niederlassungskanton gegen die schuldige Rücksichtnahme gegenüber anderen
Kantonen verstossen hätte ; z. B. wenn er

76 Staatsrecht.

die erkrankte und mittellose Person in einem Momente .abgeschoben
oder ausgewiesen hätte, wo deren Unterstützungsbedürftigkeit in
erkennbarer Weise bereits drohte (siehe das bundesgerichtliche Urteil
"vom 27. September 1917 i. S. Zürich gegen Schaffhausen, Motiv 2 und
iii). Um einen solchen Fall handelt es sich vorliegend nicht. Hanyatszek
wurde, ohne Zutun der Behörde, in Kilchherg versorgt vier Jahre .vor
Eintritt der Bedürftigsi keit, und in einem Momente, wo letztere weder
Vorauszusehen noch zu befürchten war.

Aus diesen Ausführungen folgt, dass die Pflicht, für die Hanyatszek bis
zu ihrer Heimschafi'ung zu sorgen, dem Kanton Zürich obliegt: wobei er
eine eigene Aufgabe erfüllt und daher auch keinen Kostenersatz aus dem
Gesichtspunkte einer öffentlichen-rechtlichen Geschäftsführung ohne
Auftrag' vom Kanton Tessin verlangen kann.

Demnach erkennt das Bundesgericht :

Die Klage wird abgewiesen.

VI. STAATSVERTRÄGETRAITÉS INTERNATLONAUX

14. Urteil vom 20. Juni 1918 i. S. Delvaux gegen Èpstsiein.

Art. 1 7 Abs. 1 der Haager Übereinkunft betr. ZiV ilp r 0 z e s s r
e cht von 1905/1909 gilt nicht für die beklagte Partei als solche und
steht deshalb der in § 60 zürch. ZPO vorgesehenen Kautionsauflage nicht
entgegen.

A. In Anwendung der Vorschrift in § 60 zürch. ZPO vom 13. April 1913,
wonach der Beklagte zur Kautions* AS 43 I s. 308.Staatsverträge. N°
isissi. Î? ,

'leistung für Prozesskosten und Prozessentschädigung

anzuhalten ist, wenn er während des Prozesses ans der Schweiz wegzieht
, hat das Bezirksgericht Zürich dem vor ihm seitens des Rekursbeklagten
Epstein mit einer Forderungsklage belangten Rekurrenten Delvaux, einem
Belgier, Frist zur Leistung einer Kaution von 600 Fr. gesetzt und
für den Fall des Ungehorsams Beurteilung des Prozesses auf Grund der
Vorbringen des Klägers und der Akten angedroht, weil er nach Eintritt
der Streithängigkeit von Zürich nach Paris übergesiedelt ist. Und den
Rekurs Delvaux' gegen diese Verfügung hat die 1. Kammer des Obergerichts
des Kantons Zürich mit Beschluss vom 27. März 1 918 abgewiesen, indem
sie (soweit heute noch von Belang) der Auffassung des Bezirksgerichts
beigestimmt hat, dass der von Delvaux angerufene Art. 17 der Haager
Uebereinkunft betr. Zivilprozessreeht nur den Kläger und Intervenienten
vor Kautionsauflagen schütze.

B. Hierauf hat Delvaux den staatsrechtlichen Rekurs an das Bundesgericht
ergriffen und beantragt, der Beschluss des züreherischen Obergeriehts sei
samt der ihm zugrunde liegenden Verfügung des Bezirksgerichts aufzuheben-

Er macht zur Begründung unter Hinweis auf das Urteil des
Bundesgerichts vom 16. März 1917 i. S. Aigner geltend, die fragliche
Vorschrift in § 60 zürch. ZPO verstosse gegen Art. 17 der Haager
Zivilprozessrechtsübereinkunit, da nach deren, Sinn und Geist dem
ausländischen Beklagten ebensowenig, wie dem ausländischen Kläger,
eine Prozesskaution auferlegt werden dürfe.

C. Der Rekursheklagte Epstein und das 'Ohergericht des Kantons Zürich
haben auf die Erstattung von Gegenhemerkungen verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung :

Die revidierte Haager Uebereinkunft betr. Zivilprozessrecht vom 17. Juli
1905 27. April 1909 bestimmt in Art. 17
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 44 I 72
Datum : 04. Februar 1918
Publiziert : 31. Dezember 1919
Quelle : Bundesgericht
Status : 44 I 72
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : 72 staatsrecht- V. INTERKANTONALES ARMENBECHT'ASSISTANCE JUDICIAIRE GRATUITE INT


Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
bundesgericht • beklagter • frage • entscheid • niederlassungsbewilligung • bedürftigkeit • tag • sozialhilfe • regierungsrat • unterstützungspflicht • sicherstellung • parteientschädigung • begründung des entscheids • unterhaltspflicht • beendigung • sozialhilfeempfänger • ungarn • weiler • forderungsklage • rechtspflicht
... Alle anzeigen