A. STAATSREGHTLIGHE ENTSCHEIDUNGEN ARRÈTS DE DROIT PUBLIC

WErster Abschnitt. Première section. Bundesverfassung. Constitution
fédérale. I. Doppelbesteuerung'. Double imposition.

73. get-teil vom 19. Hatt 1911 in Sachen Hamburg-Dmerika-xtinie, gt.-g.,
gegen Juzem.

Zulässigkeit der Besteuerung eines einheitlichen interkantonaien
Gewerbebetriebs auch seitens eines Kantons, auf dessen Gebiet nachweisbar
mehr ausgegeben als eingenommen wird, 2. B. weil sich daselbst lediglich
ein zu Rehlamezwechen bestimmtes Bureau (1efindet. Das Verhältnis der
in den verschiedenen Kantonen wirksamen Produktionfahtoren, als Handhabe
zur Berechnung der in diesen Kantonen steuerpflichtigen Einhommensquoten.

A. Die Rekurrentin ist pro 1910 von der Staatssteuerkommission des
Gericht-streier Luzern für ihr luzerner Bureau zur Entrichtung der
Einkommensteuer ab 15,000 Fr. Erwerb pflichtig erklärt worden, während
sie sich selber auf den Standpunkt gestellt hatte, sie könne im Kanton
Luzern überhaupt nicht zur Einkommens-steuer herangezogen werden. Ein von
ihr gegen dies Verfügung der Steuerkommission ergriffener Rekurs ist am
25. Februar 1911 vom Regierungsrat des Kantons Luzern abgewiesen worden.

AS 371 1911 24

356 A. Staatsrechtliehe Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

B. Gegen den Entscheid des Regierungsrates hat die Hamburg-Amerika-Linie
rechtzeitig und formrichtig den staatsrechtlichen Rekurs an das
Bundesgericht ergriffen, mit der Behauptung, es liege Willkür und
interkantonale Doppelbesteuerung vor, und mit dem Antrag auf Aufhebung
des regierungsrätlichen Entscheides.

C. Der Regierungsrat des Kantons Luzern und die Staatssteuerkommission
des Gerichtskreises Luzern haben Abweisung des Rekurses beantragt.

D. Über die Natur und die Bedeutung dessluzerner Bureaus der Rekurrentin
geben die nachfolgenden Erwägungen Aufschluss ;, desgleichen über die
Ausführungen der Parteien, soweit sie erheblich sind.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. (Ausführung, dass keine Willkür vorliege.)

2. Aber vauch eine interkantonale Doppelbesteuerung, bezw. ein
Eingriff in die Steuerhoheit anderer Kantone, liegt, soviel aus den
Akten ersichtlich ist, hier nicht vor. Die Rekurrentin geht von einer
vollkommen unrichtigen Auffassung aus, wenn sie glaubt, im Kanton Luzern
deshalb nicht steuerpflichtig zu sein, weil sie daselbst mehr Ausgaben
habe, als EinnahmenNach der neuern Praxis des Bundesgerichts (vergl. BGE
36 I S. 16 und 24, sowie namentlich die Urteile vom 12. Oktober 1910
i. S. Petroleumhandelsgesellschaft gegen Waadt, Erw. 3 a. (EUR*, vom
12. April 1911 i. S. Motor gegen Zürich, Erw. 3**, und vom 21. Juni
1911 i. S. Speisewagengesellschaft gegen Solothurn, Erw. 3***) ist
bei einem Geschäftsbetrieb, der sich als einheitlicher Organismus auf
das Gebiet mehrerer Kantone erstreckt und in jedem dieser Kantone
ständige, körperliche Anlagen oder Einrichtungen besitzt, mittels
deren sich daselbst ein qualitativ und quantitativ wesentlicher Teil
seines technischen oder kommerziellen Betriebes vollzieht, weder der
Steuerpflichtige, noch der Fiskus eines einzelnen Kantons berechtigt,
ein Spezialeinkommen aus den in diesem Kanton befindlichen Einrichtungen
oder Anlagen zu konstruieren, sondern Gegenstand der Steuerhoheit eines
jeden Kantons ist grundsätzlich nur, aber auch stets, eine Quote

* AS 361 S. 582 f. ** 37 I S. 259 t'. *** 37 I S. 270
f'.I. Doppelhesteuerung. N° 73. 357

des Geisamteinkommens Jst an diesem Grundsatz sogar dann festzuhalten,
weint der Geschäftsbetrieb an den verschiedenen in Betracht kommenden
Orten ein gleichartiger ist, sodass wirklich bei jeder einzelnen
Filiale von einem besondern Geschäftsergebnis gesprochen werden
könnte (vergl. das bereits zitierte Urteil vom 12. Oktober 1910
i. S. Petroleumhandelsgesellschaft gegen Waadt, Erw. 3 a. (EUR*), so
muss er a fortiori auch dann gelten, wenn es sich um verschiedenartige
Geschäftszweige handelt, die sich gegenseitig in der Weise ergänzen,
dass erst aus ihrem Zusammenwirken ein Geschäftsgewinn resultiert. Von
diesem Gesichtspunkte aus können daher auch Einrichtungen oder
Anlagen, die lediglich zu Reklamezwecken bestimmt sind, und also
direkt gar nichts abwerfen, in gleicher Weise besteuert werden, wie
z. B. umgekehrt ein Bureau, dessen einzige Tätigkeit in dem Einzug der
Fakturen besteht. Gerade wie nun ein derartiges Jnkassobureau -trotzdem
es rein rechnerisch allein Einnahmen aufweist, während an allen andern
Orten nur Ausgaben gebucht werden nicht für das Gesamteinkommen des
Unternehmens besteuert werden darf, weil ja der Einzug der Fakturen nur
einen einzelnen Zweig der Geschäftstätigkeit darstellt, so kann umgekehrt
bei einem lediglich oder hauptsächlich zu Reklamezwecken bestimmten Bureau
der Geschäftsinhaber sich nicht darauf berufen, dass dieses Bureau nur
Betriebsausgaben und keine Betriebseinnahmen, oder doch mehr Ausgaben
als Einnahmen und daher keinen Reingewinn aufweist.

Ein solcher Fall liegt hier vor. Wie die Parteien übereinstimmend
annehmen, erzielt die Rekurrentin, in ihrer Eigenschaft als internationale
Schiffahrtsgesellschaft, in Luzern und überhaupt in der Schweiz nur
wenig direkten Gewinn, da in der Schweiz, als einem Binnenland, und
speziell in Luzern, nur selten Überfahrtskarten zum Verkauf kommen und
selstverständlich noch weniger Frachten bezahlt werden. Die Rekurrentin
ist jedoch gerade in ihrer Eigenschaft als grosse internationale
Transportanstalt, wie sie selber ausführt, genötigt, in allen Ländern
Europas zum Zwecke der Auskunfterteilung an das Publikum

sogenannte Filialen zu unterhalten, d. h. sie findet bei dieser Jn-

* AS 3618. 582 f.

358 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. l. Abschnitt. Bundesverfassung.

stitution ihr Interesse. Alsdann aber muss gesagt werden, dass alle
diese Filialen, wenn auch zum Teil nur indirekt, zur Erzielung
des Geschäftsgewinns beitragen und daher im Sinne der neuern
bundesgerichtlichen Doppelbesteuerungspraxis jede ein besonderes
Steuerdomizil begründen.

Jst es nun auch nicht Sache des Bundesgerichts, in derartigen Fällen,
wenn es sich um einen internationalen Geschäftsbetrieb handelt, eine
Abgrenzung zwischen der Steuerhoheit der betreffenden Schweizerkantone
und dem Ausland vorzunehmen, so ist doch auch in diesen Fällen, sofern
ein Steuerkonflikt zwischen den

einzelnen in Betracht kommenden Kantonen vorliegt, bezw. wenn

der Steuerpflichtige sich über interkantonale Doppelbesteuerung beschwert,
davon auszugehen, dass ein bestimmter Teil des in den verschiedenen
Ländern erzielten Gesamtreingewinns in der Schweiz zu versteuern ist,
und dass zu dessen Besteuerung alle diejenigen Kantone berechtigt sind,
in denen das betreffende Geschäft ständige, körperliche Einrichtungen
oder Anlagen besitzt, mittels deren sich daselbst ein qualitativ uud
quanitativ wesentlicher Teil seines technischen oder kommerziellen
Betriebes vollzieht.

3. Was das Verhältnis betrifft, in welchem die verschiedenen Kantone
steuerberechtigt sind, so ist in der Regel (vergl. BGE 361 S. 16
f. Erw. 3 und 24 ff. Erw. 2 f., sowie die bereits zitterten Urteile
vom 12. April 1911 i. S. Motor gegen Zürich und vom 21. Juni 1911
i. S. Speisewagengesellschaft gegen Solothurn) von dem Verhältnis der
in den einzelnen Kantonen wirksamen Produktionsfaktoren auszugehen Dieses

letztere Verhältnis wird nun seinerseits in den meisten Fällen am·

besten in dem Verhältnis der Betriebsausgaben (inkl. Verzinsung der
eigenen und fremden Kapitalien) zum Ausdruck kommen; denn im Zweifel
muss angenommen werden, dass die verschiedenen Produktionssaktoren
wenn denn der Steuerpflichtige selbst ihre Verwendung für nötig oder
vorteilhaft befunden hat im Verhältnis der auf sie gemachten Aufwendungen
zum Gesamtresultat des Geschäftsjahres beigetragen haben.

4. Nun hat im vorliegenden Falle die Rekurrentin selber mehrfach
betont, dass von ihren sämtlichen schweizerischen Filialen
gerade diejenige in Luzern die höchsten Betriebskosten aufweise
nämlich:I. Doppelbesteuerung. N° 73. 859

Mietzins . si . . . . . Fr. 13,800

Druck der Schiffsnachrichten . 4,500

Salarien zirka . . . . . . . . . 10,000 Beleuchtung, Verzinsung der
Einrichtungskosten,

Telegramme, Porti ze. . . 5,000

zusammen Fr. 30,000 bis 35,000

Schon aus diesen Zahlen ergibt sich, dass die luzerner Filiale der
Rekurrentin in deren Geschäftsbetrieb eine nicht unbedeutende Rolle
spielen muss, da nicht einzusehen ist, wieso die Rekurrentin sonst dazu
käme, für diese Filiale derartige Aufwendungen zu machen. Die Rekurrentin
hat dies denn auch insofern zugegeben, als sie in ihrer Beschwerde an
den Regierungsrat ausführte, der Zweck des luzerner But-eaus sei ein
dreifacher: es habe den in Luzern anwesenden Fremden Über die von der
Gesellschaft gebotenen Fahrgelegenheiten Auskunft zu erteilen; es habe
die übrigen Bureaus in der Schweiz zu inspizieren und zu kontrollieren;
namentlich aber sei es dazu bestimmt, in Luzern, als einem der ersten
Fremdenplätze Europas, für die Hamburg-Amerika-Linie Reklame zu machen;
dieser letztere Zweck erfordere ein geräumiges und schönes Lokal, ein
elegant ausgestattetes Lesezimmer u. s. w.

Stellt darnach die luzerner Filiale der Rekurrentin, obwohl sie
direkt vielleicht nicht viel einträgt, dennoch einen wesentlichen und
verhältnismässig wichtigen Betriebsfaktor des von der Rekurrentin in
allen Ländern der Welt ausgeübten Transportgeschäftes dar, so ergibt
sich daraus, nach den oben entwickelten Grundsätzen, ohne weiteres
für den Kanton Luzern das Recht zur Besteuerung eines Teils des von
der Rekurrentin erzielten Gesamteinkommens, und zwar eines zu den
Vetriebsausgaben der luzerner Filiale in einem angemessenen Verhältnis
stehenden Teils.

5. Zur Berechnung des Betrages, für welchen die Rekurrentin im Kanton
Luzern einkommensteuerpflichtig ist, bieten die Akten keine genügenden
Anhaltspunkte Einerseits nämlich fehlen alle und jede Angaben über
die Höhe des von der Rekurrentin erzielten Gesamteinkommens oder auch
nur über den vermutlich auf die Schweiz entfallenden Teil desselben;
anderseits aber ist auch über das Verhältnis der Produktionsfaktoren,
die in Luzern, in den andern Kantonen der Schweiz und im Ausland

360 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

wirksam sind, bezw. Über das Verhältnis der Betriebsausgaben, den Akten
nichts genaues zu entnehmen. Da es nun aber Sache der Rekurrentin gewesen
wäre, dem Bundesgericht das nötige Material vorzulegen, aus dem sich eine
allsällige Doppelbesteuerung ergeben würde, so muss auch sie die Folgen
dieser Unterlassung tragen, und es ist daher der vorliegende Rekurs
abzuweisen, weil weder aus den von der Rekurrentin produzierten Akten,
noch aus den von ihr gemachten Angaben ersichtlich ist, dass der Kanton
Luzern einen zu grossen Teil ihres Einkommens zur Steuer heranziehe.

6. Bei dieser Sachlage braucht hier auch zu der Frage nicht Stellung
genommen zu werden, nach welchen Grundsätzen die Höhe des von der
Rekurrentin in der ganzen Schweiz erzielten Einkommens zu bestimmen wäre,
und ob das Bundesgericht gegebenen Falls kompetent wäre, anlässlich eines
interkantonalen Steuerkonfliktes auch diese Frage des internationalen
Steuerrechts wenigstens als Präjudizialfrage zu entscheiden, um überhaupt
die nötige Grundlage zur Lösung des interkantonfalen Konfliktes zu
erhalten.

Demnach hat das Bundesgericht erkannt: Der Rekurs wird im Sinne der
Motive abgewiesen.

74. Zitteil vom 11. Oktober 1911 in Sachen Ed. Dühliu & gie. gegen
3312111.

Voraussetzungen einer Teilung der Steuerhoheit bei interkantonalen
Gewerbebetrieben : auch noch der neuern Praxis des Bundesgerichts ist
ein Steuerdomizil nur in denjenigen Kantonen anzunehmen, in denen das
betrefiende Geschäft ständige körperliche Anlagen oder Einrichtungen
besitzt mittelst deren sich daselbst ein qualitativ und quantitativ
wesentlicher Teil seines technischen oder kommerziellen Betriebs
vollzieht. Daher begründet der Umstand, dass ein Baugeschdft ausserhalb
des Kantons, in welchem es seinen Sitz hat, einen einzelnen Bau ausführt,
der in wenigen Monaten vollendet werden kann und zu dessen Ausführung
es bloss einer Baubaraclce bedarf, kein besonderes Steuerdomizil.

[. Doppelbesteuerung N° 74. 361

A. Die Rekurrentin betreibt das Baugewerbe, speziell den Betonbau. Sie
hat ihren Hauptsitz in Strassburg und eine Filiale in Basel. Im März
1911 hat sie in Biel für die dortige Firma Robert Güdel die Ausführung
eines Baues übernommen, und im Juni hat sie diese Arbeit beendigt.

Mit Zuschrift der städtischen Finanzdirektion von Biel d. d. 29. April
1911 wurde die Rekurrentin pro 1911 zur Bezahlung der Einkommensteuer
von einem Betrage von 4000 Fr aufgefordert Als sie hiegegen sowohl wegen
Doppelbesteuerung als auch wegen zu hoher Einschätzung protestierte,
wurde die Taration am 13 Juni von der Bezirkssteuerkommission auf 2500
Fr herabgesetzt Auf eine nochmalige Einsprache erhielt die Rekurrentin
am 29 Juni von der Amtsschaffnerei Biel den Bescheid, es stehe ihr der
Weg der Beschwerde an den Regierungsstatthalter offen Die Rekurrentin
betrat jedoch dies sen Weg nicht, sondern wandte sich am 31. Juli 1911
direkt an das Bundesgericht mit dem Antrag:

Es sei die Steuerverfiigung wegen Verletzung der Bundes-

v,erfassung Art 46 bezw wegen Doppelbesteuerung aufzuheben-

B. In seiner Vernehmlassung ans den Rekurs hat der Regierungsrat des
Kantons Bern zunächst die Frage aufgeworfen, Ob die Rekurrentin nicht
verpflichtet gewesen wäre, vor der. Erzgreifung des staatsrechtlichen
Rekurses den kantonalen Instanzenzug zu erschöpfen. In materieller
Beziehung nimmt der Regierungsrat den aus den nachfolgenden Erwägungen
ersichtlichen Standpunkt ein

C. Der Regierungsrat des Kantons BaselStadt hat Gutheissuug des Rekurses
beantragt

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. (Legitimation der Rekurrentin zur Beschwerde Zulässigkeit des Rekurses
trotz Nichterschöpsung des kantonalen InstanzenFuss )

2 In materieller Hinsicht ist vor allem gegenüber einer Bemerkung in der
Vernehmlassung des Regierungsrates von Bern festzustellen, dass nach der
neuern Praxis des Bundesgerichts für die Annahme eines Steuerdomizils
keineswegs die Tatsache der konkreten Erwerbstätigkeit genugt. Auch nach
dieser neuern Praxis
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Dokument : 37 I 355
Datum : 19. Januar 1911
Publiziert : 31. Dezember 1911
Quelle : Bundesgericht
Status : 37 I 355
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : A. STAATSREGHTLIGHE ENTSCHEIDUNGEN ARRÈTS DE DROIT PUBLIC WErster Abschnitt. Première


Stichwortregister
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