400 A. Siaaisrechtliche Entscheidungen. II. Abschnitt. Bundesgesetze.

III. Zivilrechtliche Verhältnisse der Niedergelassenen und
Aufenthalter. Rapports de droit civil des citoyens établis ou en séjour.

79. guten vom 11. Oktober 1911 in Sachen äussert gegen Damit

Gesuch um Vollstreckung einer von einem deutschen Vormundschaftsgericht
erlassenen Verfügung betrefiend den persönlichen Verkehr in Deutschland
geschiedener, aber in der Schweiz wohnhafler deutscher Staatsangehöriger
mit ihren Kindern. Wird durch die Gewährung der Vollstreckung Art. 2
in Verbindung mit Art. 32 BG betr. die zivilr. Verh. verletzt, wonach
die in der Schweiz niedergelassenen Ausleinder in Bezug auf ihre
familienrechtlichen Verhältnisse der schweizerischen Gerichtsbarkeit
unterstehen? Gleiche Frage in Bezug auf Art. 9 leg. cit., wonach
das Elternund Kindesrecht der Gesetzgebung des W ohnsitzstaates
untersteht. Beantwortung dieser beiden Fragen unter Berücksichtigung des
Zusammenhangs der Kinderzuteilungsfrage mit dein Scheidungsurteil als
solchem, zu dessen Erlass im vorliegenden Falle der deutsche Richter
nach der _Haager Scheidungskonvention kompetent war, und das er auch
unter Anwendung des deutschen. materiellen Rechtes fällen durfte.

Anwendung des Grundsatzes der bona fides auf den Fall, dass der eine
Ehegatte die Verfügung des deutschen Gerichts insofern anerkannt,
als dadurch die Kinder prinzipiell ihm zugeteilt werden sind, sie aber
insofern nicht will gelten lassen, als darin dem andern Ehegatten ein
beschränkter persönlicher Verkehr mit den Kindern zugestanden wurde.

A. Die früher zwischen dem Rekurrenten und der Rekursbeklagten bestandene
Ehe ist auf eine vom Rekurrenten erhobene Klage hin durch Urteil des
grossh Landgerichts Heidelberg vom 25. November 1908 wegen Ehebruchs
und sonstigen Verschuldens der Beklagten geschieden worden, wobei das
genannte Gericht seine Kompetenz im Sinne von § 606 Abs. 2 Satz 1 der
deutschen ZPO auf die von keiner Seite bestrittene Tatsache gründete,
dass die Litiganten Deutsche waren und ihren letzten inländischen
Wohn-III. Zivilrechtl. Verhältnisse der Niedergelassenen und
Ausenthalter. N° 79. 401-

sitz in Heidelberg gehabt hatten. Die zitierte Gefetzesbestimmung lautet:

Ist der Ehemann ein Deutscher und hat er im Jnlande keinen allgemeinen
Gerichtsstand, so kann die Klage bei dem Lan-.gericht erhoben werden,
in dessen Bezirk er den letzten Wohnsitz im Jnlande hatte.

Der Wohnsitz des Rekurrenten war zur Zeit der Scheidung und ist noch
heute Bern.

Über die Nebenfolgen der Scheidung, insbesondere die Zuteilung der
4 aus der Ehe hervorgegangenen Kinder enthielt das erwähnte Urteil
entsprechend der deutschen Gerichtspraxis keine Bestimmungen. Dagegen
befasste sich mit der Frage der Kinder-zuteilung eine am 29. April
1909 auf ein Gesuch der Rekursbeklagten hin ergangene Verfügung des
Heidelberger Vormundschaftsgerichts.. Diese Verfügung lautet, soweit
hier in Betracht kommend:

A. Das Gesuch der Autragstellerin Frau Lucie Kley geschiedene Ehesrau
des Kaufmanns Fritz Fallert, wohnhaft in Zürich, Klosebachstr. 48,
auf Ubertragung der Sorge für die aus ihrer Ehe mit ihrem geschiedenen,
in Bern, Gutenbergstrasse 9 wohnenden Ehemann, hervorgegangenen Kinder:

1. Fritz Fallert, geb. am 16. August 1907,

2, Heinz Fallert, geb. am 26. November 1903,

und auf Herausgabe des sub_1 genannten Kindes, sowie das "weitere Gesuch
auf Festsetzung eines angemessenen Unterhaltsbeitrags an die Petentin für
die obigen Kinder wird abgelehnt und verfügt, dass einzig und allein dem
Vater Fritz Fallert in Bern, die Sorge für die Person seiner sämtlichen
4 Kinder zu verbleiben hat.

B. Der persönliche Verkehr der geschiedenen Frau Fallert geb. Kley mit
ihren Kindern Fritz, Erich, Hilde und Heinz wird dahin geregelt, dass
die Kinder jährlich einmal vier Wochen in den Sommerferien (Juli oder
August) bei ihrer Mutter zuzuBringen haben.

Jm Verfahren vor dem Vormundschaftsgericht hatte der durch einen Anwalt
vertretene Rekurrent die Kompetenz dieser Behörde zur Beurteilung der
Kinderzuteilungsfrage nicht bestritten, sondern vorbehaltle materielle
Anträge stellen lassen.

s402 A. Slaatsrechtliche Entscheidungen. lI. Abschnitt. Bundesgesetzc.

B. Am 15. Juli 1909 alle vier Kinder befanden sich damals und befinden
sich auch heute noch beim Rekurrenten stellte die Reknrsbeklagte beim
Appellationsund Kassationshof des Kantons Bern das Gesuch:

Die Vollziehung der Verfügung des Grossh. Amtsgerichts IV von Heidelberg
vom 29. April 1909 sei als zulässig zu erklären.

Aus der Begründung dieses Gesuches ist ersichtlich, dass die
Gefuchstellerin die Verfügung des Heidelberger Vormundschaftsgerichts
insofern anerkannte, als diese Verfügung (in ihrem Dispositiv A)
alle vier Kinder grundsätzlich dem Rekurrenten zugeteilt Iyatte, dass
sie aber anderseits darauf bestand, die Kinder (gemäss Dis-positiv B)
jeweilen während der Sommerferien vier Wochen zu sich zu nehmen.

Durch Urteil vom 22. Juni 1909 erkannte der Appellationsund Kassationshof:

Aus das Exequaturgesuch der Frau Lucie Kuoni geb. Kley wird nicht
eingetreten.

Dieser Entscheid ist folgendermassen begründet: Die Verfügung des
Heidelberger Amtsgerichtes (gemeint ist diejenige des dortigen
.Vormundschaftsgerichtes) sei kein Zivilurteil im Sinne der §§
1 und 387 hern. CP. Wie aus § 1636 des deutschen Bürgerlichen
Gesetzbuches hervorgehe, handle es sich vielmehr um einen Entscheid
des Vormundschaftsgerichtes, bezw. Um einen Akt der freiwilligen
Gerichtsbarkeit (vergl. Seuffert's Archiv, Bd. 9 Nr. 112 und die dort
zitierten Entscheide). Abgesehen nun von der Frage der Bevogtung und
Entvogtung Mehrjähriger sei die Regelung des Vormundschaftswesens und
damit auch die Vollstreckung vormundschaftlicher Verfügungen im Kanton
Bern Sache der Adminiftratiobehörden, speziell des Regierungsstatthalters,
und unterliege daher nicht den Vorschriften der §§ 387 ff. CP. Es sei
denn auch nicht ersichtlich, nach welcher dieser Vorschriften die
Gesuchstelleriu die fragliche Verfügung vollstrecken könnte. Unter
diesen Umständen sei auf das Exequaturgesuch nicht einzutreten, und es
brauche die Frage, ob das grossh. Amtsgericht Heidelberg zum Erlass der
betreffenden Verfügung zuständig gewesen sei, nicht untersucht zu werden.

ILI. Zivilrecht]. Verhältnisse der Niedergelassenen und Aufenthalter. N°
79. 403

Ein daraufhin von der Rekursbeklagtem die unterdessen den Schweizer
Paul Kuoni geheiratet hatte, beim grossh. badischen· Justizministerium
eingereichtes Gesuch um Jntervention wurde am" 16. Juni 1910 abschlägig
beschieden, mit der Begründung, dass auf diesem Gebiete die zwangsweise
Durchführung der Anordnungen der Vormundschaftsbehörde an den Grenzen
des Staates aufhöre, von dessen Behörde sie getroffen wurden.

Am 23. März 1911 richteten die Rekursbeklagte und ihr Ehemanu an den
Regierungsrat des Kantons Bern das Gesuch:"

Es sei der Entscheid des Vormundschaftsgerichtes Heidelberg vom
29. April 1909 im Kanton Bern als vollsireckbar zu erklären und dem
Regierungsstatthalter von Bern Weisung zu geben," gegebenenfalls dessen
Vollstreckung durchzuführen.

Diesem Gesuche lag u. a. folgende Bescheinigung des grossh. Amtsgerichts
Heidelberg bei:

Es wird hiemit bescheinigt, dass die diesseitige Verfügung vom 29. April
d. J. Nr. IV 5982 am 15. Mai d. J. rechtskräftig geworben und dass durch
die Wiederverheiratung der Mutter der Kinder hieran nichts geändert
worden isf.

Jn seiner Antwort auf dieses Gesuch wies der Rekurrent u. a. darauf
hin, dass Frau Kuoni" sich nunmehr mit einem ihrer frühern Liebhaber
verheiratet babe; es sei deshalb begreiflich, dass der Rekurrent feine
Lust empfinde, die Kinder in diese Verhältnisse hineinzulassen; auch
bestehe mit Rücksicht auf die Tatsache der Wiederverheiratung die
Möglichkeit, die Verfügung des Heidelberger Vormundschaftsgerichts
abändern zu lassen, da diese Verfügng noch unter der Voraussetzung
ergangen sei, dass Frau Kuoni" sich nicht wieder verheirate, wenig Mittel
zur Verfügung haben und schon deshalb zu einigermassen richtigem Verhalten
gezwungen sein werde.

Nachdem die Parteien noch zur Replik und Duplik zugelassen worden waren,
erkannte der Regierungsrat am 12. Juni 1911:

Die Verfügung des Amtsgerichts IV von Heidelberg vom 29. April 1909 wird
im Kanton Bern als vollziehbar erHart.

Dieser Entscheid ist im wesentlichen folgendermassen motiviert': Da das
Scheidungsurteil des grossh. Landgerichts d. d. 25. No-

AS 37 x _ 1911 27

404 & Qtaatsrechtliclic Entscheidungen. li. Abschnitt. Bundcsgesetze.

von beiden Parteien anerkannt werde, seien konseTrikiktzrrwiejskgauch
die Wirkungen dieses Urteils nach Massgabe der Gesetzgebung, unter deren
Herrschaft es ausgefallt wurde, im Katiton Bern anzuerkennen. Nun stehe
aber der Rekursbeklagten nach § 1636 das Recht gn, mit den aus ihrer
ersten Erbe hervorgegangenen Kindern zu verkehren Wie aus dem Schlusssatz
von § 1636 des deutschen bürgerlichen Gesetzbuches hervorgehe, sei es
im Streitoder Zweifelsfall Sache der Organe der Vormundschaftspflege,
den Umfang dieses gesetzlichen Rechtes zubestitnmen, bezw. den Verkehr
zwischen den Kindern und demjenigen Elternteil, dem sie nicht zugesprochen
wurden, des Naherii zu regeln. Dies sei durch die Verfügung des
Heidelberger Vormundschaftsgerichts vom 29. April 1909 geschehen. Diese
Verfugung im Kanton Bern zu vollstrecken, sei der Regierungsrat, wenn
auch nicht rechtlich, so doch moralisch verpflichtet und auf alle Gage
krerng tdiesen Entscheid richtet sich der vorliegende staatsrechtliche
Rekurs mit der aus den nachfolgenden Erwägungen er' ' ündun . iWBÎch-Î gle
Regiekungsrat des Kantoiis Bern und die Rekursbeklagte haben Abweisutig
des Rekurses beantragt·

Das Bundesgericht zieht in Erwdägung:

-.4. Ak e' ori e Rekursgrün e. .

6. Kgänätfinalg) dem Gesagten das Schicksal des Rekurses einzig davon
ab, ob die den vorliegenden Fall beherrschenden Kollisionsnormen, als
ivelche der Rekurrent nur diejenigen des Bundesgesetzes von 1891 nennt,
verletzt seien, so sind nun im folgenden zunächst auseinanderzuhaltent die
Norm des Art· 2 jenes Bundesgesetzes einerseits und diejenige des Art. 9
anderseits, welche beide vom Reliirrenteii als verletzt bezeichnet werden.

Es ist von vornherein klar, dass in der Gewahrung des Crequatur für die
Verfügung des Heidelberger Vormundschaftsgerichts vom 29. April 1909
eine Verletzung des Art. 2 BCS)" betr. b.. zivilr. Verh. erblickt werden
müsste, falls sich ergeben wurde, dass nach dieser Gesetzesbestinimung
das genannte Gericht die zum Erlass des Urteils nötige Kompetenz
nicht besass. Dagegen könnte die Frage aufgeworfen werden, ob auch die
Vollstreckung

m. Zivilrechtl. Verhältnisse der Niedergelassenen und Aufenthalter. N°
79. 405

eines Urteils, das zwar vom kompetenten Richter, aber unter Anwendung
eines andern, als des nach Art. 9 anzuivendenden, materiellen Rechts
erlassen wurde, eine Verletzung eben dieses Art. 9 bedeute, m. a. W., ob
die letztere Gesetzesbestimmung den inländischen Vollstreckungsrichter zur
Überprüsung eines ausländischen Urteils hinsichtlich des angewendeten
Rechts verpflichte, oder ob darin nicht vielmehr nur ein an den
inländischen Sachrichter gerichtetes Gebot zu erblicken sei. Jndessen
brauchen diese und andere, damit zusammenhängende Fragen hier jedenfalls
dann nicht entschieden zu werden, wenn sich ergibt, dass in casu der
ausländische Richter nicht nur innerhalb seiner Ko mpetenz, sondern auch
unter Anwendung des richtigen materiellen Rechts geurteilt hat.

6. Es ist dem Rekurrenten zuzugeben, dass nach Art. 2 BG
betr. d. zivilr. Verh. die Ehegatten Fallert, weil sie im Kanton Bern
domiziliert waren, hinsichtlich ihrer samilienrechtlichen Verhältnisse
in erster Linie der bernischen Gerichtsbarkeit unterftanden, sowie dass
nach Art. 9 desselben Gesetzes grundsätzlich auch das anzuwendende
materielle Recht dasjenige des Wohnsitzes, d. h. das bernische Recht
war. Stünde also die in Betracht kommende Verfügung des Heidelberger
Vormundschaftsgerichts nicht mit der in Heidelberg ausgesprochenen
Ehescheidung im Zusammenhang, so müsste in der Gewährung des Erequatur
für jene, alsdann von einem inkompetenten Richter erlassene und zudem
auf der Anwendung des unrichtigen materiellen Rechts beruhende Verfügung
eine Verletzung des Art. 2 und eventuell auch des Art. 9 BG betr. die
zivilr. Verh. erblickt werden.

Nun ist aber zu beachten, dass jene Verfügung des Heidelberger
Vormundschaftsgerichts in iinmittelbarem Anschluss an das ebenfalls in
Heidelberg ergangene Scheidungsurteil, wenn auch freilich nicht vom
Scheidungsrichter selber, sondern von einem Organ der freiwilligen
Gerichtsbarkeit, erlassen worden ist, und es fragt sich daher,
ob nicht hieraus wenigstens auf die Kompetenz des Heidelberger
Vormundschaftsgerichts zur Regelung des streitigen Verhältnisses
geschlossen werden müsse.

Diese Frage ist zu besahen Denn einerseits steht fest, dass der
Heidelberger Richter gemäss am. 5 Biff. 1 der Haager Scheidungs-

406 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. ll. Abschnitt, Bundesgesetze.

konvention in Verbindung mit § 606 Abs. 2 der deutschen Zwilprozessordnung
zum Zuspruch der Ehescheidungsklage selber kompetent war; anderseits aber
erweist sich der Zusammenhang zwischen der Scheidung der Ehe und der
Zuteilung der Kinder als ein derart enger, dass dem Scheidungsrichter
die Kompetenz zur gleichzeitigen Regelung der Kinderzuteilungsfrage
nicht abge- sprocben werden kann. Allerdings macht Art. 2 BG betr. die
zivilr. Verh., welcher (in Verbindung mit Art.1) ganz allgemein die
familienrechtlichen Verhältnisse der Gerichtsbarkeit des Wohnsitzes
unterstellt, in Bezug auf die Frage der Kinderzuteilung keine Ausnahme für
den Fall, dass die Ehe vom Richter des Heimatortes geschieden wird. Allein
es ist nicht zu vergessen, dass die zitterte Gesetzesbestimmung sich
doch in erster Linie auf die familienrechtlichen Verhältnisse der in
der Schweiz niedergelassenen Schweizer bezieht, bei welchen (wegen
der Vorschrift des Art. 43 Abs. 1 ZED) der Fall einer Ehescheidung
durch einen andern als den Domizilrichter überhaupt nicht vorzukommen
pflegt. Mit Rücksicht auf Art. 32 BG betr. die zivilr. Verh., welcher
die entsprechende Anwendung der Art. 1 27 auf die in der Schweiz
domizilierten Ausländer vorsieht, und welcher somit indirekt auch die
familienrechtlichen Beziehungen dieser Ausländer der schweizerischen
Gerichtsbarkeit unterstellt, wäre es nun allerdings vielleicht angezeigt
gewesen, ausdrücklich zu bestimmen, dass bei einer im Ausland erfolgten
Scheidung in der Schweiz domizilierter Ausländer der ausländische
Scheidungsrichter zugleich auch zur Lösung der Kinderzuteilungsfrage
kompetent sei. Allein, wenn nun auch eine solche Bestimmung im
Bundesgesetz von 1891 nicht enthalten ist, so kann doch jedenfalls aus
Art. 32 nicht gefolgert werden, dass für diesen Spezialfall wirklich
die Gerichtsbarkeit des ausländischen Ehescheidungsrichters in ganz
ungewöhnlicher Weise habe eingeengt werden wollen. Dieser Schluss ist
namentlich auch deshalb nicht zulässig, weil ja für die in der Schweiz
erfolgenden Ehescheidungen Art. 49 ZEG die positive Vorschrift enthält,
dass über die Nebenfolgen der Scheidung zu gleicher Zeit wie über die
Scheidungsklage, also vom Scheidung-Zrichter zu urteilen sei. Allerdings
ist das Bundesgesetz betreffend die zivilrechtlichen Verhältnisse
jüngern Datums als das Zwilsiandsund Ehegesetzz allein, da es sich bei
Art. 49 Abs. 2 des .... Zivih'echtl. Verhältnisse der Niedergelassenen
und Aufenthalter. N° 79. 407

letztern Gesetzes um eine Spezialbeftimmung handelt, während Art. 2
des Gesetzes von 1891 nur eine subsidiäre und, wenigstens im Verhältnis
zu andern Bestimmungen desselben Gesetzes, ausdrücklich als subsidiär
bezeichnete Regel aufstellt, ist nicht anzunehmen, dass durch Art. 2 BG
betr. die zivilr. Verh. der in Art. 49 Abs. 2 ZEG zum Ausdruck gekommene
Grundsatz der Verpflichtung des Scheidungsrichters zur gleichzeitigen
Regelung der Kinderzuteilungsfrage habe ausser Kraft gesetzt werden
wollen. Dazu kommt, dass Art. 49 Abs. 2 ZEG, insoweit er sich auf die im
Ausland domizilierten Schweizer bezieht, durch Art. 2 des Bundesgesetzes
von 1891 überhaupt nicht ausser Kraft gesetzt werden konnte, weil ja diese
letztere Gesetzesbestimmung nur für die in der Schweiz domizilierten
Schweizer, sowie, gemäss Art. 82, für die in der Schweiz domizilierten
Ausläuder, also keinesfalls für die im Ausland domizilierten Schweizer
gilt. Besitzt aber, wie sich hieraus ergibt, hinsichtlich der im Ausland
domizilierten Schweizer, sofern die Scheidungsklage gemäss Art. 43 Abs. 2
ZEG in der Schweiz erhoben wird, der schweizerische Richter die Kompetenz
zur gleichzeitigen Regelung der Kinderzuteilungsfrage, so ist nicht
einzusehen, warum umgekehrt hinsichtlich der in der Schweiz domizilierten
Ausländer, sofern die Scheidungsklage gemäss Art. 5 Ziff. 1 der Haager
Übereinkunft im Ausland angebracht wird, nicht auch dem ausländischen
Scheidungsrichter die entsprechende Kompetenz zugestanden werden sollte.

War nach dem Gesagten der deutsche Richter, als er gemäss Art. 5 der
Haager Konvention die Scheidung zwischen den Ehegatten Fallert aussprach,
auch zur gleichzeitigen Regelung des Verhältnisses der geschiedenen
Ehegatten zu den Kindern zuständig, so muss folgerichtig die Kompetenz der
deutschen Gerichte zur Regelung dieser Nebenfolge der Scheidung auch dann
anerkannt werden, wenn, wie hier, nicht der Scheidungsrichter selber,
sondern (gemäss Art.1635 f. des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches)
das sog. Vormundschaftsgericht über die Kinderzuteilung erkannt hat;
denn es ist eine rein interne Frage der deutschen Gerichtsderfassung,
ob hiefür ratione materiae eine andere Behörde als der Scheidungsrichter
zuständig sei, und ob infolgedessen über die Kinderzuteilungsfrage sofort
im Anschluss an das Scheidungss urteil, oder aber erst auf eine besondere
Rechtsvorkehr der Parteien

498 A. Staaisrechthche Entscheidungen. Il. Abschnitt. Bundesgesetze.

hin, oder endlich zwar von Amtes wegen, jedoch erst nach Ablauf

einer bestimmten Frist (vergl. § 630 der deutschen SVO) ein-

Entscheid zu ergehen habe. Alsdann aber erscheint die im vorliegenden
Falle vom Heidelberger Vormundschaftsgericht getroffene Verfügung in der
Tat als von einem kompetenten Richter erlasseii,l1ind es qualifiziert
sich somit die dieser Verfügung in der Schweiz gewährte Vollstrecknng
jedenfalls nicht als eine Verletzung des Art. 2 BG betr. die zivilr. Verh-

7. Des weitern kann nusn aber auch nicht gesagt werden,

dass die mehrerwähnte Verfügung des Heidelberger Vormundk

schaftsgerichts auf der Anwendung eines unrichtigen materiellen Rechts
beruhe. Freilich untersteht nach Art. 9 in Verbindung mit Art. 32 des
Bundesgesetzes von 1891 bei Ausländern, die in der Schweiz domiziliert
sind, das Eltern und Kindesrecht, wozu an sich auch die Regelung
des Verhältnisses der ges chiedenen Eltern zn ihren Kindern gehört,
grundsätzlich der schweizerischen Gesetzgebung Allein bei dem bereits
hervorgehobenen, engen Zusammenhang der Kinderzuteilung mit dein
Scheidungsdispositivrals solch-ent, zumal hinsichtlich des Einflusses
der Berschuldensfrage die Ja meist sowohl bei der Scheidung als auch
bei der Kinder-, znteiliing eine wesentliche Rolle spielt, wird von
demjenigen Richter, der die Scheidung ausspricht, nicht zu erwarten
sein, dass er die Kinderzuteilungsfrage nach einer andern Gesetzgebung
beurteile, als die Scheidungsfrage selber. Nun versteht es sich aber
gewiss von selbst, dass der Richter des Heimatstaates, sofern er es ist
der die Scheidungsklage zu beurteilen hat, hinsichtlich der Frageob die
Ehe zu scheiden sei, stets sein eigenes Recht anivendet und auch nur
dieses anzuwenden verpflichtet ist Gerade hierin liegt Ja die praktisch
wichtigste und keineswegs etwa bloss zufällige Wirkung der in Art. 5
Biff. 1 der Haager Scheidungskonvention enthaltenen Anerkennung der
Gerichtsbarkeit des Heimatstaates, rind. nur hieraus erklärt es sich
anderseits, dass diese Konvention in ihren Artikeln 1 4 (wie übrigens
meist auch die Doktrin des internationalen Privatrechts) sich mit
der Frage des aiiwendbaren Rechts bloss für den Fall einer in einein
andern als dem Heimatstaat erhobenen Scheidungsklage befasst. Wendet
aber demnach der Richter des Heimatstaates, sofern die Klage bei ihm
angebracht wurde, auf die Scheidungsfrage selber stets sein eigenes
Recht.... Zivilrechtl. Verhältnisse der Niedergelasseneu und Aufeuthaiier
N° 79. 409

an, und ist ein anderes Verhalten auch gar nicht von ihm zn erwarten,
so kann ihm a fortiori nicht zugemutet werden, hinsichtlich der
Kinderzuteilung, die sich als eine blosse Nebenfolge der Scheidung
darstellt, das Recht eines andern Staates anzuwenden. Speziell für den
deutschen Richter wäre dies übrigens umso weniger tunlich, als nach § 1635
Bürgerl. GB bereits dein Scheidungsdispositiv als solchem von Gesetzes
wegen bestimmte Wirkungen in Bezug auf die Kinderzuteilung zukommen,
und dem Gericht (uämlich dem Vormschaftsgericht), sofern nicht
besondere Gründe zu einer vom Gesetze abweichenden Anordnung vorhanden
sind (vergl. § 1635), bloss die Regelung des persönlichen Verkehrs im
Sinne des § 1636 obliegt.

Dazu kommt als ferneres Argument zu Gunsten der Anwendung des Heimatrechts
die Erwägung, dass im unigekehrten Falle; b. h. wenn es sich um Schweizer
handelt, die im Ausland donnziliert sind, aber gestützt auf Art. 43
Abs. 1 ZEG in der Schweiz geschieden werden, der schioeizerische Richter
die Nebenfolgen der Scheidung gemäss Art. 49 Abs. 1 uach der Gesetzgebung
des-s jenigen Kantons, dessen Gerichtsbarkeit der Ehemann unterworfen ist
zu regeln hat. Welches nun auch dieser Kanton sein mag, so folgt daraus
doch jedenfalls soviel, dass in diesem Fall, nach der dein Art. 49 ZEG zu
Grunde liegenden Auffassung, die Kinderznieilungsfrage vom schweizerischen
Recht, also nicht von der Gesetzgebung des auswärtigen Doniizilstaates
beherrscht wirb. Tatsächlich pflegt denn auch (vergl. z. B. Urteil des
Bundesgerichts vom 11. Juli 1906 i. S. Siegfried gegen Siegfried *)
in solchen Fällen ohne weiteres das schweizerische Recht angewendet zu
werden. Alsdann aber ist wiederum, gleich wie schon bei der Kompetenzfrage
(vergl. Erw. 6 hievor), nicht einzusehen, warum

ss die entsprechende Lösung nicht auch hinsichtlich der in der Schweiz

domizilierten Ansländer zulässig sein sollte, sofern die Scheidung
(gemäss Art. ò Ziff. 1 der Haager Übereinkunft) iin Ausland erfolgt-

Jm übrigen stehen der Anwendung des Heimatrechts auf die Frage der
Kinderziiteilung im Falle der Scheidung einer Ehe durch die Gerichte
des Heiinatstaates gewiss umso weniger Bedenken

* Nicht publiziert.410 A. Staatsreehtlichc
Entscheidungen. 11. Abschnitt. Bundesgesetze.

entgegen, als der dadurch begangene Einbruch in das
Territoriali-_tätsprinzip im Vergleich zu demjenigen, der in solchen
Fällen durch die Scheidung selber bewirkt wird, ganz uuwesentlich ist;
denn, während es sich bei der Scheidung selber mitunter um Fragen handelt,
zu denen die verschiedenen Staaten diametral entgegengesetzte Standpunkte
einnehmen, erfolgt die Kinderznteilung in allen zivilisierten Ländern
im Grossen und Ganzen nach den gleichen Gesichtspunkten, nämlich unter
Berücksichtigung des Verschuldens der Ehegatten, einerseits, und des
Interesses der Kinder, anderseits.

8. Da nach den vorstehenden Ausführungen die Verfügung des Heidelberger
Vormundschaftsgerichts vom 29. April 1909weder von einem inkompetenteu
Richter erlassen worden ist, noch auf der Anwendung eines unrichligen
materiellen Rechtes beruht, kann in der Gewährung des Erequatur für
diese Verfügung eine Verletzung des BG betr. die zivilr. Verh. nicht
erblickt werden. Es konkurrierten-im vorliegenden Falle sowohl die
deutsche und die schweizerische Gerichtsbarkeit, als auch das deutsche
und das schweizerische materielle Recht, und es konnte daher wenn auch
freilich eine bezügliche Verpflichtung der schweizerischen Behörden wohl
nicht bestand (da Art. 7 der Haager Scheiduugskonveuiion sich nur auf das
Scheidungsdispositiv selber bezieht) ein auf der Anwendung des deutschen
Rechts beruhender Entscheid der in Betracht kommenden deutschen Behörde
in der Schweiz ebensogut vollstreckbar erklärt werden, wie ein Urteil,
das vom schweizerischen Richter nach schweizerischem Recht gefällt
worden wäre.

9. Für die Zulässigkeit der Vollstreckung der vom Heidelberger
Vormundschaftsgericht getroffenen Anordnung hinsichtlich des
persönlichen Verkehrs der Rekursbeklagten mit ihren Kindern spricht
endlich auch der Umstand, dass der Rekurrent die Verfügung des genannten
Gerichts insofern anerkennt, als durch diese Verfügung der Anspruch der
Rekursbeklagten auf eine von der Regelung des § 1635 abweichende Lösung
der Kinderzuteilungsfrage abgewiesen wurde. Der Rekurrent ist denn auch
nicht in der Lage, für den gegenwärtigen Besitzesstand, gegen dessen
partielle Abänderung er Einsprache erhebt, irgend einen andern Rechtstitel
anzurufen, als eben jene Verfügung des Heidelberger Vormundschaftsgerichts
in Verbindung mit § 1635 des deutschenIII. Zivilrecht]. Verhältnisse
der Niedergelassenen und Aufenthalter. N° 79. 41

Bürgerlichen Gesetzbuches; denn nach schweizerischem, speziell beruischem
Recht ist nicht etwa schon mit dem Scheidungsdispositiv als solchem
die Kinderzuteilungsfrage zu Gunsten des an derScheidung unschuldigen
Teils entschieden, sondern es bedarf noch eines, auf diese spezielle
Frage bezüglichen, besondern Dispositivs. Indem der Rekurrent für sich
das Recht in Anspruch nimmt, die Kinder unter seiner Obhut zu behalten,
macht er sich also sowohk das deutsche Recht, als auch die Verfügung der
deutschen Behörde, zu nutzen. Alsdann aber ist es nicht angängig, dass er
die Anwendbarkeit desselben deutschen Rechts und die Kompetenz derselben
deutschen Behörde bestreite, sobald es sich um das der Gegenpartei nach
der deutschen Gesetzgebung zuftehende Recht des persöulichen Verkehrs-
handelt. Es widerspricht dem, auch für derartige Verhältnisse massgebenden
Grundsatze von Treu und Glauben im Rechtsverkehr, wenn der Rekurrent,
wie er es hier tut, einerseits die Geltung des deutschen Rechts und die
Kompetenz der deutschen Behörde insoweit anerkennt, als ihm daraus ein
Vorteil erwächst, anderseits aber die Vollstreckbarkeit der auf dem
deutschen Gesetz beruhenden Verfügung der deutschen Behörde insoweit
bestreitet, als darin auch der Rekursbeklagten ein Recht zuerkanut wurde.

10. Da nach dem Gesagten der vorliegende Rekurs sowohl deshalb abzuweisen
ist, weil die im augefochtenen Entscheide des bernischen Regierungsrates
vollftreckbar erklärte Verfügung der deutschen Behörde keine Verletzung
des Bundesgesetzes betreffend die zivilrechtlichen Verhältnisse enthält,
als auch deshalb, weil der Rekurreut diese Verfügung insoweit anerkennt,
als sie zu feinen Gunsten lautet, so braucht die weitere Frage, ob der
Rekurrent schon im Verfahren vor dem Heidelberger Vormundschaftsgericht
die örtliche Kompetenz dieser Behörde und die Anwendbarkeit des deutschen
Rechts anerkannt habe und in rechtsverbindlicher Weise anerkennen konnte,
nicht erörtert zu werden.

Demnach hat das Bundesgericht erkannt : Der Rekurs wird abgewiesen
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 37 I 400
Datum : 11. Oktober 1911
Publiziert : 31. Dezember 1911
Quelle : Bundesgericht
Status : 37 I 400
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : 400 A. Siaaisrechtliche Entscheidungen. II. Abschnitt. Bundesgesetze. III. Zivilrechtliche


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