190 A. Oberste Zivilgeriehtsinstnnz. !. Materieilrecîztliche
Entscheidungen.

in einer schriftlichen Eingehe, die ihr gar nicht bekannt gegebenen
Bevomundungsgründe zu wider-legen

Dem in Art. 374
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 374 - 1 Wer als Ehegatte, eingetragene Partnerin oder eingetragener Partner mit einer Person, die urteilsunfähig wird, einen gemeinsamen Haushalt führt oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet, hat von Gesetzes wegen ein Vertretungsrecht, wenn weder ein Vorsorgeauftrag noch eine entsprechende Beistandschaft besteht.
1    Wer als Ehegatte, eingetragene Partnerin oder eingetragener Partner mit einer Person, die urteilsunfähig wird, einen gemeinsamen Haushalt führt oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet, hat von Gesetzes wegen ein Vertretungsrecht, wenn weder ein Vorsorgeauftrag noch eine entsprechende Beistandschaft besteht.
2    Das Vertretungsrecht umfasst:
1  alle Rechtshandlungen, die zur Deckung des Unterhaltsbedarfs üblicherweise erforderlich sind;
2  die ordentliche Verwaltung des Einkommens und der übrigen Vermögenswerte; und
3  nötigenfalls die Befugnis, die Post zu öffnen und zu erledigen.
3    Für Rechtshandlungen im Rahmen der ausserordentlichen Vermögensverwaltung muss der Ehegatte, die eingetragene Partnerin oder der eingetragene Partner die Zustimmung der Erwachsenenschutzbehörde einholen.
ZGB aufgestellten Erfordernis der vorherigen Anhörung
des zu Bevormundenden ist somit auch anlässlich der zweiten Bevormundung
nicht Genüge getan worden. Es ist daher diese zweite Bevormundung schon
wegen Nichtbeobachtung des bundesrechtlich vorgeschriebenen Verfahrens
aufzuheben, ohne dass untersucht zu werden braucht, ob die materiellen
Voraussetzungen einer Bevormundung nach Art. 370 im vorliegenden Fall
gegeben waren.

Demnach hat das Bundesgericht erka nnt:

Die Beschwerde wird gutgeheissen und die am 11. April 1913 vom
Bürgergemeinderat Giswil über die Beschwerdesührerin verhängte
Vormundschaft aufgehoben,

.2. Erbrecht. Des suceessions.

38. una; der II. Divilabteilnng vom 17. September 1913 ' in Sachen Mmmm,
Bekl. u. Ber.-Kl., gegen gianna, Kl. ,u. Ver.-BM.

Testlerfàhigkeit. Anwendbarkeit des Hand!ungsfdhigkeitsgesetzes ve,-m
Jahre 1881 are-f letztwiliige Verfügungen, die aus der Zeit vor dem
1. Januar 1912 stammen. Begriff der Handlungs-, bezw. Testierfàhigkeit:
Sie setzt u. a. eine normale Widerstandsfàhigkeît gegenüber
Willensbeeinflussungen voraus. Aeeseinanderhaltung von Rechtsund
Tatfrage. Bedeuiemg des Hitfsmitiels der medizini.chwn Expertise
für die Beurteilung der Tolfa-age. Bedeutung des Ver- haltens
des Textators anlässlich des im konkreten Falle angefochtenen
Recktsgescfuîfts. Bedeutung der Erà'iàîrungm der Teseamenlszeugen und
der zugezagenen Urimndsperson, dass der Testat-or sich bei gesundem;
Verstande befunden hab-3.

A. Der Bektagte ist der Neffe und einzige Erbe des, am é. Juli 1910 in
Grosswangen (Luzern) im Alter von 78 Jahren unter Hinterlassung eines
Vermögens von zirka 25,000 Fr. ver-2. Erbrecht. N° 38. III

siorbenem gewesenen Melker-Z Anton Lischer. Dieser, der immer sehr
sparsam gelebt hatte, war am 16. Mai 1910 halb bewusstlos und in äusserst
verwahrlostem Zustand in seiner Wohnung, auf dem Fussboden liegend,
aufgefunden und daran zu seiner Vers-flegung in die Armenanstalt des
Dorfes verbracht worden. In den folgenden Tagen, nachdem er sich
etwas erholt hatte, wurde er von verschiedenen Personen besucht,
die ihn mit mehr oder weniger Zudringlichkeit baten, ihnen (oder
bestimmten gemeinnützigen Anstalten oder Vereinen) ein Vermächtnis
auszusetzen. Nachdem er daraus tatsächlich zu gemeinnützigen Zwecken
verschiedene Beträge von je einigen hundert Franken testiert hatte,
errichtete er am 20. Mai zu Gunsten einer Frau Schürch, die in demselben
Hause gewohnt hatte, wie er, eine Letztwillensverordnung im Betrage
von 5000 Fr. und sodann am 23. Mai zu Gunsten des heutigen Klägers,
seines Hausherrn, eine solche im Betrage von 4000 Fr. In beiden
letztgenannten Fällen waren bei der Testamentserrichtung der Gemeinde-
schreiber als Urkundspersom zwei Bauernknechte als Testamentszeugen,
die KrankeuschwestersOberim sowie der, bezw. die Bedachte selber,
anwesend. Im ersten Falle unterzeichnete der Testator mit einem Kreuz,
das er ohne fremde Hülfe auf die Urkunde zu setzen vermochte, nachdem er
vorher noch versucht hatte, seinen Namen zu schreiben; im zweiten Falle
musste ihm sogar bei der Anfertigung des Kreuzes geholfen werden. Wegen
des zweiten Vermischtnisses zeigte er sich in der Folge aufgeregt und
unzufrieden Bei einer am 3. Juli von einem Arzte (Dr. Lisibach, Direktor
der Jrrenanstalt St. Urban) vorgenommenen Untersuchung seines geistigen
Zustandes erinnerte er sich noch des Betrage-s von 5000 Fr., den er der
Frau Schürch vermacht hatte; dagegen glaubte er, zu Gunsten des Klägers
nur 600 Fr. testiert zu haben. (EB ist dies derjenige Betrag, den der
Testator bei der Testamentserrichtnng zuerst genannt hatte, als man ihn
fragte, wieviel er dem Kläger vermachen wolle; als sich dieser daraus
unbefriedigt zeigte, war Lischer dann sofort auf 4000 Fr. hinaufgegangen.)

B, Durch Urteil vom 29. März 1913 hat das Obergericht des Kantons Luzern
über die Rechtsfrage:

Ob das von Anton Lischer sel. zu Gunsten des Klägers ausMgesetzte Legat
von 4000 Fr soweit bestritten, gerichtlich zu be-

192 A. Oberste Zivilgerichlsinstanz. [. Materielirechlliche
Entscheidungen.

schützen, mithin der Beklagte mit seiner dagegen erhobenen Be:-

sistreitung abzuweisen sei ? erkannt-

am von Anton einem fel. zu Gunsten wes Klage-s Mage-'

fesste Legat von 4000 Fr. sei gerichtlich beschützt, mithin der Beklagte
mit seiner dagegen erhobeneu Bestreitung abgewiesen- Dieses Urteil beruht,
was den Geisteszustand des Anton Lischer zur Zeit der Testamentserrichtung
betrifft, hauptsächlich auf einemschon von der I. Instanz eingeholten
Obergutachten des luzernischen Sanitätsrates, von welchem gesagt wird,
dass es wegen

seiner eingehenden und schlüssigen Begründung- für den hierortigen

Richter- in seinen Folgerungen entscheidend sei, während zu dem vom
Bezirksgericht zuerst eingeholten Experteugutachteu des Prof. Bleuler in
Zürich und des Amtsarztes Koch in Ruswil nicht deutlich Stellung genommen,
ein vom Beklagten produziertes Privatgutachteu des Dr. Lisibach, Direktors
der Jrrenanstalt St. Urban,

dagegen als ganz unmassgeblich erklärt wird. Einzeer Feststellungen

des Dr. Lisibach sind immerhin im sanitätsrätlicheu Gutachten
verwet-tet.)Die hauptsächlich in Betracht kommenden Stellen des
sauitätsrätlichen Gutachtens lauten:

Nicht weniger als 8 Zeugen, alles ehrenhafte und zum Teil sehr
intelligente Zeugen, bezeugen die Testierfähigkeit ..... Was will
man eigentlich noch mehr: hier manifestiert sich ein klar und
deutlich ausgesprochener Wille des Testators, der deutlich und
vielfach bezeugt ist ..... Die Hauptsache ist, dass alle Zeugen
ein- stimmig die Testierfähigkeit A. Lischers für den 20. Mai
bezeugen Das sollte eigentlich für die Anerkennung des Testamentes
vollständig genügen. Tatsache ist, dass das Gesetz zur Feststellung
der Testierfähigkeit gar keinen Psychiater verlangt, sondern bloss
Zeugen, während es sich doch in den meisten Fällen um alte senile Lente
handeit. Lisibach urteilt nur nach dem, was er am 3. Juli 1910 gesehen;
das ist von seinem Standpunkte aus ganz recht; deshalb diagnostiziert
er Dementia senilis. Das ist als richtig zuzugeben ..... Die amtlichen
Hm. Vorgutachter sagen: Die Lähmungen sind einer allgemeinen Schädigung
des Gehirns zuzuschreiben. Solche Störungen können sich wieder bessern,
soweit3. Erbrecht. NÖ 38. 193-

,511! durch Änderungen der Druckund Ernahrnngsverhaltnisse im Gehiru
bewirkt sind. Das war auch hier der Fall, so dass der Kranke nach wenigen
Tagen wieder ganz beim Bewusstsein war

Von seinem Anfalle erholte sich Lischer in wenigen Tagen so, dass er
orientiert war und mit seinen Pflege-In ungefähr wie ein Ge-

sunder verkehrte Es ist ziemlich ausgeschlossen, dass er in dieser

Zeit der Erholung, in die die Testamentserrichtungeu fallen, ver-

wirrt war, Wahnideen hatte, Gedächtnisdefekte oder gemütliche

Verstimmuugen in auffälligem Masse. Was will man eigentlich

mehr für deu Beweis der Testierfähigkeitl ..... Sobald jemand

fähig ist, zu verstehen, was ein letzter Wille bedeutet und was

Inhalt und Zweck eines Von ihm ausgesprochenen letzten Willens

ist, sowie seinen Entschluss zur Errichtung desselben unbeeinslusst

durch krankhafte Störungen seiner Geistestätigkeit zu fassen, ist der
Begriff des gesunden Verstandes im Sinne des Gesetzes er-

füllt. Sobald die eine oder andere dieser Voraussetzungen mangelt,

ist die Tesiierfähigkeit nicht vorhanden. Der Beweis, dass bei A.

Lischer die eine oder die andere dieser Voraussetzungen am 20. Mai

gemangelt, ist in keiner Weise erbracht; es ist weder die Grösse

der Einbusse des noch vorhanden gewesenen geistigen Fonds, noch der
Grad einer allfällig vorhanden gewesenen Willensschwäche uachgewiesen
worden. Die amtlichen Hm Vorgutachter kommen zum Schluss: ..... (folgt
eine Bezugnahme auf den im Gutachten Bleuler und Koch enthaltenen Sab:
Der Mangel der Testierfähigkeit für den einen Tag ist bewiesen, die
Testierfähigkeit am andern Tag ist sehr wahrscheinlich nur aus Mangel
an Beweisen des Gegenteils anzunehmen, weil eben die Beweislast auf
dieser Seite liegt). Wir gehen, wie aus obigen Ausführungen hervorgeht,
weiter, indem wir überzeugt find, dass die zur Testierfähigkeit nötigen
Geisteskräfte beim Testament der Frau Schürch vom 20. Mai vorhanden
waren, wofür eine Menge Zeugen und Beweise vorhanden, für das Gegenteil
aber nicht.

Wir glauben mit unsern bisherigen Ausführungen dar-

getau zu haben, dass festgestellt ist:

' .1 der den 4. Juli 1910 verstorbene Anton Lischer hat an Dementia
senilis: Altersschwachsinn gelitten.

Durch die vorliegenden Akten ist aber in keiner Weise be -

n 2-

194 A. Oberste Ziriigericiitsinsianz. [. Maleriellrechtliche
Entscheidungen.

wiesen, dass dieser Altersschwachsinn schon den 20. Mai 1910 einen
solchen Grad erreicht hatte, dass A. Lischer an diesem Tage testierunfähig
gewesen wäre .....

Was nun das Verhältnis A. Lischers zu Eiholzer betrifft, so mar dies,
wenn auch im ganzen ein gutes, so doch kein ungetrübtes ..... Dass das
Verhältnis, das früher gut gewesen sein mochte, gelitten, beweist wohl am
Besten der Umstand, dass Lischer von Eiholzer fort wollte. Auch bei dem
Untersuche durch Lisibach erinnette sich Lischer noch, dass Eiholzer mit
ihm giftig war. Aus diese-In Verhältnis ergibt sich, dass Lischer nicht
zum vorneherein die Absicht gehabt haben kann, dem Eiholzer etwas zu
ver-machen Schwester Ober-in deponiert im I. Zeugenbeweis für Siegfried
Krummenacher gegen Eiholzer ans Frage 52: Sie werden nicht bezeugen
können, dass A. Lischer von sich aus die Summe von 4000 Fr. nannte, die
dem Eiholzer zukommen sollten? Nein, er nannte zuerst nur 600 Fr Eiholzer
äusserte sich unbefriedigt, worauf ihm Lischer 4000 Fr. gewährte Da sind
wir mit unsern Hm. amtlichen Vokgutachtem auch der Ansicht, dass die
überredung Eiholzers bei Lischer eine ziemlich starke Rolle spielte. Es
mare begreiflich, dass er seinem vieljährigen Hausherrn allenfalls 600
Fr. hätte geben wollen, nachdem er ihn dafür augegangen, aber 4000 Fr. bei
diesem gegenseitigen Verhältnis ist nicht recht verständlich. Zudem ist
konstatiert, dass das Befindeu Lischers an diesem Tage schlimmer war,
alsam 20. Mai; Brunner musste ihm diesmal die Hand führen, um das Kreuz
als Unterschrift fertig zu bringen und dieses sieht mangelhaster aus
als dasjenige vom 20. Mai ..... Nach Aussage Brunners und der Schwester
Oan wusste Lischer, was er" tat und die Testamentszeugen Bättig und
Dubach bezeugen auch an diesem Tage seine Testierfähigkeitz es muss aber
doch gesagt werden, dass eine freie Willenserklärung in diesem Falle
in Frage gestellt werden darf, da von Eiholzer bed; eine Beeinflussung
auf ihn ausgeübt wurde, der auch schon ein allenfalls nur physiologisch
zurückgebildetes seniles Hirn viel"leicht doch nicht mehr gewachsen
war. Auch der Untersuch Lisibachs ergab einen Beweis, dass er bei der
Abfassung des 2. Testamentes in einem schlimmern Zustande war als beim
ersten und dass das zweite seinen wirklichen Absichten weniger entsprach,
indem sich ein deutlicher Unterschied zeigte in der Erinnerung an die
beiden2. Erbrecht. N° ;îzs. 195

,Akte: an das Testament für Frau Schürch hatte er keine getreuc
Erinnerungsfähigkeit, über das zweite vöilig desektes Gedächtnis-,
wie sich unsere Hm. amtlichen Vorbegutachter ausdrücken

Es ist also zu konstatieren, dass Lischer an geistiger Denkenz litt,
aber nicht in dem Grade, dass darin allein ein Beweis liegen wùrde, dass
er zur Zeit der beiden fraglichen Termine nicht testierfàhig gewesen
wäre. Wenn wir die Zeugenaussagen zu Hilfe nehmen, so finden wir darin
auch keinen Beweis für seine Testierunfähigkeit, jedenfalls nicht für
den 1. Termin, bezüglich dessen alle Zeugen übereinstimmend erklären,
dass sich Lischer in geistig normalem Zustande befunden habe-. Nach
wissenschaftlicher Aufsassung können wir bei der Natur der Krankheit
Lischers prinzipiell nicht annehmen, dass sein Geisteszustand im Verlaufe
der fraglichen drei Tage ein wesentlich anderer geworden sei. Dagegen
deuten die Zeugenaussagen darauf hin, dass vorübergehend der Zustand,
von dein der freie Wille und das Judicium abhängig sind, bei ihm am
2. Termin gegenüber dem i. ein geschwächter sein mochte. Wir müssen
bemerken, dass unseres Erachtens auch in diesen aus den 2. Terrain sich
beziehenden Verhäitnissen nicht der Beweis erblickt werden kann, dass
die Testierfähigkeit damals nicht vorhanden war, wenn auch zugegeben
werden soll, dass sie in letzterem Falle nicht so unbestritten dasteht,
wie im ersten und vorausgesetzt, dass am 2. Termini die Beeinflussung
Eiholzers aus den Testator nicht in bedeutendem Masse eingewirkt hat,
was zu dem-teilen nicht unsere, sondern Sache des Richters ist-

C. Gegen das Urteil des Obergerichts hat der Beklagte rechtzeitig und
in richtiger Form die Berufung an das Bundesgericht ergriffen, mit
den Anträgen:

1. Das angefochtene Urteil des kantonalen Obergerichts sei
aufzuheben.2. Die Klage sei abzuweisen, eventuell sei die Prozedur
zur Beurteilung nach kantonaletn Recht an die kantonalen Jnstanzen
zurückzuweisen. ,

3. Die Prozedur sei zur Aktenergänzung im Sinne der An träge des
Berufungsklägers (Appeîtatiens und Kassationserklärung aus Obergericht
Biff. 2) an die kantonalen Jnstanzen zurückzuweisen.

Der Antrag Nr. 3 bezieht sich auf eine Anzahl s. Zt. vom

196 A. Oberste Zivügerichlsinsmnz. LMaterielh-echfliche Entscheidungen.

Beklagten produzierten Aktenstücke, die als verspätet eingereicht aus
dem Recht gewiesen worden waren.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Mit Recht hat die Borinstanz angenommen, dass die Frage der
Testierfähigkeit sich im vorliegenden Falle, weil die augesochtene
letztwiilige Verfügung aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des ZGB stamme,
nach altem Recht und zwar nach Art. 4 des Handlungsfähigkeitsgesetzes
vom Jahre ·1881, der sich nicht nur auf Rechtsgeschäfte unter
Lebenden, sondern auch auf die letztwilligen Verfügungen bezog, zu
entscheiden sei. Es genügt in dieser Beziehung auf die Ausführungen des
bundesgerichtlichen Urteils vom 16. Oktober 1912 i. S. Bellamy g. Micheli
und Gentet (AS3811 S. 416 sf.) zu verweisen.

Damit ist die Kompetenz des Bundesgerichts zur Beurteilung der Streitsache
in materieller Beziehung gegeben. Auf die Beschwerde des Beklagten und
Berufungsklägers betreffend Nichtzulassnng einer Anzahl nächträglich
produzierter Aktenstücke kann dagegen, weil es sich dabei um eine Frage
des kantonalen Prozessrechtes handelt (nämlich um die Frage, ob die
verspätete Einreichung im Sinne der einschlägigen kantonalrechtlichen
Bestimmungen entschuldbar sei), nicht eingetreten werden. Ebensowenig
kann infolgedessen von einer Rückweisung der Sache behufs Beiziehnng
jener Aktenstücke und Ergänzung der Expertise auf Grund derselben die
Rede sein. Übrigens ist (aus den von der Vorinstanz angeführten Gründen)
kaum anzunehmen, dass die massgebenden ärztlichen Gutachten im Falle
der Berücksichtigung jener Aktenstücke anders ausgefallen wären, als
sie tatsächlich ausgesallen find.

2. In der Sache selbst ist davon auszugehen, dass die Frage, welches zur
Zeit der Testamentserrichtung der geistige Zustand des Anton Lischer war,
insbesondere ob und inwieweit der Genannte zur Beurteilung der Folgen
seines Handelns und zur Leistung von Widerstand gegenüber Versuchen der
Willensbeeinflussnng befähigt war, eine Tatfrage ist, deren Überprüfung
dem Bundesgerichte, soweit nicht etwa Aktenwidrigkeiten vorliegen, nicht
zusteht. Dagegen hat das Bundesgericht zu untersuchen, ob der kantonale
Richter den von ihm in jener Beziehung festgestellten Tatbestand mit
Recht2°. M. PBS. . EW

oder zu Unrecht unter den Begriff der Handlungsfähigkeit subsumiert
habe, m. a. W. ob er von dem richtigen, oder aber von einem unrichtigen
Begriff der Handlungsfähigkeit ausgegangen sei.

3. Zur Beurteilung der Tatsrage, welches zur Zeit der Testamntserrichtung
der geistige Zustand Lischers gewesen fei, musste sich die Vorinstanz,
wie sie es getan-hat,s des Hilfsmittels der medizinischen Expertise
bedienen, da es sich dabei nicht um einen Gegenstand der direkten
sinniichen Wahrnehmung, sondern um eine, auf wissenschaftlichem Wege zu
ziehende Schlussfolgerung aus direkt wahrnehmbaren Tatsachen handelte,
dabei also insbesondere die im Gebiete der Psychiatrie bereits gewonnenen
Erfahrungstatsachen zu verwerten waren, wozu nur der medizinische
Fachmann befähigt isf,. Welchem der verschiedenen bei den Akten liegenden
ärzttichen Warm-eu dabei das Hauptgewicht beizuiegen

sei, welche andere Gutachten ergänzend zu berücksichtigen oder im-

Gegenteil ganz auszuschatten seien, ob es sich rechtfertige, die
Obere,rperteu zu einer Erläuterung ihres Gutachtens zu veranlassen,
u. j. w., waren alles Fragen der Beweiswürdigung,. die sich der
Überprüfnng des Bundesgerichts entziehen. Wenn also die Vortnstanz
in der Hauptsache auf das Gntachteu des luzernischen Sanitätsrates,
eines Ärztekoktegiums mit amtlichem Chat-after, abgestellt, und die
Meinungsäusserung eines anerkannten Psychiaters, wie Prof. ander,
nur ergänzt-nd berücksichtigt hat, wenn-sie ferner dein Gutachten des
Direktors der Jrrenanftatt St.-Urban, Ur. Lisidach, weit es ein reines
Privatgutachten sei, jeden Beweiswert abgesprochen hat Wenigstens insoweit
die Beobachtungen des Dr. Lisibach nicht im sanitätsrätiichen Gutachten
verwertet worden fired}, und wenn sie endlich die Zeugenanssagen in
einzelnen Punkten etwas anders würdigt, ais es die Erster-ten Bleuter und
Koch getan haben, so sind die aus dieser Beweiswürdigung herbei-gegangenen
tatsächlichen Feststelluith weit sie jedenfalls nicht aktenwidrig find,
für das Bundesgericht verbindlich Dieses ist deshalb insbesondere
daran gebunden, wenn das sanitätsrätliche Gutachten und mit ihm die
Vorinftanz die Frage, ob der Testator am 23. Mai die erforderiiche
Willensstärke besass, unt fremden Beeinflussungsversuchen in normaler
Weise Widerstand zu leisten, in Anbetracht der, zum Teil unsichern,
zum Teil sich widerstreitenden übrigen

198 .. Oberste Zivilgerichtsinslanz. l. Matericllreulnlinhe
Entscheidungen.

Judizien, in letzter Linie davon abhängig gemacht haben, ob an jenem
Tage tatsächlich ein fremder Wille in bedeutendem Masse auf denjenigen
des Anton Lischer einzuwirken vermocht habe. (Jn diesem Sinne ist
nämlich der Schlusssatz des sanitätsrätlichen Gutachtens zu verstehen,
wonach in den auf den 2. Termin sich beziehenden Verhältnissen nicht
der Beweis erblickt werden fami, dass die Testierfähigkeit damals nicht
vorhanden war, wenn auch zugegeben werden soll, dass sie in letzterem
Falle nicht so unbestritten dasieht, wie im ersten und vorausgesetzt,
dass am 2. Terrain die Beeinflussung Eiholzers auf den Testator nicht in
bedeutendem Masse eingewirkst hat, was zu beurteilen nicht unsere, sondern
Sache des Richters lit.) Grundsätzlich ist allerdings daran festzuhalten
(vergl. Urteil vom 1. Juli 1910 i. S. Kienzle gegen National Cash Register
Co., Erw. 2), dass die Frage, ob eine bestimmte Person in einem gegebenen
Zeitpunkte handlungsfähig gewesen sei, sich nicht mit der Frage deckt,
ob das im konkreten Falle angefochtene Rechtsgeschäst an sich vernünftig
war oder nicht. Dagegen kann ein bei Abschluss dieses iliechtsgeschäftes
bewiesenes Verhalten, insbesondere ein bei diesem Anlass an den Tag
gelegter aufsallender Mangel an Urteilsoder Widerstandsfähigkeit,
immerhin, neben andern Moment-en, als Judiz dafür verwendet werden, ob
die in Betracht kommende Person zu jener Zeit überhaupt im Stande war,
sich über die Folgen-ihres Handelns Rechenschaft zu geben und dem Versuche
einer Willensbeeinstussung in normaler Weise Widerstand zu leisten.

4. Die Frage nun, ob am 23. Mai 1910 tatsächlich ein fremder Wille
in bedeutendem" Masse auf denjenigen des Anton Lischer einzuwirken
vermocht habe, ist zwar von der Voriustanz nicht ausdrücklich beantwortet
worden. Aus ihren übrigentan sächlichen Feststellungen in Verbindung
mit denjenigen des sanitäts-

rätlichen Gutachtens ergibt sich jedoch mit Bestimmtheit, dass Lischer

in der Tat am 23. Mai 1910 einer Beeinflussung seines Willens durch
denjenigen einer andern Person; nämlich des Ktägers, zum Opfer gefallen
ist. Denn es steht fest, dass der Testator, dessen persönliches Verhältnis
zum Kläger bis dahin zum mindesten ein indifferentes gewesen war, am
22. Mai vom Kläger bearbeitet worden ist, dass er ferner am 23. Mai,
als er gefragt wurde, wie-

w.... ___--W"

2. Erbrecht. N°38 199

viel er dem Kläger legieren wolle, zuerst 600 Fr. angab, dann aber, als
sich dieser unbefriedigt zeigte, sofort aus 4000 Fr· hinausging, dass er
sich in der Folge wegen dieses Vermächtnisses aufgeregt und unzufrieden
zeigte, dass er am 3. Juli nur noch von jenen 600 Fr. etwas wusste,
während er bei dem zu Gunsten der Frau Schürch ausgesetzten Legat den
richtigen Betrag zu nennen vermochte, u. s. w. alles Umstände, die daran
schliessen lassen, dass das dem Kläger am 23. Mai ausgesetzte Legat von
4030 Fr. nicht dem eigenen, freien Willen des Anton Lischer entsprach,
sondern auf eine durch den Kläger ausgeübte Suggesiion zuruckzuführen ist.

5 Hat danach als tatsächlich festgestellt zu gelten, dass Anton Lischer am
23. Mai 1910 fremden Willensbeeinflussungen in abnormer Weise zugänglich
war, so folgt daraus in rechtlicher Beziehung, dass die Frage, ob Lischer
damals handlungsund aiso testierfähig war, verneint werden muss. Denn
gesetzliche Bestimmungen wie am. 4 des Handlungsfähigkeitsgesetzes
von 1881 bezwecken in erster Linie gerade den Schutz solcher Personen,
die sonst den Zuflüsterungen und Zumutungen Audempreisgegeben wären.

Wenn die Vorinstanz trotzdem zu einem andern Resultate gelangt ist, so
beruht dies nicht etwa darauf, dass sie (in tatsächlicher Beziehung)
angenommen hätte, der Wille des Testators sei am 23. Mai nicht in
erheblichem Masse durch denjenigen des Klägers beeinflusst worden,
sondern darauf, dass sie (in rechtlicher Beziehung)sdem Urteil der
s. Bt. zur Testamentserrichtung zugezogenen Urkundsperson, sowie der
Testamentszeugen, eine ausschlaggebende Bedeutung beigelegt hat -was
vom Standpunkte des BG betr. die persönliche Handlungsfähigkeit aus
als unzulässig erscheint. Die Zuziehung solcher Urkundspersvnen und
Solennitätszeugen zur Testamentserrichtung wird allerdings in der
Regel u. a. zu dem Zweckevorgeschrieben, um einerseits den Testator
wenigstens vor äusserlich erkennbaren Willensbeeinflussungen einigermassen
zu schützen und um anderseits im Falle der Testamentsanfechtnng dem
Richter für die Entscheidung der Frage, ob der Erblasser handlungsfähig
waretwelche Anhaltspunkte zu geben. Daraus folgt jedoch nicht, dass der
Richter an das Urteil gebunden sei, das jene Personen ent:

200 A. Oberste Zivügerichtsinstanz. I. Materienrechfliche Entscheidungen.

weder als Prozesszeugen abgeben oder schon anlässlich der
Testamentserrichtung abgegeben haben (wei! das betreffende Zivilgesetz als
formelles Ersordernis für die Gültigkeit des Testaments die Bescheinigung
verlangte, dass der Testator von ihnen Bei gesundem Verstande befunden
worden sei).

ss Die Vorinstanz legt endlich noch Gewicht ans den Umstand, dass
Lischer die Zumutungen der Testamentszengen Dubach und Peiniger möchte
ihnen doch auch etwas vermachen, und wären es auch nur 10 Franken, um
ins Wirtshaus gehen zu können, mit der Antwort zurücktviess Es könnte
da noch mancher kommen ;f' desgleichen ans die ablehnende Antwort, die
Lischer dem Anstalt-Zarzt erteilte, als dieser ihn fragte, ob er nicht
auch zu seinen Gnnsten etwas tesiierenwollet Er (der Virzi) verlange
sonst schon genug und: Er könne es ja selber anfschreiben. Alicia,
abgesehen davon, dass die Bewerbnng der Testamentszeugen am 20. Mai
stattgefunden hat, während es sich in diesem Prozesse um die Frage
handelt, ob Lischer am 23. Mai handlungsfähig war, und abgesehen davon,
dass iene Anfrage des Arztes nach der eigenen Darstellung des Klagers
nur eine scherzhaste gewesen war fällt namentlich in Betracht dass der
Sanitatsrat, wiewohl er in jenen Aussprüchen des Tesiators im Gegensatz
zu den Experten Bieuler und Koch ,Jndizie,n für einen gewissen Grad von
Resistenzsähigkeit erblickt, sich doch nicht veranlasst gesehen hat,
deswegen die Frage, ob Lischer am 23. Mai im Stande war,

fremden Willensöeeinslussnngen in normaler Weise Widerstand

zn leisten, unbedingt zu besahen, sondern ihre Bejahung ausdrneklich noch
davon abhängig gemacht hat, dass am genannten Tage nicht tatsächlich ein
fremder Wille in bedeutendem Mafie aus denjenigen Lischers einzuwirken
vermocht babe. Eine solche bedeutende Einwirkung hat nun aber, wie
dargetan, am 23. Mai in der Tat stattgefunden und es ist daher die Frage,
ob Lischer an diesemA Lage handlungsfahig war, weil der Rechtsbegriff
der Handlungsfähigkeit eine n orma le Widerstandsfahigkeit gegenüber
Wilieusbeeinslnssungen voraussetzt, zu verneinen si

Mit der Gutheissung der Testamentsklage der Frau Schürch steht
dieses Resultat deshalb nicht im Widerspruch weil das massgebende
sanitätsrätiiche Gntachten für den 20. Mai, im Gegensatz2. Érbrccht. N°
38. 201

zum 23. Mai, das Vorhandensein einer normalen Widerstandsfähigkeit
gegenüber Willensbeeinslussnngen unbedingt bejaht, und weil sich auch in
den Akten verschiedene Anhaltspunkte dafür findendass der körperliche
und im Zusammenhang damit auch der geistige Zustand des Testators sich
gerade in der Zeit vom 20. bis zum 23. Mai wesentlich verschlimmert
hat. So ist insbesondere bezeugt, dass Lischer am 20. Mai noch selber
wenigstens ein Kreuz unter seine Letztwillensverordnung zu setzen
vermochte, während er am 23. Mai auch dazu nicht mehr im Stande war;
ferner, dass er die Höhe des der Frau Schürch ausgesetzten Legates im
Gedächtnis behielt, während er die am 23. Mai dem Kläger verwachte Summe
am 8. Juli mit 600 statt mit 4000 Fr. angab. Auch die Tatsache an sich,
dass der Testator (am 20. Mai) die ihm als arme Frau mit vielen Kindern
bekannteFmt Schürch, zu welcher er iu steundnachbarlichen Beziehungen
gestanden hatte-, mit einer grössern Summe bedacht hat, deutet nicht,
oder doch nicht in demselben Masse ans einen unsreien Willen hin, wie
die andere Tatsache, dass er dann am 23. Mai seinem Hausherrn, der als
wohlhabend gati und mit welchem er nach den Akten zum mindesten nicht
ans besonders freundschaftlichem Fusse stand, 4000 Fr. (6 bis 7 Mal

mehr als zuerst zugestanden) vermacht hat-

Demnach hat das Bundesgericht erkannt-

Die Bernsung des Beklagten wird gutgeheissen und in Aufhebung des
angefochtenen Urteils die Klage abgewiesen.

AS 39 ll HHR H
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 39 II 190
Datum : 11. April 1913
Publiziert : 31. Dezember 1914
Quelle : Bundesgericht
Status : 39 II 190
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : 190 A. Oberste Zivilgeriehtsinstnnz. !. Materieilrecîztliche Entscheidungen. in


Gesetzesregister
ZGB: 374
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 374 - 1 Wer als Ehegatte, eingetragene Partnerin oder eingetragener Partner mit einer Person, die urteilsunfähig wird, einen gemeinsamen Haushalt führt oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet, hat von Gesetzes wegen ein Vertretungsrecht, wenn weder ein Vorsorgeauftrag noch eine entsprechende Beistandschaft besteht.
1    Wer als Ehegatte, eingetragene Partnerin oder eingetragener Partner mit einer Person, die urteilsunfähig wird, einen gemeinsamen Haushalt führt oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet, hat von Gesetzes wegen ein Vertretungsrecht, wenn weder ein Vorsorgeauftrag noch eine entsprechende Beistandschaft besteht.
2    Das Vertretungsrecht umfasst:
1  alle Rechtshandlungen, die zur Deckung des Unterhaltsbedarfs üblicherweise erforderlich sind;
2  die ordentliche Verwaltung des Einkommens und der übrigen Vermögenswerte; und
3  nötigenfalls die Befugnis, die Post zu öffnen und zu erledigen.
3    Für Rechtshandlungen im Rahmen der ausserordentlichen Vermögensverwaltung muss der Ehegatte, die eingetragene Partnerin oder der eingetragene Partner die Zustimmung der Erwachsenenschutzbehörde einholen.
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frage • wille • tag • bundesgericht • zeuge • mass • beklagter • weiler • testament • erbrecht • richtigkeit • koch • vorinstanz • termin • brunnen • minderheit • arzt • tatfrage • hauptsache • terrain
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