796 B. Strafrechtspflege.

eidgenössischer Rsechtsvorschristen, speziell der Art. 2 sund 3 des
Patenttaxengesetzes.

2. Die Sache sei zu neuer Entscheidung an die kantvnale Gerichtsstelle
zurückzuweisen in der Meinung, dass dieselbe die der Kassation zu Grunde
liegende rechtliche Beurteilung auch ihrer Entscheidung zu Grunde zu legen
und bei Schuldigerblärung des Niklaus Göckel denselben zu angemessener
Busse und Nachzahlung der umgangenen Tare zu verurteilen habe (Art.168
und 172 LG)-

C. Weder die Staatsanwaltschaft des Kantons Baselsiadt, noch der
Kassationsbeklagte Göckelhaben eine Vernehmlassung eingereicht.

Der Kassationshof zieht in Erwägung:

1. Der Kasiationsbeklagte betreibt in Brombach, Grossherzogtum Baden,
das Schuhmachergewerbe und bedient auch in Basel Kunden mit nach Mass
gefertigten Schuhen. Er wurde verzeigt, weil er keine Tarkarte gemäss
Bundesgesetz über die Patenttaer der Handelsreifenden besitze. Er
bestritt, dazu verpflichtet zu sein, da er nicht Handlungsreisender sei,
sondern nur auf ausdrückliche Bestellung nach Basel fomme. Er bezieht
das Material zur Anfertigung der verfertigten Schuhe in Basel.

2. Das angefochtene Urteil stellt tatsächlich fest, dass der Verzeigte
von Konsumenten in Basel aufgefordert wird, zu ihnen zu kommen zum
Zwecke der Bestellung von Schuhen und um sich gleichzeitig die Masse
nehmen zu lassen. Nicht festgestellt ist, dass der Kassationsbeklagte
unaufgefordert bei Privaten vorspricht.

3. Im Fall Gerber vom 9. Juni 1908 (oben Nr. 58 S.374 ff.) hat das
Bundesgericht ausgeführt, dass Unter dem Aufsuchen von Bestellungen nicht
verstanden werden könne der Fall, wenn ein Kaufmann auf vorhergegangene
Einladung für einen Auswärtswohnenden Offer-tm macht und diese dann
am Wohnorte des Bestellers mündlich erläutert. Der vorliegende Fall
ist ähnlich. Der Kassationsbeklagte, Schuhmacher Göckel in Brombach,
ist auf briefliche Einladung verschiedener Kunden nach Basel gereist,
hat dort seinen Kunden, d. h. denen, die ihn eingeladen haben, Mass
genommen und hat daraus die so bestellten Schuhe geliefert. Der Antrieb
zur Ausführung der Warenlieferung ist also nicht vom Kassationsbeklagten,
sondern von seinen Kunden ausgegangen Er hat die Kunden nicht bereift,
sondern sie habenIll Organisation der Bundesrechtspflege. N° 121. 79?

ihn aufgesordert, zu ihnen zu kommen. Dass bei der besondern Art
des Schuhmachergewerbes ein Massnehmen vorherging, was eine Reise des
Kassationsbekkagten nach Basel notwendig machte, ist für den Standpunkt
des Gesetzes unerheblich. Es liegt also nicht die Konkurrenz des auswärts
wohnenden Reisenden am Platze selbst oer, die dadurch erfolgt, dass
er am Platze ohne vorhergegangene Aufforderung seine Waren ausbietet.
Demnach hat der Kassatioinshos erkannt: Die Kassationsbeschwerde wird
abgewiesen.

III. Organisation der Bundesrechtspfleg-e. Organisation judiciaire
fédérale.

5121. guten des Dtassattenghofeg vom 15. Dezember 1908 in Sachen &owal'd,
Kass.-Kl., gegen Hinatsnuwnltlthnsi Yom, Kass.-Bekl.

Unwldssigkeit der Kassationsàesch-werde gegen ein bernischss
Kontumazurteil. Arl. 162 OG; AM. 494 Abs. 2 bern.S£ 2'V.

A. Durch Urteil vom 2. Mai 1908 hat die Kriminalkammer des Kantons
Bern, als Assisengerichtshof des 1.Geschworenenbezirkes, folgendes
Urteil gefällt:

Ernst Howold wird in contumaciam verurteilt:

1. zu 18 Monaten Zuchthaus; .

2. zur Einstellung im Aktivbürgerrecht auf die Dauer von 15 Jahren;

3. zu den auf 513 Fr. 85 Ets. bestimmten Kosten des Staates-.

Das Urteil ist auf die art 1.92 UM und Ziffer 1, letztes Al. sibern. Ster
61, 53 litt. f., 33, 3 Al. 2 und &, 7 BStrR; 156 OG und 368 Al. 1
bem. StrV gestützt; es ist dem Verurteilten gemäss Art.280 hern.StrV
zur Kenntnis gebracht worden.

B. Gegen dieses Urteil hat der Verteidiger des Verurteilten sowohl
ein Kassationsbegehren nach Art.483 beru.StrV an den Appellationsund
Kassationshof des Kantons Bern, als auch

798 B. Strafrechtspflege.

eine Kassaiionsbeschwerde nach Art.160 ff . OG an den Kassationshof des
Bundesgerichts eingereicht.

C. Der Appellationsund Kassationshof des Kantons Bern ist durch Entscheid
vom 27. Mai 1908 auf das bei ihm eingereichte Kassationsbegehren nicht
eingetreten, wegen mangelnder Legitimation des Anwaltes zu dieser
Prozesshandlung.

D. Der Kassationsantrag in der Kassationsbeschwerde an das Bundesgericht
geht dahin:

Es sei das gegen Ernst Howald am 2. Mai 1908 von dem Assisengericht des
I, Geschworenenbezirks des Kantons Bern (Oberland) gefällte Urteil und
das vorausgegangene Hauptverfahren zu kassieren und die Sache zu neuer
Beurteilung zurückzuweisen.

Der Kassationshof zieht in Erwägung:

1. Der Kafsationskläger ist in Anwendung eines eidgenössischen
Strafgesetze-Z verurteilt worden; insofern ist die Kompetenz
desKassationshofes und die Zulässigkeit der Kassationsbeschwerde gegeben.

2. Eine andere Frage i die, ob das angefochtene Urteil alsein mit der
Kassationsbeschwerde anfechtbares Urteil, d. h. als ein Endurteil
gemäss Art.160 oder als ein Urteil in Bezug auf welches nach der
kantonalen Gesetzgebung das Rechtsmittel derBerufung (Appellation) nicht
stattfindet, wie Art.162 OG sichansdrückt, anzusehen sei. Nun stellt sich
das angefochtene Urteil dar als ein Kontumazurteil, und zwar war die
Kontumaz deshalb vorhanden, weil der Verurteilte flüchtig war. Gemäss
ANAS/L Abs.2 bern. StrB kann ein abwesender flüchtiger Vernrteilter
jederzeit die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verlangen,
wenn er sich nach dem Urteil freiwillig stellt oder ergriffen wird;
dieWiedereinsetzung bedarf alsdann keiner besondern Rechtfertigung,
b. h. das ursprüngliche Urteil wird gemäss Art. 499 aufgehoben undes
findet eine neue Verhandlung statt. Aus dieser, dem französischen
C. instr.crim., Art.465 ff., speziell Art.476, nachgebildeten Bestimmung
folgt, dass ein derartiges verurteilendes Konntmazurteil nicht definitiv
ist, sondern einen Schwebeznstand lässt, der jederzeit durch die eigene
Handlung des Verurteilten oder durch Handlungen staatlicher Organe
unterbrochen werden kann. Ein solches Kontumazurteil kann daher nicht
als Endurteil angesehen

lll. Organisation der Bundesrechtspflege. N° 19.1. 799

werden. In der französischen Doktrin und Praxis, die hier aus dem
erwähnten Grunde für die Auslegung des bernischen Strafverfahrens
angeführt werden darf, ist denn auch nicht streitig, dass dem
verurteilten Kontumazierten die Kassationsbeschwerde nicht offen
steht (vergl. Komm. RlVlÈBE HÉLIE-PONT, Anm. zu Art. 473; GABBAUT,
Précis. de droit crim. S. 777 Art. 611 i.f.). Anderseits ist freilich
eine Berufung (Appellation, appel, reeours en réforme) gegen dasselbe
nicht zulässig; allein die Bestimmung des Art.162 QG ist nicht
wörtlich, sondern in dem weitern Sinne, der ihr ihrem Zwecke gemäss
zu Grunde liegt, auszulegen, dass nämlich das ordentliche Verfahren
vor dem kantonalen Richter abgeschlossen sein muss, bevor der Weg der
Kassation an das Bundesgericht eröffnet ist. In diesem Zusammenhang darf
auch auf Art.170 OG hingewiesen werden, wonach, wenn ein kantonales
Kassationsoder Revisionsbegehren eingereicht ist, der Entscheid des
Kafsationshofes über das ebenfalls eingelegte Kassationsbegehren nach
Art.160 ff. auszusetzen ist; auch diese Bestimmung will vermeiden, dass
ein Urteil, das nach der kantonalen Gesetzgebung möglicherweise keinen
Bestand hat, der Beurteilung des Kassationshofes soll unter-breitet werden
können. Von diesem Gesichtspunkte aus muss aber auch ein Kontumazurteil,
gegen das jederzeit Wiedereinsetzung verlangt werden kann, als mit
der eidgenössischen Kasfationsbeschwerde nicht anfechtbar bezeichnet
werden; die praktische Konsequenz der Zulassung könnte sein, dass das
Bundesgericht unter Umständen über ein nur noch formell bestehendes
Urteil zu entscheiden hatte. Aus allen diesen Gesichtspunkten ist die
Kassationsbeschwerde als unstatthaft zu erklären.

Demnach hat der Kassationshof erkannt :

Auf die Kassationsbeschwerde wird nicht eingetreten.
Information de décision   •   DEFRITEN
Document : 34 I 797
Date : 09 juin 1908
Publié : 31 décembre 1908
Source : Tribunal fédéral
Statut : 34 I 797
Domaine : ATF- Droit constitutionnel
Objet : 796 B. Strafrechtspflege. eidgenössischer Rsechtsvorschristen, speziell der Art.


Répertoire des lois
LJAr: 168  172
OJ: 160  162  170
Répertoire de mots-clés
Trié par fréquence ou alphabet
condamné • cour de cassation pénale • tribunal fédéral • chaussure • maître • mesure • invitation • hameau • condamnation • moyen de droit cantonal • loi fédérale d'organisation judiciaire • décision • procédure pénale • besoin • rétablissement de l'état antérieur • restitution du délai • mois • connaissance • amende • commerçant
... Les montrer tous