A. STAATSREGHTLIGHE ENTSGHEIDUNGEN ARRÉTS DE DROIT PUBLICErster
Abschnitt. Première section.
Bundesversassung. Constitution fédérale.I. Rechtsverweigerung und
Gleichheit vor dem Gesetze.
Déni de justice et ég'alité devant la loi.
74. Zittteik vom 1. Juli 1908 in Sachen zehn-M Granitwetke gt.-@. gegen
Hammer Edbetgeticht gm).
Voraussetzungen des staatsrecktlicizen Beknrses wegen Bechésverweige-Tung
: Erschöpfung des lnstanzenzuges. Formello Rechtsverweigerung, liegend
in der Nic/ztanhundnahme einer Klage, mit der eine persönliche Fonda-ang
gegen den Beklagten an dessen natürlichen Gerichtsstand geltencè gemacht
wird, wegen Bestehens einer Prorogaiionsabrede, obsch-on das praragierte
Gericht seinerseits (befngterweise) die Behandlung der Sache abs/elefanti
hatte.
Das Bundesgericht hat da sich ergibt:
A. Mit Vertrag vom 29. Februar 1905 verkaufte der Rekursbeklagte
der Rekurrentin mehrere von ihm bisher auf Urnergebiet betriebene
Granitsteinbrüche, indem er sich verpflichtete, der Rekurrentin, solange
sie existiert, in der Schweiz keine Konkurrenz
A5 34 1 1908 29
482 A, Staatsrechiliche Entscheidungen. [. Abschnitt. Bundesverfassung.
zu machen. Der Vertrag bestimmt, dass Differenzen,die daraus entstehen
könnten, durch das zürcherische Handelsgericht zu entscheiden find. Jm
Januar 1907 belangte die Returrenttn den Rekursbeklagten vor dem
Handelsgericht des Kantons Zurich aus Zahlung einer Entschädigung von
15,000 Fr. wegen Verletzung der Konkurrenzklausel des Vertrags. Das
Handelsgericht beschlog am 11. Januar 1907: Auf die Behandlung des
vorliegenden Prozesses wird nicht eingetreten." Die Begründung lautet:
in Erwägung, 1. dass es sich um einen vereinbarten Gerichts-stand im
Sinne von § 220 RPflG handelt, nach welcher Gesetzesbestimmung es dein
angerufenen Gerichte freisteht, dte Sache anzunehinen oder sie abzulehnen,
2. dass die ausserordentlich grosse Geschäftslast zur Zeit die Behandlung
von Geschaitenspdie an sich nicht in die Kompetenz des Gerichts fallen,
nicht gestattet. Hieran belaugte die Rekurrentin den Rekursbeklagtenhmit
demselben Anspruch vor dem Kreisgericht nn, als dein Richterseines
Wohnortes Der Rekursbeklagte bestritt die Zuständigkeit des Gerichts
gestützt auf die Prorogationsklausel des Vertrags Das Kreisgericht
erklärte sich durch Endbeiurteil vom OszNoveniber 1907 unzuständig,
weil der Rekursbeklagte berechtigt sei, zu verlangen, dass er, solange
eine andere Vereinbarung unter den Vertragsparteieii nicht stattgefunden
hat, vor dem vereinbarten zürcherischen Handelsgericht betangt und von
demselben die zwischen den Parteien obwaltcnde Differenz entschieden
merde, und zwar umso mehr, als eine Ablehnung des erwahnten Gerichts nicht
vorliegt, indem dasselbe durch seine Pchlugnahtne vom 11. Januar 1907
nur erklärt, infolge ausserordentlich grosser .Geschäftslaft zur Zeit auf
die Behandlung des vorliegenden Prozesses nicht eintreten zu Îònnen. Auf
Appellation der Rekurrentin bestätigte das Obergericht un am 11. Dezember
1907 das kreisgerichtliche Urteil unter Aufnahme seiner Erwagungen.
· _ _ B. Gegen das obergerichtliche Urteil hat die Rekurrentin die·
staatsrechtliche Beschwerde ans Bundesgericht mit dem Antrag auf Aufhebung
ergriffen. Es wird ausgeführt: Nachdem das Handelsgericht Zürich als
prorogierter Gerichts-stand die Behandlung des Prozesses abgelehnt habe,
bleibe der Rekurrentin nichts anderes!. Bechtsverweigerung und Gleichheit
vor dem Gesetze. N° M. 433
übrig, als den Rekursbeklagtens vor seinem ordentlichen Richter inUri zu
belangen. Durch die Weigerung der Urner Gerichte, die Klage anzunehmen,
werde die Rekurrentin gerader rechtlos, weshalb der angefochtene Entscheid
eine Rechtsverweigerung bedeute.
C. Das Obergericht Uri hat beantragt, es sei aus den Rekurs nicht
einzutreten, weil der Rekurrentin dem angefochtenen Urteil gegenüber
noch der Nekurs an den Landrat offen gestanden hätte [Art. 59 litt. n
KV, §§ 67 und 68 ZPO), eventuell es sei dieBeschwerde als unbegründet
abzuweisen. In letzterer Beziehung wird n. a. folgender Standpunkt
eingenommen: Die Rekurrentin habe in ihrer Replik vor erster Instanz
verlangt, dass die Prorogationsklausel wegen der Stellungnahme des
Zürcher Handelsgerichts ungültig erklärt werde; aus dieses Begehren
habe das Gericht aus dem formellen Grunde nicht eintreten können, weil
es nicht durch Zitation ans Recht gesetzt worden sei; deshalb habe die
Prorogationsklaiisel, weil in prozessual unrichtiger Weise bestritten,
als zu Recht bestehend angesehen werden müssen.
Der Rekursbeklagte hat keine Vernehmlassung eingereicht. Es scheint aber,
dass die Antwort des Obergerichts vom Vertreter des Rekursbeklagten
verfasst ist; --
in Erwägung:
1. Auf Beschwerden wegen Rechtsverweigerung ist nach der Praxis allerdings
nicht einzutreten, wenn nicht zuvor der kanninale Justanzenzug durchlaufen
ist. Doch muss, damit eine Beschwerde aus diesem Grunde von der Hand
gewiesen werden kann, feststehen, dass auf kantonaleni Boden noch ein
Rechtsmittel offen war. Dies steht im vorliegenden Falle nicht nur
nicht fest, sondern es ist im Gegenteil zum mindesten sehr zweifelhaft,
ob die Rekurrentin gegen das Urteil des Obergerichts, wie in der Antwort
behauptet ist, den Rekurs an den Landrat hätte ergreifen können. Art. 59
litt n KV zählt unter den Befugnissen des Landrates auf: Die Beurteilung
der gesetzlich zulässigen Rekurse und Kassationsbegehreii gegen Entscheide
der ihm unmittelbar untergeordneten . . . richterlichen Behörden, stellt
also für die Voraussetzungen eines Rekurses aus das Gesetz ab. Von
gesetzlichen Bestimmungen könnten hier allein in Betracht kommen die §§
6? lite. b und c und 68 der ZPQ Nach § 67 litt. b ist
4534 À. Staatsrechtliche Entscheidungen. i. Abschnitt. Bandes-verfassung-
die Beschwerde (gegen obergerichtliche Urteile an den Landrat)
zulässig: wenn die eine oder andere Partei zur Führung des vorwaltenden
Rechtshandels nicht befugt oder dazu Berechtigte ausgeschlossen
waren". Mit dieser etwas dunkeln Formulierung scheint der Fall gemeint
zu sein, wo ein nicht Handlungsfähigek einen Prozess führt oder
ein Handlungsfähiger wegen angeblich mangelnder Handlungsfähigkeit
zur Prozessführung nicht zugelassen wird, welcher Tatbestand mit dem
vorliegenden nichts zu tun hat. Art. 67 litt. {: (wenn die Behörde nicht
zuständig . . . war") trifft hier ebenfalls nicht zu, weil das Obergericht
sich ja gerade als unzuftändig erklärt hat. § 68 endlich gibt das Be-,
schwerderecht bei Weigerung oder Verzögerung der Rechtspflege-c Ob nach
ständiger Praxis des Landrates ein die Kompetenz _ zumal wegen einer
Prorogationsabrede ablehnender Entscheid als Weigerung der Rechtspflege
durch Beschwerde angefochten werden kann, steht dahin. Ohne weiteres
kann es nicht angenommen werden; vielmehr spricht der Wortlaut des §
68 eher gegen eine solche Annahme, sodass also auch die Statthaftigkeit
einer Beschwerde der Rekurrentin an den Landrat aus der letztgenannten
Bestimmung keineswegs ausser Zweifel ist Auf den Rekurs ist daher
materiell einzutreten.
2. Der Reknrsbeklagte hat seinen ordentlichen, natürlichen Gerichtsstand
in ua, wo er wohnt. Er muss daher für persönliche
Ansprachen und um eine solche handelt es sich hier auch 4
in Uri belangt werden können. Diese Regel erleidet allerdings eine
Ausnahme, wenn für die betreffende Streitigkeit ein anderer Gerichts-stand
vereinbart ist Das war hier der Fall, da der Vertrag der Rekurrentin
mit dem Rekursbeklagten, aus dem der Klageanspruch erhoben wird, eine
Prorogationsabrede auf das Handelsgericht in Zürich enthielt. Nachdem aber
das Handelsgericht Zürich sich geweigert hat, die Klage der Rekurrentin
anzunehmen (wozn es nach zürcherischem Prozessrecht befugt war), ist die
Prorogationsabrede als wirkungslos dahingefallen. Damit musste beim Mangel
einer andern neuen Prorogationsvereinbarung der Parteien jene allgemeine
Regel wieder in Kraft treten und die Rekurrentin, wenn anders sie in
Bezug auf ihren Anspruch nicht rechtlos werden sollte, ohne weiteres die
Befugnis(. Rechtsverweigerung und Gleichheit vor dem Gesetze. N° 34. 435
erhalten, den Rekursbeklagten vor seinem Wohnsitzrichter zu belangen.
Darin, dass die Urner Gerichte diesen absolut klaren Sachverhalt verkannt
und gestützt auf die dahingefallene Prorogationsabrede der Parteien
der Rekurrentiu das einzige ihr offen stehende Forum verschlossen
haben, liegt eine Rechtsverweigerung Die von den Urner Gerichten
für ihr Vorgehen angeführten Grunde sind denn auch augenscheinlich
unzutrefsend Und geradezu willknrlich Es ist aktenwidrig, dass das
Ziircher Handelsgericht sich vnur zurzeit geweigert habe, die Klage der
Rekurrentin zu beurtellen. Das Dispositiv lautet auf Nichteintreten
ohne zeitliche Beschränkung Lediglich in der Begründung wird aus
die zurzeit ausserordentliche Geschäftslast des Handelsgerichts
verwiesen. Nach dem Beschluss kann kein Zweifel sein, dass auf
absehbare Zeit das Handelsgericht sich als prorogierter Gerichts-stand
mit keiner Streitigkeit der Parteien befassen wird. Und was das erst
in der Vernehmlassnng des Obergerichts angeführte Motiv anbetrifft,
dass die Nekurrentin keinen prozessualisch verbindlichen Antrag auf
Ungültigerklärung der Prorogationsklaufel ans Recht gestellt habe, weshalb
die letztere als zu Recht bestehend habe betrachtet werden müssen, so ist
es kaum ernst gemeint, sondern wohl nachtraglich vorgeschoben, um den
haltlosen Entscheid zu decken. Die dahingesallene Prorogationsklausel,
die ganz unabhängig vom Willen der Partei schlechterdings wirkungslos ist,
brauchte doch nicht durch Richterspruch noch aufgehoben zu werden. Auch
ist schon in der Klageerhebung enthalten, dass das Gericht sich kompetent
erklären soll, und es kann der Klagepartei nicht zugemutet
werden, in dieser Hinsicht noch einen besondern formellen Antrag
zu stellen. Umso weniger kann sie vernünftigerweise verhalten
werden, ein blosses Motiv für die Zuständigkeit des Gerichts, wie
es der Wegfall der Prorogationsklausel ist, in die Form eines eigentlichen
Antrages zu kleiden; erkannt:
Der Rekurs wird gutgeheissen und das Erkenntnis des Ober-
gerichts des Kantons Uri vom 11. Dezember 1907 aufgehoben.