gende Frau das unterste Trittbrett verlassen gehabt hätte und ihm die
Abschätzung der in Frage kommenden Distanz möglich gewesen Wäre. Im
Gegensatz zur Auffassung der Beklagten kann aber ein Verschulden der
Klägerin nicht auch darin gefunden werden, dass sie unzweckmassig
gekleidet und beschuht gewesen sei, da diese Behauptungen von der
Vorinstanz als nicht erwiesen bezeichnet worden sind.
2. Fraglich kann unter diesen Umständen nur sein, ob das Verhalten
der Klägerin als die einzige Ursache des Unfalles aufzufassen sei,
oder ob daneben auch ein Verschulden der Beklagten vorliege bezw. der
Unfall auch noch auf die dem Eisenbahnbetrieb eigentümliche be-sondere
Betriebsgefahr zurückzuführen sei. Zum Verschulden hat die Klägerin der
Beklagten hauptsächlich angerechnet, dass der Wagen und der Bahnhof im
Zeitpunkt des Unfalles ungenügend beleuchtet und der Wagen unzweckrnässig
konstruiert gewesen sei. Nach den tatsächlichen und für das Bundesgericht
verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz, die zum Teil auf das von
der ersten Instanz eingeholte Expertengutachten abgestellt hat, treffen
jedoch diese Behauptungen der Klägerin nicht zu, sodass, da andere die
"Beklagte belastende Momente nicht nachgewiesen worden sind, von einem
Verschulden der Bahn nicht gesprochen werden kann. Ebenso liegt aber auch
keine Konkurrenz von Selbstverschulden der Klägerin und Betriebsgefahr
vor, wie die Vorinstanz angenommen hat. Eine solche Ursachenkonkurrenz hat
das Bundesgericht gewöhnlich nur dann als gegeben.
erachtet, wenn der Verunglückte das Opfer der
besondern Eile und Wucht geworden war, mit der beim. '
Eisenbahnbetrieh schwere Massen auf Schienengeleisen
fortbewegt werden. Im vorliegenden Falle befand sich, aber der Zug im
Momente des Unfalles noch gar nicht in. Bewegung; sodass diese Gefahr
noch nicht gesetzt war..
Es kann aber auch nicht gesagt werden, dass die Klägerin beim Absteigen
vom Wagen von dem besonderenHaftpflichtrecht. N° 131. T 389
Hastgefühle befallen gewesen sei, das sich erfahrungsgemäss den
meisten Personen, die mit dem Eisenbahnbetrieb in Berührung kommen,
leicht mitzuteilen pflegt. Denn die Klägerin verliess den Wagen
nicht, um noch schnell vor der Weiterreise irgendwelche dringende Ver
anstaitungen zu treffen, sondern sie tat es ohne besondere Veranlassung,
wahrscheinlich nur, um sich bis zur Abfahrt des Zuges noch ein wenig
draussen aufzuhalten. Bei dieser Sachlage bestand aber ,für sie beim
Verlassen des Wagens keine Veranlassung zu irgendwelcher Ueberstürzung.
Da endlich auch in der blossen Anlage der nor-
, mal gebauten Wagentreppe, auf der die Klägerin verun-
glückte, keinerlei dem Eisenbahnhetrieb vor allen andern Betrieben
eigentümliche Betriebsgefahr gefunden werden kann, ist daher die
Klage wegen ausschliesslichen Selbstverschuldens der Klägerin gänzlich
abzuweisen.
Demnach hat das Bundesgericht erkannt :
Die Berufung der Klägerin wird abgewiesen, diejenige der Beklagten
gutgeheissen und in Aufhebung des Urteils des Appellationshofes des
Kantons Bern vom 27. April 1916 die Klage gänzlich abgewiesen.
61. Urteil der II. Zivilabteilung vom 5. Juli 1916 i. S. Rey,
Kläger, gegen Grossherzogl. bad. Staatseisenbahnen, Beklagte.
Elektrizitätshaftpflieht. Herabsetzung der Entschädigung bei leichtem
Selbstverschulden des Verletzten. A. Anlässlich der Elektrifizierung
der von der-Be-
klagten betriebenen Wiesenthalbahn hatten die mit der; Erstellung der
Überleitung betreuten Siemens-Schuckertq-
390 Haftpflichtrecht. N° 61.
Werke das Anstreichen der Leitungsmaste dem Malermeister Müller in Weil
(Grossh. Baden) übergeben. Am 30. Juni 1913, als der elektrische Betrieb
bereits probeweise begonnen hatte, erlitt der Kläger, der im Dienste des
genannten Malermeisters stand, beim Streichen eines auf Schweizerboden
befindlichen Mastes unter folgenden Umständen eine Verbrennung III. Grades
des linken Unterarms : Der Kläger hatte eine Reihe von Masten, die
sich zwischen Basel und Riehen befanden, und zwar von Riehen kommend,
zu streichen. Während die Maste, die er bis dahin gestrichen hatte,
nur e i n e Leitung mit zwei in gleicher Höhe verlaufenden Drähten
trugen, waren an demjenigen Mast, an welchem der Unfall sich ereignete,
sowie an den Masten, die der Kläger n a c h diesem zu streichen gehabt
hätte, je zwei Leitungen in einer Vertikaldistanz von etwa ] Meter
angebracht. In der obern Leitung befand sich, wie der Kläger wusste,
Starkstrom ; die untere stand, wie der Kläger ebenfalls wusste, nicht
unter Strom. Der Kläger hatte vom Vorarbeiter die Weisung erhalten, nur
1 Meter unterhalb der Leitungs A drähte zu streichen und nicht weiter
hinaufzusteigen . Nach der Annahme des von den kantonalen Instanzen als
massgebend erklärten technischen Gutachtens des Ing. Oppikofer musste
der Kläger diese Weisung, insoweit die Maste mit je zwei Leitungen in
Betracht kamen, dahin verstehen, dass das Anstreichen nur bis 1 Meter
unterhalb der u n t e r n Leitung stattzufinden habe. Der Experte ist
auf Grund verschiedener Indizien dazu gelangt, und die Vorinstanzen
haben sich dieser Annahme angeschlossen, dass der Kläger entweder den
Ausleger oder dem selben benachbarte Stellen des Mastes streichen wollte,
den Mast auf der Geleiseseite bestieg und mit Hilfe des Rundholzes und
unter Umgehung der Isolatorenkette bis zur Traverse hinaufstieg, also
bis nahe unter die obern Drähte, dann mit dem linken Arm am Ausleger
v einhängte und während er seine Aufmerksamkeit darauf richtete, nicht
die unmittelbar über ihm liegende,H&ftpflichtrecht. N° 81. 391.
am Ausleger angebrachte Leitung zu streifen die Lei tung Sp mit dem
Handgelenk berührte.
Nach dem massgebenden medizinischen Gutachten hat der Kläger infolge des
Unfalls 13 Monate lang 100 %, während weiterer anderthalb Jahre 23 und für
die Zukunft dauernd l5 bis 14 seiner Erwerbsiähigkeit eingebüsst. sein
durchschnittlicher Jahresverdienst hatte nach den Feststellungen der
Vorinstanz vor dem Unfall 1237 Mk. 50 Pf. (250 Tage zu 9 stunden mit 55
Pfennig Stundenlohn) betragen.
Der Kläger ist im Mai 1884 geboren.
B. Durch Urteil vom 20. April 1916 hat das Appellationsgericht
des Kantons Basel-Stadt die Beklagte, welche vom Kläger u. a. auf
Grund des Bundesgesetzes vom 24. Juni 1902 betr. die elektrischen
Schwachund Starkstromleitungen auf Entschädigung belangt wurde, zur
Zahlung von 1718 Mk. 75 Pf. als 2/3 Entschädigung für vorübergehende
Erwerbseinbusse, 290 Fr. 70 Cts. als 3/3 Entschädigung für Heilungskosten
und Kleiderbeschädigung, endlich zur Zahlung einer lebenslänglichen
Rente von 165 Mk. per Jahr als 2/3 Entschädigung für bleibende 20%
ige Verminderung der Erwerbstähigkeit, zahlbar jährlich postnumerando
am 1. Februar, erstmals am 1. Februar 1917, nebst 5% Zins ab 1718 Mk. 75
Pi. und 290 Fr. 70 Cts. seit 30 Juni 1913 verurteilt, die Mehrfor-derungen
des Klägers dagegen abgewiesen.
C. Gegen dieses Urteil haben beide Parteien rechtzeitig und in richtiger
Form die Berufung an das Bundesgericht ergriffen, und zwar der K l ä
g e r mit dem Antrag auf Zuspruch einer Entschädigung von 7102 Mk. 40
Pf. und 290 Fr. 70 Cts. nebst Zins, die B e k l a g t e mit dem Antrag
auf Abweisung der Klage, eventuell Reduktion der angesprochenen Beträge._
Das Bundesgericht zieht i n E r w ä g u n g :
1. Die Einrede der Beklagten, dass der Kläger durch
392 ss Haftpflichtssrecht. N° 61.
Zahlungen deutscher Versicherungsinstitute für den in
Betracht kommenden Unfall bereits entschädigt sei, so '
dass nicht mehr ih rn, sondern höchstens jenen Versicherungsinstituten
ein Anspruch (nämlich nach § 1542 RVO ein Regressanspruch gegen
die Beklagte) zustehe, ist für das Bundesgericht dadurch erledigt,
dass der kantonale Richter jene Einrede, die erst nach Schluss des
Schriftenwechsels erhoben wurde, als verspätet erklärt hat. Gegenüber
dieser prozessrechtlichen Entscheidung beruft sich die Beklagte
zu Unrecht auf Art. 38 des Bundesgesetzes betr. die elektrischen
Schwachund Starkstromleitungen, wonach bei Streitigkeiten über Schaden-
ersatzansprüche aus diesemGesetze die Gerichte über die Wahrheit der
tatsächlichen Behauptungen und über die Höhe des Sehadenersatzes nach
freier Würdigung des gesamten Inhaltes der Verhandlungen zu entscheiden
haben, ohne an die Beweisgrundsätze der einschlagenden Prozessgesetze
gebunden zu sein . Durch diese, wie durch andere ähnliche Bestimmungen
der Bundesgesetzgehung (vergl. z. B. betr. Art. 11 des EHG von 1875 :
BGE 23 S. 636) will nur der Grundsatz der fr e i e n B e w e i swür
digu n g gewahrt, d. h. es Will, wie speziell aus dem Schlussatz des
zitierten Art. 38 deutlich hervorgeht, nur verhindert werden, dass der
Richter sich in der Würdigung des vorhandenen und zugel a s s e n e n
Prozesstoffes durch Regeln des kantonalen Prozessrechts (Beweisgrundsätze
) für gebunden erachte; dagegen will dadurch denjenigen Regeln, die sich
auf die Z u s a m m e n s t el I u 11 g des Prozesstoffs, insbesondere
auf die Unzulässigkeit verspäteter Parteibehauptungen beziehen, eine
solche Regel enthält ja auch das eidgenössische Recht (in Art. 80 OG)
keineswegs Abbruch getan werden.
2. In der Sache selbst ist heute nicht mehr bestritten, dass die
Beklagte, als Betriebsinhaber im Sinne des Bundesgesetzes vom 24. Juni
1902 betr. die elektrischen Schwachund Starketromanlagen, nach Massgehe
diesesHaftpflichtrecht. N° 61. 393
Gesetzes für den dem Kläger erwachsenen Schaden haftet. Dagegen
beruft sich die Beklagte auf den in Art. 2? daselbst vorgesehenen
Haftbefreiungsgrund des g r o h e n Selbstversohuldens, sowieaqurt. 35,
wonach die Haftpflicht ebenfalls ausgeschlossen ist, wenn der
Verletzte sich unter wissentlicher Uebertretung von bekannt gegebenen
Schutzvorrichtungen, Vv'arnungen u. dgl. mit der elektrischen Anlage in
Berührung gebracht hat .
Was zunächst diesen letztern Standpunkt betrifft, so genügt es,
festzustellen, dass die angeführte Gesetzesbestimmung, analog Art. 4 des
alten EHG, dem sie, wie Art. 7 des neuen EHG, nachgebildet ist, sich
nur auf solche Fälle bezieht, in denen der Verletzte überhaupt nichts
mit der ganzen, die Haftpflicht begründenden Ein richtung, also hier mit
der ganzen Starks t r o m a n l a g e zu tun hatte, während die Frage,
ob ein gerade an dieser Starkstromanlage beschäftigt-er Arbeiter infolge
wissentlicher oder leichtfertiger Nichtbeachtung bezüglicher Warnungen
mit einem der stromffihrenden Î) r ä h t e in Berühung gekommen ist,
unter dem Gesichtspunkte des S e l b s t v e r s c h ul d e n 5, also
in Anwendung des Art. 27 zu prüfen ist.
Fragt es sich nun, ob dem Kläger in diesem Sinne ein
Selbstverschulden. zur Last-falle, und, wenn ja, welchen Grades sein
Verschulden sei, so ist davon auszugehen, dass dem Kläger nach den,
nicht aktenwidrigen Feststellungen des kantonalen Richters ausdrücklich
verboten, werden war, sich den Drähten , also auch der untersten Leitung,
auf weniger als einen Meter zu nähern, sowie dass der Unfall sich nach dem
massgebenden Gutachten des Ing. Oppikofer nicht hätte ereignen können,
wenn der Kläger nicht eben dieses Verbot übertreten hätte. Der Kläger
hat somit in der Tat einer im Interesse seiner Sicherheit erlassenen
Warnung zuwidergehandelt, und diese, ihm zum Verschulden anzurechnende
Zuwiderhandlung ist für den Unfall kausal gewesen. Andrerseits fällt in
Betracht, dass, wie der Kläger wusste, nur die
394 Haftpflichtrecht. N° 61;
o h e re Leitung unter Strom stand, die Uebertretung jenes Verbots
also nicht notwendig einen Unfall zur Folge hatte, namentlich aber,
dass wiederum nach der verhindlichen Annahme des erwähnten technischen
Gutachtens, der Kläger offenbar nur aus d e m Grunde dem Verbote
zuwider-gehandelt hat, weil er den Ausleger oder diesem benachbarte
Stellen des Mastes streichen wollte, also aus U e b e r e i Î e r. Das
Verschulden des Klägers erscheint somit nicht als ein schweres oder
grobes im Sinne des Art. 27.
3. Aus dem Gesagten ergibt sich die grundsätzliche Bejahung der
Entschädigungspflicht der Beklagten ; denn nach der angeführten
Gesetzesbestimmnng (Art. 27 des Starkstromgesetzes) bildet nicht schon
jedes, sondern nur g r o b e s Selbstverschulden des Verletzten einen
Haftbefreiungsgrund.
Dagegen fragt es sich, ob wegen le i c h t e n Selbstverschuldens eine H
e r a b s e t z u n g der Entschädigung stattzufinden habe. Der Bejahung
dieser Frage würde nach allgemeinen Grundsätzen des Schadenersatzrechts,
wie auch speziell nach Art. 36 Abs. ] des Starkstromgesetzes, wonach für
die Bemessung der Entschädigungen die Bestimmungen des Obligationehrechts
massgebend sind, kein Bedenken entgegenstehen, wenn nicht nach dem
bereits erwähnten Art. 27 des hier anzuwendenden Spezialgesetzes, im
,Gegensatz zu allen andern schweizerischen Haftpflichtgesetzen, die
vollständige Haftbefreiung des Betriebsinhabers auf den Fall g r o b e
n Selbstverschuldens des Verletzten beschränkt wäre. Mit Rücksicht auf
diese letztere Gesetzesbestimmung könnte die Ansicht vertreten werden
__ und sie ist im vorliegenden Falle vom Kläger vertreten werden dass
auch nur g r o b e s Selbstverschulden zu einer H e r a b s e tan n g
der Entschädigung führen dürfe ; denn, da die Haftbefreiung, die nach
den andern Haftpflichtgesetzen stets dann eintrete, wenn der Unfall
durch Selbstverschulden verursacht sei, nach dem Starkstromgesetz
nurHaftpflichtreeht. N° (51. _ 395
bei g r o b e m Selbstverschulden stattfinde, so sei anzunehmen,
dass überhaupt alle diejenigen Rechtsfolgen, die anderswo schon
bei leichtem Selbstverschulden eintreten, im Anwendungsgebiete des
Starkstromgesetzes erst bei g r o h e m Selbstverschnlden Platz
greifen. Demgegenüber ist indessen zunächst daran zu erinnern, dass
im Anwendungsgebiet der übrigen Haftpflichtgesetze die Herabsetzung
der Entschädigung wegen Mit-Verschuldens nicht einfach ' deshalb
stattfindet, weil diese Gesetze für den Fall, dass Selbstverschulden die
ausschliessliche Ursache eines Unfalls ist, vollständige Haftbefreiung
versehen , sondern deshalb, weil die Herabsetzung der Entschädigung
für die Fälle von Mitverschulden durch positive Gesetzesbestimmungen
angeordnet ist. Bei der Entscheidung der Frage, welchen Einfluss im
Anwendungsgebiete des Starkstromgesetzes das Mitverschulden habe, darf
deshalb nicht einfach auf diejenige Gesetzesbestimmung abgestellt werden,
welche sich auf das Selbstverschulden als 3 u s s c h ] i e s s l i c h
e Ursache des Unfalls bezieht, sondern die Beantwortung jener Frage ist
zunächst in einer h e s o n d e r n, speziell aui das Mit-verschulden
des Geschädigten bezüglichen Gesetzesbestimmung zu suchen. Eine solche
Gesetzesbestimmung liegt hier in Art. 44 Abs. 1
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 44 - 1 Hat der Geschädigte in die schädigende Handlung eingewilligt, oder haben Umstände, für die er einstehen muss, auf die Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens eingewirkt oder die Stellung des Ersatzpflichtigen sonst erschwert, so kann der Richter die Ersatzpflicht ermässigen oder gänzlich von ihr entbinden. |
|
1 | Hat der Geschädigte in die schädigende Handlung eingewilligt, oder haben Umstände, für die er einstehen muss, auf die Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens eingewirkt oder die Stellung des Ersatzpflichtigen sonst erschwert, so kann der Richter die Ersatzpflicht ermässigen oder gänzlich von ihr entbinden. |
2 | Würde ein Ersatzpflichtiger, der den Schaden weder absichtlich noch grobfahrlässig verursacht hat, durch Leistung des Ersatzes in eine Notlage versetzt, so kann der Richter auch aus diesem Grunde die Ersatzpflicht ermässigen. |
Art. 36 Abs. 1 des Starkstromgesetzes analog anzuwenden ist, und der
u. 3. bestimmt, dass der Richter die Ersatzpflicht ermässigen kann, wenn
Umstände, für die der Geschädigte einstehen muss, auf die Entstehung
des Schadens eingem'rkt haben. Muss zwischen der Anwendung dieser,
die Streitfrage unmittelbar lösenden Gesetzesbestimmung einerseits und
allfällig möglichen, übrigens keineswegs zwingenden Schlussfolgerungen
aus Art. 27 des Starkstromgesetzes andrerseits, wonach nur g r o b e s
Mitverschulden zu berücksichtigen wäre, gewählt werden, so ist schon
nach allgemeinen Interpretationsgrund-sätzen der die Streitfrage direkt
lösenden Gesetzesbestimmung der Vorzug zu geben. Es kommt nun aber hinzu,
AS 42 ll 19l6 27
396 Haftpflichtrecht. N° 61.
dass es sich, wie die Entstehungsgeschichte der Art. 27 und 36
zeigt (vergl. BBl 1899 III S. 811, 813 und 816, Stenogr. Bull. der
Bundesversammlung 1900, S. 618 und 662), bei der Beschränkung der
Haftbefreiung auf die Fälle groben Selbstverschuldens einerseits und
bei dem Hinweis auf die Bestimmungen des OR fiber die Bemessung des
Schadenersatzes andrerseits um zwei von einander völlig unabhängige
gesetzgeberische Gedanken handelte. Mit der Beschränkung der
Haktbekreiung auf die Fälle groben selbstverschuldens wollte in der Tat
weiter nichts als die vollständige Abweisung einer Haktpflichtklage
wegen leichten Selbstverschuldens vermieden werden, weil eine solche
vollständige Klagahweisung in Anbetracht der besondern Gefährlichkeit
der elektrischen Anlagen und der Unberechenbarkeit der Gefahr als
stossend empfunden wurde. Mit dem Hinweis auf die Bestimmungen des OR
über die Bemessung des Schadenersatzes wollten dagegen eine Reihe im OR
enthaltener Grundsätze, deren Anwendbarerklärung auf , die Bemessung der
Haftpflichtentschädigungen schon Gegenstand der Motion Brenner gewesen
und zunächst für die E i s e n b a h n haftpilicht postuliert worden war,
verderbend da die Revision des EHG sich in die Länge zog wenigstens auf
die E l e k t r i z i t à t s haftpflicht anwendbar erklärt werden. Zu
diesen Grundsätzen gehört aber 11. a. gerade derjenige des damaligen
Art. 52
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 52 - 1 Wer in berechtigter Notwehr einen Angriff abwehrt, hat den Schaden, den er dabei dem Angreifer in seiner Person oder in seinem Vermögen zufügt, nicht zu ersetzen. |
|
1 | Wer in berechtigter Notwehr einen Angriff abwehrt, hat den Schaden, den er dabei dem Angreifer in seiner Person oder in seinem Vermögen zufügt, nicht zu ersetzen. |
2 | Wer in fremdes Vermögen eingreift, um drohenden Schaden oder Gefahr von sich oder einem andern abzuwenden, hat nach Ermessen des Richters Schadenersatz zu leisten. |
3 | Wer zum Zwecke der Sicherung eines berechtigten Anspruches sich selbst Schutz verschafft, ist dann nicht ersatzpflichtig, wenn nach den gegebenen Umständen amtliche Hilfe nicht rechtzeitig erlangt und nur durch Selbsthilfe eine Vereitelung des Anspruches oder eine wesentliche Erschwerung seiner Geltendmachung verhindert werden konnte. |
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 44 - 1 Hat der Geschädigte in die schädigende Handlung eingewilligt, oder haben Umstände, für die er einstehen muss, auf die Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens eingewirkt oder die Stellung des Ersatzpflichtigen sonst erschwert, so kann der Richter die Ersatzpflicht ermässigen oder gänzlich von ihr entbinden. |
|
1 | Hat der Geschädigte in die schädigende Handlung eingewilligt, oder haben Umstände, für die er einstehen muss, auf die Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens eingewirkt oder die Stellung des Ersatzpflichtigen sonst erschwert, so kann der Richter die Ersatzpflicht ermässigen oder gänzlich von ihr entbinden. |
2 | Würde ein Ersatzpflichtiger, der den Schaden weder absichtlich noch grobfahrlässig verursacht hat, durch Leistung des Ersatzes in eine Notlage versetzt, so kann der Richter auch aus diesem Grunde die Ersatzpflicht ermässigen. |
erniässigen kann , wenn auch dem Beschädigten ein Verschulden beizumessen
ist, bezw. wenn Umstände, für die der Geschädigte einst-eben muss,
auf die Entstehung des Schadens eingewirkt haben . Mit Art. 36 Abs. 1
des Starkstromgesetzes hat also hinsichtlich der Berücksichtigung
des einem Verletzten zur Last fallenden Mitverschuldens keine andere
Lösung getroffen werden wollen, als dann später für die E i s e n b a h
nhaftpflicht mit Art. 5
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 44 - 1 Hat der Geschädigte in die schädigende Handlung eingewilligt, oder haben Umstände, für die er einstehen muss, auf die Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens eingewirkt oder die Stellung des Ersatzpflichtigen sonst erschwert, so kann der Richter die Ersatzpflicht ermässigen oder gänzlich von ihr entbinden. |
|
1 | Hat der Geschädigte in die schädigende Handlung eingewilligt, oder haben Umstände, für die er einstehen muss, auf die Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens eingewirkt oder die Stellung des Ersatzpflichtigen sonst erschwert, so kann der Richter die Ersatzpflicht ermässigen oder gänzlich von ihr entbinden. |
2 | Würde ein Ersatzpflichtiger, der den Schaden weder absichtlich noch grobfahrlässig verursacht hat, durch Leistung des Ersatzes in eine Notlage versetzt, so kann der Richter auch aus diesem Grunde die Ersatzpflicht ermässigen. |
unter Würdigung aller Umstände angemessen er-
Haftpflichtrecht. N° 61. 397
mässigen kann , wenn den Getöteten oder Verletzten ein Teil der Schuld
an dem Unfall trifft . Dass aber in dieser letztem Gesetzesbestimmung,
welche gleichfalls die Ausführung eines der Motion Brenner zu Grunde
liegenden Gedankens darstellt, unter einem Teil der Schuld an dem
Unfall auch ein als Mitursache des Unfalls erscheinendes } e i c h
t e s selbst-verschulden zu verstehen ist, wurde nie bezweifelt und
ergibt sich übrigens auch aus einem Vergleich mit Art. 5 litt. b des
Fabrikhaktpklichtgesetzes, woselbst ebenfalls und in demselben Sinne der
nicht für alle Fälle ganz adäquate Ausdruck Teil der Schuld gebraucht
ist. Diese sämtlichen Gesetzesbestimmungen, die sich auf die Herabsetzung
der Entschädigung bei einem als Mitursache einer Schädigung erscheinenden
Selbstverschulden beziehen, stehen mit einander in engem Zusammenhang und
sind der Ausfluss eines allgemeinen Grundsatzes des Schadenersatzrechts,
welcher durch Art. 27 des Starkstromgesetzes offenbar auch für das
Anwendungsgebiet dieses Spezialgesetzes nicht ausser Kraft gesetzt Werden
wollte. Neu und diesem Spezialgesetze eigentümlich war lediglich das in
dem angeführten Art. 27 allerdings enthaltene Verbot der g ä n z l i c
h e n Abweisung der Klage wegen leichten Selbstverschuldens. Nur eine
solche g a n z l i c h e Verweigerung der Haftpflichtentschädigung wurde
als stossend empfunden, dagegen keineswegs die Anwendung des Grundsatzes,
wonach Mitverschulden des Verletzten zu einer H e r a b s e tz u n g
der Entschädigung führt.
Ein, wenn auch nur leichtes Verschulden des Verletzten, durch welches der
Eintritt des Unfalls begünstigt oder dessen Folgen erschwert wurden,
ist somit im Anwendungsgebiet des Starkstromgesetzes ebensosehr
durch einen Abzug von der Entschädigung zu berücksichtigen, wie im
Anwendungsgebiet der übrigen Haitpflichtgesetze oder bei der aquilischen
Schadenersatzpflicht.
Ob und inwieweit a n d e r e Bestimmungen des OR,. als diejenige, wonach
das Mitverschulden des Ge-
398 Haftpflichtreeht. N° SI.
schädigten zu einer Reduktion der Entschädigung führt, insbesondere solche
Bestimmungen, die im alten OR, das bei Erlass des Starkstromgesetzes noch
galt, nicht enthalten waren, ebenfalls auf die Elektrizitätshaftpflicht
analog anwendbar seien, braucht hier nicht entschieden zu werden.
4. Im vorliegenden Falle ist der Anteil des dem Kläger zur Last fallenden
leichten Verschuldens an der Verursachnng des Unfalls mit der Vorinstanz
auf 1/3 zu veranschlagen ; denn nach den Feststellungen des technischen
Experten hätte der Kläger trotz der durch ihn begangenen Uebertretung des
in Betracht kommenden Verbotes keine Verletzung erlitten, wenn er nicht
offenbar, während er mit dem linken Arm am Ausleger einhängte und seine
Aufmerksamkeit darauf richtete, nicht die unmittelbar über ihm liegende,
am Ausleger angebrachte Leitung L 2 zu streifen,aus Versehen oder
Ungeschicklichkeit die Leitung Sp mit dem Handgelenk berührt hätte . Die
Uebertretung des Verbote, sich den Drähten auf weniger als einen Meter
zu nähren, war somit in der Tat nur eine Mituisache oder Vorbedingung des
Unfalls, als dessen Hauptursache ein unglückliche-r Zufall erscheint. Ein
Abzug von bloss "einem Drittel erscheint daher als angemessen.
5. In Bezug auf die Bemessung des Schadens ist den Ausführungen des
kantonalen Richters, die, soweit. tatsächlicher Natur, nicht als
aktcnwidrig und, soweit rechtlicher Natur, als zutreffend erscheinen,
nichts beizufügen.
Mit Recht hat sodann die Vorinstanz das Vorliegen eines Mitverschuldens
der Beklagten, wie andrerseits auch dasjenige eines Verschuldens Dritter,
verneint ; denn durch die dem Kläger zugekommene Mitteilung, dass die
Leitung unter Strom stehe, und durch das Verbot, sich den Drähten auf
Weniger als einen Meter zu nähern, hatten die in Betracht kommenden
Personen alle ihnen im konkreten Falle obliegenden Vorsichtsmassregeln
getroffen. Ob und eventuell welche dieser Personen (Vor-Hauptwede N°
61. , ss seg-
arbeiter Mählin, Malermeister Müller, SiemensSchuckertWerke) als Dritte
im Sinne von Akt. 27 des Starkstromgesetzes erscheinen, braucht daher
nicht untersucht zu werden.
Ob dem Kläger eine Rente oder aber ein Kapital zuzusprechen sei, war
eine blosse Angemessenheitsfrage, bei deren Entscheidung in erster
Linie die persönlichen und ökonomischen Verhältnisse des Klägers zu
berücksichtigen waren. Das Bundesgericht hat keine Veranlassung, des
Resultat-dieser Berücksichtigung im vorliegenden Falle als unangemessen
zu erklären. Dagegen kann, weil es sich um einen im Ausland domizilierten
Schuldner handelt,die Sicherstellung der Rente verlangt werden. Dabei
bestimmt sich die Höhe der Kaution nach dem mutmasslichen Kapitalwert der
zugesprochenen Rente von 165 Mk. per Jahr. Dieser Kapitalwert beträgt
für den 32 jährigen Kläger nach Soldan Tab. III 2966 Mk. 55 Pf. oder
rund 3000 Mk.
Demnach hat das Bundesgericht erkannt :
_; Die Berufung wird in der Hauptsache abgewiesen und das Urteil des
Appellationsgerichts des Kantons Basel-s Stadt vom 20. April 1916 mit
der einzigen Beifügung bestätigt, dass die Beklagte die Zahlung der
lebenslänglichen Rente von jährlich 165 Mk. durch einen Kapitalbetrag
von 3000 Mk. sicherzustellen hat.