388 Staatsrecht.

III. FREIZÜGIGKEIT DER WISSENSCHAFTLICHEN BERUFSARTENEXERCICE DES
PROFESSIONS LIBÉRALES

56. Urteil vom. 12. November 1915 i. S. Rüegg gegen St. Gallen.

Tragweite des Art. 5
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 5 Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns - 1 Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht.
1    Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht.
2    Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein.
3    Staatliche Organe und Private handeln nach Treu und Glauben.
4    Bund und Kantone beachten das Völkerrecht.
der Übergangshestimmungen zur BV. Liegt Willkür
darin, dass ein Kanton einer Person die Bewilligung zur Ausübung des
Anwaltsberufes verweigert, weil sie nicht durch längere tadellose
Pflichterfüllung den Nachweis der moralischen Festigkeit erbracht habe ?

A. Der Rekurrent 'unterschlug seinerzeit als Landsehreiber des Bezirkes
Schwyz 4797 Fr. 05 Cts. Infolgedessen wurde er vom schwyzerischen
Kriminalgericht zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Ausserdem wurde
ihm das sehwyzerische Anwaltspatent entzogen. Am 23. Juni 1910 wurde der
Rekurrent aus dem Gefàn'gnis entlassen, und am 30. Oktober 1913 erteilte
ihm das Kan tonsgericht des Kantons Schwyz das Anwaltspatent wieder,
nachdem er sich über klaglosen Lebenswandel seit der Entlassung aus der
Strafanstalt ausgewiesen hatte. Gestützt hierauf ersuchte der Rekurrent
das Kantonsgericht des Kantons St. Gallen um die Bewilligung der Ausübung
des Anwaltsberufes in diesem Kanton. Das Kantonsgericht wies das Gesuch
am 15. Dezember 1913 mit folgender Begründung ab: Nach Art. 1 litt. a des
Anwaltsreglementes bilde der gute Leumund eine der Voraussetzungen für die
Ausübung des Anwaltsberufes im Kanton St. Gallen. Dieses Erfordernis sei
beim Rekurreaten nicht erfüilt. Wenn er sich auch seit seiner Entlassung
aus der Strafanstalt klaglos aufgeführt habe, so könne trotzdem die
Trübnng seines Leumundes nicht als gehoben gelten. Es fehle insbesondere
die Garantie,

Freizügigkeit der wissenschaftlichen Berufsarten. N° 56. 389

dass er den verantwortungsvollen Anwaltsberuf selb-_ ständig auszuüben
vermochte, ohne neuen Versuehungen zu erliegen. Der Zeitraum, der seit
seiner Entlassung aus dem Gefängnis verflossen sei, sei für den Nachweis
einer seh-hen Garantie zu kurz. In einem andern Falle, wo es sich um
weniger schwere und in privater Stellung begangene Verfehlungen gehandelt
habe, habe das Kantonsgerieht das Patent erst erteilt, nachdem sich der
Gesuchsteller während einer grösseren Reihe von Jahren vollständig klaglos
aufgeführt und sich drei Jahre in dem-selben Anwaltsbureau betätigt habe.

Am 9. Juni 1915 erneuerte der Rekurrent sein Gesuch beim st. gallischen
Kantonsgericht, indem er verschiedene Zeugnisse verlegte, wonach er sich
seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis tadellos aufgeführt hat.

Das Gesuch wurde jedoch am 7. Juli 1915 neuerdings abgewiesen. Aus
der Begründung des Entscheides ist folgendes hervorzuheben: Die
Garantie, dass der Rekurrent den Anwaltsberuf auszuüben vermöchte,
ohne neuen Versuchungen zu erliegen, fehle auch heute noch. Durch
das Leumundszeugnis des Gemeinderates Rorschach für die Zeit seit
26. Oktober 1910 sei der Beweis nicht erbracht, dass der Rekurrent
diejenige Festigkeit in moralischer Beziehung sich ungeeignet habe,
die im Interesse des rechtsuchenden Publikums vom Anwalt verlangt werden
müsse. Einen solchen Nachweis könnte der Rekurrent nur dadurch erbringen,
dass er Während längeren Zeit in einer auf einem Vertrauensverhältnis
beruhenden Anstellung pflichtbewusst und treu seine Arbeit leiste.

}. Gegen diesen Entscheid hat der Rekurrent am 17. September 1915 den
staatsrechtlichen Rekurs an das Bundesgericht ergriffen mit dem Antrage-,
der Entscheid sei aufzuheben und das Kantonsgericht anzuweisen, ihm die
Ausübung des Anwaltsberufes im Kanton St. Gallen zu bewilligen.

Er führt aus: Das Kantonsgerieht stelle für die Bewilligung der Ausübung
des Anwaltsberufes an Stelle der

39° si Staatsrecht.

Voraussetzung des gulen Leumundes neue Erfordernisse auf, nämlich
das Erfordernis der moralischen Festigkeit und dasjenige der
längern Betätigung auf einem st. gallischen Anwaltsbureau. Dies
sei unzulässig. Wenn der Rekurrent in einem andern Kanton wohnte,
so könnte er den Anforderungen des st. gallischen Kantonsgerichts
nicht genügen. Übrigens sei nicht richtig und nicht erwiesen, dass ihm
die moralische Festigkeit mangle, und zudem sei er seit Oktober 1910
während zwei Jahren in Rorschach und nachher zeitweise in St. Gallen
auf Advokaturbureaux tätig gewesen. Im vorliegenden Falle sei allein
entscheidend die Frage, ob der Rekurrent den guten Leumund besitze. Das
Kantonsgericht des Kantons Schwyz habe diese Frage bejaht und hieran sei
das Kantonsgericht von St. Gallen gebunden. Der angefochtene Entscheid
sei daher willkürlich und verfassungswidrig;

er verletze den Art. 5
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 5 Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns - 1 Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht.
1    Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht.
2    Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein.
3    Staatliche Organe und Private handeln nach Treu und Glauben.
4    Bund und Kantone beachten das Völkerrecht.
der Übergangsbestimmungen zur BV.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Wie das Bundesgericht schon wiederholt entschieden hat (vergl. AS
29 I S, 280 H., 32 I S. 639 f., Urteil vom 21. November 1907
i. S. Winkler gegen Uri), hat Art. 5
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 5 Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns - 1 Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht.
1    Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht.
2    Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein.
3    Staatliche Organe und Private handeln nach Treu und Glauben.
4    Bund und Kantone beachten das Völkerrecht.
der Ùbergangsbestimmungen
zur BV nicht den Sinn, dass jemand, der in einem Kanton auf Grund
eines kantonalen Befähigungsausweises die Bewilligung zur Ausübung
einer wissenschaftlichen Berufsart erhalten hat, ohne weiteres zur
Berufsausübung in der ganzen Eidgenossenschaft zugelassen werden
müsste. Art. 5
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 5 Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns - 1 Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht.
1    Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht.
2    Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein.
3    Staatliche Organe und Private handeln nach Treu und Glauben.
4    Bund und Kantone beachten das Völkerrecht.
der Übergangsbestimmungen zur BV schreibt, wie sich aus
der Vergleichung mit Art. 33
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 33 Petitionsrecht - 1 Jede Person hat das Recht, Petitionen an Behörden zu richten; es dürfen ihr daraus keine Nachteile erwachsen.
1    Jede Person hat das Recht, Petitionen an Behörden zu richten; es dürfen ihr daraus keine Nachteile erwachsen.
2    Die Behörden haben von Petitionen Kenntnis zu nehmen.
BV ergibt, lediglich vor, dass ein Kanton
von einem Gesuchsteller, der auf Grund des Befähigungsausweises eines
andern Kantons um die Bewilligung zur Ausübung einer wissenschaftlichen
Berufsart ersucht, nicht verlangen dürfe, dass er sich noch in anderer
Weise über seine Vorbildung ausweise. Dagegen

Freizügigkeit der wissenschaftlichen Bemfsarten, N° 56. 391

steht es jedem Kanton frei, die Bewilligung zur Ausübung eines
wissenschaftlichen Berufes an den Nachweis gewisser im öffentlichen
Interesse aufgestellte-ipolizeilicher Erfordernisse, wie z. B. eines
guten Rufes, zu knüpfen. Dabei ist es selbstverständlich, dass, wenn
em Kanton das Erfordernis des guten Leumundes des Gesuchstellers als
vorhanden ansieht, die andern Kantone hieran nicht gebunden sind,
sondern über diese Frage für ihr Gebiet selbständig entscheiden können.

2. Es kann sich daher nur noch fragen, ob das Kantonsgericht dem
Rekurrenten die Bewilligung zur Ausübung der Advokatur in willkürlich'er
_Weise verweigert habe. Aber auch in dieser Beziehung ist der Rekurs
unbegründet. Das Kantonsgericht hat keineswegs dem Rekurrenten gegenüber
besondere, gesetzlich nicht vorgesehene Erfordernisse aufgestellt. Indem
es den Nachweis der moralischen Festigkeit durch längere, tadellose
Pflichterfüllung in einer Vertrauensstellung verlangte, hat es angenommen,
dass das Anwaltsreglement' deshalb einen guten Leumund verlange, weil
hierin eine Vermutung für den Besitz der zur Berufsausübuug erforderlichen
Charakterstärke liege, dass aber, nachdem diese Vermutung einmal durch
Begehung eines Verbrechens zerstört sei, für den Nachweis der nötigen
Charakterstärke ein gewöhnliches Leumundszeugnis über klaglose Aufführung
nicht mehr genüge. In dieser Argumentation kann keine Willkür gefunden
werden. Dass der Reif-urrent gerade auf einem st. gallischen Anwaltsbureau
tang sein müsse, um den erforderlichen Nachweis zu erbringen, hat das
Kantonsgericht nicht erklärt.

Demnach hat das Bundesgericht erkannt :

Der Rekurs wird abgewiesen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 41 I 388
Datum : 12. November 1915
Publiziert : 31. Dezember 1915
Quelle : Bundesgericht
Status : 41 I 388
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : 388 Staatsrecht. III. FREIZÜGIGKEIT DER WISSENSCHAFTLICHEN BERUFSARTENEXERCICE DES


Gesetzesregister
BV: 5 
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 5 Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns - 1 Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht.
1    Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht.
2    Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein.
3    Staatliche Organe und Private handeln nach Treu und Glauben.
4    Bund und Kantone beachten das Völkerrecht.
33
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 33 Petitionsrecht - 1 Jede Person hat das Recht, Petitionen an Behörden zu richten; es dürfen ihr daraus keine Nachteile erwachsen.
1    Jede Person hat das Recht, Petitionen an Behörden zu richten; es dürfen ihr daraus keine Nachteile erwachsen.
2    Die Behörden haben von Petitionen Kenntnis zu nehmen.
Stichwortregister
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kantonsgericht • bundesgericht • frage • leumund • gesuchsteller • strafanstalt • begründung des entscheids • leumundszeugnis • stelle • weiler • vermutung • voraussetzung • entscheid • rechtsanwalt • freier beruf • dauer • umfang • fähigkeitsausweis • wiese • uri • verurteilter • eidgenossenschaft • gemeinderat • richtigkeit • bezirk
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