54 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. ll. Abschnitt. Bundesgesetze.
Zweiter Abschnitt. Seconde section.
Bundesgesetze. Lois fédérales.I. Organisation der
Bundesrechtspflege. Organisation judiciaire fédérale.
7. Hausng aus dem Arie-il vom 6. Februar 1913 in Sachen sigma gegen Reue
Yaumwollspinuerei Emmenhof gl.-@. und Milch
Beschwerdefrist des Art. 178 Ziffer 3 OG. Erfordernis der Uebergabe der
Rekursschrift an die schweizerische Post im Sinne des Art. 41 Abs. 3 OG.
Die Rekursschrift wurde vom Vertreter des Rekurrenten, dem die
schriftliche Ausfertigung des angefochtenen Urteils (eines Strafurteils
des solothurnischen Obergerichts vom 26. September 1912) am 24. Oktober
1912 zugestellt worden war, zunächst am 18. November 1912 zur Post
gegeben, jedoch versehentlich an den Bundesrat der Schweizerischen
Eidgenossenschaft in Laus anne adressiert. Zwar bescheinigte ihm das
Postbureau Luzern den Empfang einer Sendung für das Bundesgericht in
Lausanne; hier dagegen wurde die Post auf den Widerspruch der Adressierung
aufmerksam und leitete die Sendung deswegen an den Absender zurück. Sie
traf erst am 29. November wieder in Luzern ein und wurde hierauf vom
Vertreter des Rekurrenten noch gleichen Tages mit der richtigen Adresse
versehen wiederum zur Post gegeben. Im Begleitschreiben ist bemerkt, dass
für den Fristenlauf die schriftliche Urteilszustellung massgebend und
die Rekursfristsomit auf jeden Fall eingehalten sei, dass dies übrigens
auch zutreffen werde, wenn auf den Tag der Urteilsfällung abgestellt
werden sollte, indem schon das erste PostaufgabesDatum in Be-
I. Organisation der Bundesrechtspflege. N' 7. 55
tracht fallen müsse, da die Postverwaltung an der nicht rechtzeitigen
Zustellung der Sendung mitschuldig sei.
Über die Frage der Rechtzeitigkeit dieses Rekurfes hat das Bundesgericht
in Erwägung gezogen:
1. Gemäss feststehender Praxis ist unter der Eröffnung oder Mitteilung
des kantonalen Urteils, mit der laut Art. 178 Biff. Z OG die 60tägige
Rekursfrist zu laufen beginnt, die kantonalrechtlich vorgeschriebene
Kundgabe des Urteils an die Parteien zu verstehen (vergl. BGE 36 I
Nr. 73 Erw. 1 S. 405 und die dortigen Verweisungen). Danach ist bei
solothurnischen Strafurteilen, zu denen auch die Ehrverletzungsurteile
gehören da sie in Solothurn nicht, wie in verschiedenen anderen
Kantonen, im Zivil-, sondern im Strafprozessverfahren erlassen werden
-, die erfolgte mündliche Urteilserbffnung massgebend. Denn aus § 420
in Verbindung mit § 385 StPO ergibt sich, dass das obergerichtliche
Strafurteil unmittelbar nach seiner Ausfällung vom Präsidenten
den anwesenden Parteien eröffnet und nur den an der Verhandlung
aus-gebliebenen Beteiligten durch den Gerichtsschreiber schriftlich
angezeigt wird. Da nun das hier angesochtene Urteil die Parteien,
speziell den Beklagten und dessen Anwalt, als beim obergerichtlichen
Verhandlungstermin anwesend ausführt, so muss angenommen werden und wird
übrigens vom Vertreter des Rekurrenten auch nicht in Abrede gestellt, dass
diese mündliche Urteilseröffnung tatsächlich stattgefunden habe. Fällt
aber demnach der Beginn der Rekurssrist schon auf den 26. September
1912, so erscheint die Frist als eingehalten nur, sofern die hier nach
Art. 41 Abs. Z OG mindestens erforderliche Übergabe der Rekursschrift
an die schweizerische Post als schon mit der mangelhaft adressierten
Postaufgabe vom 18. November, und nicht erst mit der verbesserten
Adressierung vom 29. November, vollzogen angenommen werden kann. Dies ist
jedoch zu bejahen. Zur Einhaltung der gesetzlichen Fristen genügt es,
wenn die befristete Eingabe, wie Art. 41 Abs. 3 vorschreibt, vor dem
Fristablauf an die Adresse des Bundesgerichts der schweizerischen Post
übergeben worden ist, und dieses Erfordernis muss als erfüllt gelten mit
der Entgegennahme der Sendung seitens der Postverwaltung (per: sönliche
Handlung eines Schalterbeamten oder automatische Funk-
56 A. Siaaisrechtliche Entscheidungen. II. Abschnitt. Buudesgesetzesi
tion eines postamtlichen Briefeinwurfs). Ein die Zustellung ver-
hindernder Mangel der Adressierung vermag die Wirksamkeit des-
tatsächlich vollzogenen Übergabeaktes nicht auszuschliessen, wenn
nur feststeht, dass die Sendung nach dem Willen des Aufgebers richtig
erweise an das Bundesgericht adrefsiert sein sollte. Hierüber kann aber
vortiegend kein Zweifel obwalten, hat doch die Ubernahmspoststelle Luzern
am 18. November schon den Empfang einer Sendung für das Bundesgericht
bescheinigt, aus das die richtige Ortsangabe Lausanne der Adresse
hinwies. Der Rekurs ist somit rechtzeitig eingereicht· Die gegenteilige
Annahme liesse sich unter den hier gegebenen Umständen um so weniger
rechtfertigen, als der Vertreter des Rekurrenten offenbar hinlänglich
Zeit gehabt hätte, das Versehen der Adresse noch innerhalb der (erst
am 25. November ablaufenden) Rekursfrist zu berichtigen, wenn ihm die
Sendung von der Postverwaltung nicht erst nach zehn Tagen, sondern in
ordnungsgemässer Erledigung des Rücktransportes wieder ausgehändigt
worden wäre.
II. Tragung der Kosten der Verpflegung und des Transportes erkrankter
armer Angehöriger anderer Kantone. Fraid'entretien et de transport des
ressortissants indigents et malades d'autres cantone.
8. get-teil vom 27. Februar 1913 in Sachen ist. Gatten gegen Thurgau.
lnterkantonales Armenrecht gemäss Art. 1 des BG v. 22. Juni 1875:
Streitigkeiten über dessen Anwendung fallen unter Art. I 75 Abs. 1
Ziffer 2 OG; die Anrufung des Bundesgerichts ist nicht an die Frist des
Art. 178 Zi/fer 3 OG geknüpft. Die bundesgesetzliche Fu r s o r g ep fl
i .ch t für erkrankte nnbemittelte Angehörige anderer Kantone liegt,
ohne Rücksicht auf den Wohnsitz des Erkrankten, demjemgen Kanton ob,
auf dessen Gebiet die Erk ran ku n g er fo lg t. Anerkennung einer
gesetzlich nicht begründeten Kostentmgnngspflioht ?
ll. Verpnegungsu. Transportkosten für Angehörige anderer Kantone. N° 8. 57
Das Bundesgericht hat auf Grund folgender Aktenlage:
A. Am 16. November 1911 verunglückte der als Knecht auf dem Gute Neuhof
in der thurgauischen Gemeinde Hauptwil angestellte unbemittelte Jakob
Koller von Teuer (Kanton Appenzell A·.Rh.) mit einem Fuhrwerk seines
Dienstherrn auf dem Gebiete der st. gallischen Gemeinde Gossau. Er
erlitt einen komplizierten Armbruch nebst anderweitigen Verletzungen
und wurde auf Anordnung des ihm die erste Hilfe leistenden Arztes in
das Kantonsspital St. Gallen übergeführt.
Mit Zuschrift vom 18. November gab der Gemeinderat Gossau dem Gemeinderate
Hauptwil von der Angelegenheit Kenntnis, mit dem Bemerken, dass er ihm
seiner Zeit die Rechnung zur Be-
zahlung aus dortiger Armenkasse überweisen werde, sofern der
Betroffene nicht selbst hiefür aufkommen könne. Und nachdem er auf diese
Zuschrift keine Antwort erhalten hatte, übersandte er dem Gemeinderate
Hauptwil am 4. Januar 1912 die Rechnung des Kantonsfpitals St. Gallen
für Verpflegung des Jakob Roller. bis 31. Dezember 1911 im Betrage
von 50 Fr. 60 Cts. .zur gefl. direkten Regulierung; dagegen nahm die
Gemeinde Gossau die Kosten der ersten ärztlichen Hülfe aus sich. Der
Gemeinderat Hauptwil übermittelte die Rechnung sofort unter gleichzeitiger
Anzeige an den Gemeinderat Gossau, dass für solche Spitalkosten nach
thurgauischem Recht die Kirchspielarmenpflege lzahlungspflichtig sei
-an die nach seiner Vermutung zuständige Arm-enpflege der (katholischen)
Kirchgemeinde St. Pelagiberg. Diese lehnte jedoch die Zahlungsleistung mit
der Begründung ab, dass entweder der Dienstberr des Verunglückteu, oder
dann dessen Heimatgemeinde Teuer für die fraglichen Kosten aufzukommen
habe. In der Folge wandte sich die Gemeindebehörde von Gossau, da auch
der Dienstherr Kollers ihr gegenüber die Rechtspflicht zur Bezahlung der
Unfallskosten für seinen Knecht,ldem er Selbstverschulden (Trunkenheit)
vorwarf, bestritt und sich bloss freiwillig zu einer Beitragsleistung
hieran bereit erklärte, und da die Gemeinde anderseits vom Verwalter
des Kantonsspitals St. Gallen am 11. Januar 1912 die Auskunft erhielt,
Koller befinde sich zwar zur Zeit ausser Bett und sei reisefähig, doch