260 Obligatîonenrecht. N° 45.

Beklagte ihrerseits aus dem bezahlten Betrag Zinsen bezogen hat
(vergl. Entscheid des Bundesgerichts vom 6. März 1914 i. S. Specht und
Haase g. Vollert, Erwägung 8 a. E.).

Demnach hat das Bundesgericht erkannt :

Die Berufung wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil aufgehoben und
die Beklagte verurteilt, dem Kläger 7593 Fr. 25 Cts. samt Zins zu 5%
seit dem 30. Oktober 1909 zu bezahlen.

45. Urteil der I. Zivilabteilung vom 7. April 1814 i. S. Meyer, Beklagter,
gegen Bigler und Egger, Kläger.

Haftung des Tierhalters aus Art. 65 a OR: Natur der
Haftung. Diligenzpflicht des Pferdehalters. Verschulden des Getöteten. Tod
der entschädigungsberechtigten Witwe.

A.Durch Urteil vom 31. Oktober 1913 hat die II. Zivilkammer des
Appellationshofes des Kantons Bern über die Klagebegehren: .

1. Der Beklagte sei schuldig und zu verurteilen, der Klägerin den ihr
infolge des Todes ihres Ehemannes Friedrich Bigler erwachsenen Schaden
zu ersetzen.

2. Es sei der Betrag der Entschädigung gerichtlich zu bestimmen und
vom 19. August 1911 hinweg zu 5 % verzinsbar zu erklären

erkannt :

1. (Abweisung von Beweisanträgen.)

2. Der Klägerin sind ihre Klagsbegehren zugespro chen und es hat ihr der
Beklagte einen Entschädigungs betrag von 1200 Fr. nebst Zins davon à 5 %
seit 19. August 1911 zu bezahlen.

B.Gegen dieses Urteil hat der Beklagte die Berufung an das Bundesgericht
erklärt mit dem Antrag auf Aufhebung und auf gänzliche Abweisung der
Klage.Obligationenrecht. N° 45. 261

C. Die Klägerin hat sich der Berufung angeschlossen und beantragt, es
sei die vom Beklagten zu zahlende Schadenersatzsumme nach richterlicher
Bestimmung angemessen zu erhöhen.

D. Am 19. März 1914 teilte Fürsprecher S. mit, cm;? die Klägerin nach
Fällung des obergerichtlichen Urteils gestorben sei und dass sie als
Noterben drei Kinder hinterlassen habe, welche die Erbschaft angetreten
haben und den Prozess weiterführen. -

Das Bundesgericht zieht in E r W ä g u n g :

1. Der Beklagte ist Fuhrhalter in Bern. Seine Stallungen befinden
sich an der Sandrainstrasse. Am 19. August 1911 hatte er seinen Karrer
Friedrich Beck, der seit Jahren Fuhrknecht und seit einigen Monaten bei
ihm angestellt war, mit der Besorgung von Fuhrungen für die Bauunternehmer
Merz & Cie. betraut. Von diesen erhielt Beck, als er nachmittags zwischen
4 und 5 Uhr auf ihrem an der Konsumstrasse im Mattenhof gelegenen
Werkplatz anlangte, den Auftrag, einen auf dem Kirchenfeld stehenden, mit
Holz beiadenen Wagen abzuholen. Beck spannte daher die beiden Pferde,
von denen das eine 4-, das andere 6-jährig war, aus und führte sie
geschirrt, aber etwas weit zusammengekoppelt, durch die Sulgeneckstrasse
in die Marzilistrasse, um von da auf das Kirchenfeld zu gelangen. Bei der
Mündung in die Marzilistrasse drängten die Pferde rechts dem nahen Stalle
zu und wurden störrisch. Beck, welcher das eine Pferd am Zügel führte,
musste einen Augenblick die bei_ den Pferde freigeben und diese liefen
eine kurze Strecke gegen den Stall zurück. In der Nähe war der städtische
Wegknecht Friedrich Bigler mit Strassenreinigungsarbeiten beschäftigt. Er
hielt die Pferde auf und übergab sie dem Beck Wieder. Dieser brachte
sie aber neuerdings nicht recht vorwärts. Das Vonderhand pferd blieb
stehen und sodann auch das Zurhand pferd. Bigler war

262 Obligationenrecht. N° 45.

mit seiner Bänne den Pferden gefolgt; als sie anhielten, stellte er
die Bänne ab, ging von hinten auf das Vonderhand pferd zu und erhob den
Besen wie zum Schlage, indem er hii rief. Das Pferd schlug darauf mit
den Hinterbeinen aus und versetzte Bigler einen Schlag auf die Brust,
der seinen sofortigen Tod zur Folge hatte.Witwe Bigler belangte den
Beklagten als Halter des 4-jährigen Unglückspferdes, das der Beklagte
seit einigen Monaten von der Pferdehandlung Brunschwig & Cie. in Bern
an der Fütterung und im Gebrauch hatte, auf Ersatz des ihr aus dem Tod
ihres Ehemannes erwachsenen Schadens.

2. Die Eigenschaft des Beklagten als Tierhalter im Sinne von Art. 65
aOR ist nicht streitig. Es steht fest, dass er im massgebenden
Zeitpunkt das Unglückspferd hielt, ferner dass dieses Pferd den
Schaden angerichtet hat, indem es aus eigenem Antrieb dem Bigler
den tötlichen Schlag versetzte. Der Beklagte könnte sich daher seiner
Haftbarkeit nur durch den Nachweis entziehen, dass er alle erforderliche
Sorgfalt in der Verwahrung und Beaufsichtigung angewendet habe. Die
Natur dieses Beweises und der Haftung des Tierhalters überhaupt ist
kontrovers. Während das Bundesgericht früher Verschuldenshaftung annahm,
wobei das Verschulden präsumiert und, in Umkehrung der gewöhnlichen
Beweislastregel, dem Tierhalter ein Entlastungsbeweis auferlegt werde,
fasst es nunmehr die Haftung aus aOR 65 auf als Kausalhaft, gemildert
durch einen genau umschriebenen Excepticnsbeweis. Gefordert wird nicht
der Nachweis der Abwesenheit eines Verschuldens, sondern der Beweis
einer positiven Diligenz. Vergl. BGE 39 II 538 und hinsichtlich der
analogen Haftung aus aOR 62 das Urteil vom 28. November 1913 i. S. Tock
c. Ott, ferner BURCKHARDT, Revision des OR 91, TRÙSSEL und MEIER in
Zschr. d. bem. Jur. Ver. 45 117 ff. und M 233 if. An dieser neuen
Auffassung ist festzuhalten.

3. Die Vorinstanz erachtet den Exceptionsbeweis im vorliegenden Fall
deshalb nicht als geleistet, weil BeckObllgationenrecht. N° 45. 263

unterlassen habe, den Bigler rechtzeitig vor allzugrosser Annäherung
an die Pferde zu warnen. Sie wirft damit die Frage auf, ob sich der
Exceptionsbeweis auch darauf erstrecke, dass der vom Tierhalter zur
Hütung des Tieres angestellte Knecht alle erforderliche Sorgfalt bei
der Be-aufsichtigung des ihm anvertrauten Tieres beachtet habe. Allein
diese Frage, über die ein grundsätzlicher Entscheid des Bundesgerichtes
noch nicht vorliegt, braucht hier nicht gelöst zu werden. Denn der
Exceptionsbeweis ist schon insoweit gescheitert, als der Beklagte selber
als Tierhalter nicht alle erforderliche Sorgfalt in der Verwahrung
und Beaufsichtigung des Pferdes angewendet hat.

Das Bundesgericht hat an den Exceptionsbeweis stets

. einen strengen Masstab angelegt; insbesondere hat es in

ständiger Praxis ausgesprochen, die Beobachtung üblicher Sorgfalt genüge
nicht, es hedürfe aller nach den besonderen Umständen erforderlichen
Sorgfalt. Vergl. BGE 39 II 539, sowie Art. 56
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 56 - 1 Für den von einem Tier angerichteten Schaden haftet, wer dasselbe hält, wenn er nicht nachweist, dass er alle nach den Umständen gebotene Sorgfalt in der Verwahrung und Beaufsichtigung angewendet habe, oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre.
1    Für den von einem Tier angerichteten Schaden haftet, wer dasselbe hält, wenn er nicht nachweist, dass er alle nach den Umständen gebotene Sorgfalt in der Verwahrung und Beaufsichtigung angewendet habe, oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre.
2    Vorbehalten bleibt ihm der Rückgriff, wenn das Tier von einem andern oder durch das Tier eines andern gereizt worden ist.
3    ...31
OR neu. Nun birgt das
Führen ven Pferden am Zügel auf begangener Strasse erfahrungsgemäss eine
nicht unerhebliche Gefahr in sich. Der Fuhrmann, der das Pferd vorn am
Zügel hält, hat es nicht in gleicher Weise in der Hand, wie der Lenker
von Pferden, die an einen Wagen gespannt sind. Noch gefährlicher ist das
Führen vonzwei zusammengekcppelten Pferden auf offener Strasse durch einen
Knecht. Dieser kann nur das eine Pferd führen, das andere ist frei. Werden
die Pferde durch irgend etwas erschreckt oder sonst störrisch, so hat
der Knecht nur das eine in der Gewalt, weil er nur dieses hält, und das
andere kann mit Leichtigkeit einen Seitensprung ausführen. Der Experte
erklärt denn auch, es sei gut, wenn Junge ungewöhnte Pferde einzeln
geführt werden; sei man genötigtnur einen Fuhrmann mitzuschieken, so
müsse er die Pferde nahe aneinander kcppeln; ferner müsse er, wenn die
Pferde unruhig würden, um Bocksprünge zu verhuten, das Zurhand pferd
an die Hand nehmen und dem

au-z vengano-uan vvlnw 1.-

Vonderhändigen mit der Peitsche abwehren. Hier waren nun die
verhàltnismàssig {jungen Pferde nicht nahe· aneinander gekoppelt, und
was das Abwehren mit der Peitsche betrifft, so fiel dieses Mittel deshalb
ausser Betracht, weil das Vonderhand pferd unter Umständen, und gerade
wenn man ihm die Peitsche gab, auszuschlagen pflegte. Dass der Beklagte
diese Untugend des Unglückspferdes gekannt habe, ist anzunehmen,. da
er ja zugibt, das Pferd gelegentlich auch gefahren zu haben. Bei
dieser Sachlage und angesichts der ausnahmsweise strengen Haftung des
Tierhalters, wie sie in der neuesten Rechtsprechung des Bundesgerichts
betont wurde, kann nicht gesagt werden, der Beklagte habe alles getan, was
ihm oblag und von ihm verlangt werden durfte, damit die Pferde bemeistert
werden konnten und die Aurichtung von Schaden durch sie verhütet werde,
wie denn auch Beck sehon vo r dem Unfall die Gewalt über die Pferde
verlor. Der Beklagte hat sich daher dem Risiko ausgesetzt, welches das
Gesetz dem Tierhalter auferlegt (BGE 39 II 539, Osnn, Kommentar 237),
und haftet grundsätzlich nach Art. 65 aOR.

4. Anderseits trifft den Bigler ein erhebliches Selbstverschnlden.
Zwar ist ein Verschulden nicht schon darin zu erblicken, dass er zumal
in seiner Eigenschaft als Wegknecht auf die Pferde einzuwirken suchte;
sein Eingriff entsprang dem löblichen Bestreben, dem Beck behilflich
zu sein und ein Unglück auf der Strasse zu verhüten; dagegen war die
Art und Weise des Eingreifens eine ungeschickte und schuldhafte, indem
Bigler sich offensichtlich einer bedeutenden Gefahr aussetzte. Sein
Verschulden vermag denBeklagten nicht zu befreien, wohl aber dessen
Entschädigungspflicht'zu ermässigen.

5. Auf die Berechnung des Schadenersatzes kann die Tatsache, dass
die Klägerin, Witwe Bigler, seit der Ausfällung des kantonalen
Urteils gestorben ist, keinen Einfluss ausüben. Diese Tatsache darf
nach Art. 80
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 56 - 1 Für den von einem Tier angerichteten Schaden haftet, wer dasselbe hält, wenn er nicht nachweist, dass er alle nach den Umständen gebotene Sorgfalt in der Verwahrung und Beaufsichtigung angewendet habe, oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre.
1    Für den von einem Tier angerichteten Schaden haftet, wer dasselbe hält, wenn er nicht nachweist, dass er alle nach den Umständen gebotene Sorgfalt in der Verwahrung und Beaufsichtigung angewendet habe, oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre.
2    Vorbehalten bleibt ihm der Rückgriff, wenn das Tier von einem andern oder durch das Tier eines andern gereizt worden ist.
3    ...31
OG vom Bundesgerichtäfür die materielle Entscheidung
desOhligaticnenrecnt. N° 4a. am-

Prozesses nicht berücksichtigt werden. Das ergibt sich aus dem Wesen
derBerufung als einer revista in iure auf Grund des Prozessstofi'es,
wie er der kantonalen Instanz vox-lag. Vergl. BGE 33 II 33 ff., WEISS,
Berufung 158 f. Dagegen hat die Vorinstanz übersehen, dass Witwe Bigler
zugegebenermassen nach dem Tode ihres Ehemannes von der Gemeinde Bern
einen Besoldungsnachgenuss von 1000 Fr. erhalten hat. Dieser Betrag ist
vom Rentenkapital in Abzug zu bringen. Die weitere von der Gemeinde Bern
der Witwe Bigler offerierte Abfindungssumme von 500 Fr. fällt ausser
Betracht, weil die Offerte nicht angenommen wurde.

Die Vorinstanz hat das Rentenkapital in unanfechtbarer Weise auf
4500 Fr. festgesetzt. Sie hat die Entschädigung mit Rücksicht auf das
Verschulden Biglers auf 1200 Fr. ermässigt, welche Summe der Klägerin vor
dem Prozess vom Beklagten, unter Ablehnung der Schuldpflicht, angeboten
worden war. An dieser Summe ist trotz des vom Gesamtbetrag von 4500
Fr. abzuziehenden Besoldungsnachgenusses von 1000 Fr. festzuhalten.
Denn durch Herabsetzung der Entschädigung von 3500 Fr. auf 1200 Fr. ist
dem selbst-verschulden des Bigler genügend Rechnung getragen. Eine
Erhöhung der Entschädigung, wie sie die Kläger mit der Anschlussberufung
verlangen, würde sich keinesfalls rechtfertigen.

Demnach hat das Bundesgericht erkannt :

Hauptund Anschlussberufung werden als unbegründet abgewiesen und es
wird das Urteil der II. Zivilkammer desAppellationshofes des Kantons
Bern vom 31. Ok-

tober 1913 bestätigt.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 40 II 260
Datum : 06. März 1914
Publiziert : 31. Dezember 1914
Quelle : Bundesgericht
Status : 40 II 260
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : 260 Obligatîonenrecht. N° 45. Beklagte ihrerseits aus dem bezahlten Betrag Zinsen


Gesetzesregister
OG: 80
OR: 56 
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 56 - 1 Für den von einem Tier angerichteten Schaden haftet, wer dasselbe hält, wenn er nicht nachweist, dass er alle nach den Umständen gebotene Sorgfalt in der Verwahrung und Beaufsichtigung angewendet habe, oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre.
1    Für den von einem Tier angerichteten Schaden haftet, wer dasselbe hält, wenn er nicht nachweist, dass er alle nach den Umständen gebotene Sorgfalt in der Verwahrung und Beaufsichtigung angewendet habe, oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre.
2    Vorbehalten bleibt ihm der Rückgriff, wenn das Tier von einem andern oder durch das Tier eines andern gereizt worden ist.
3    ...31
65a
BGE Register
33-II-27 • 39-II-536
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
pferd • beklagter • bundesgericht • tierhalter • witwe • tod • weiler • schaden • vorinstanz • frage • gemeinde • zins • stall • monat • erwachsener • eigenschaft • antrag zu vertragsabschluss • gefahr • entscheid • kantonsgericht
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