III. Glaubensund Gewissensfreiheit. Liberté de conscience et de croyanca

t4. Zweit vom 25. Juni 1908 in Sachen gw und Genossen gegen
Heeisgericyksausschutz Mut-.

Legitimation Same slaaisrechtlichen Rekurs wegen Verletzamg der
Glaubensuna! Gewissensfa'eiheiî. Grenzen der Zuiässigkeit der Propaganda
der Mormonen und der strafrechtlichen Verfolgung dieser Propaganda.

Das Bundesgericht hat auf Grund folgender Aktenlage:

A. Anfangs Dezember 1907 brachte der Kleine Rat des Kanwn? Grauben
in Erfahrung, dass in (Shut und Umgebung Mormoneumissionäre in der
Weise tätig seien, dass sie Versammlungen, angeblich zur Predigt des
Evangeliuiiis, abhielten, an denen hauptsächlich Frauen und erwachsene
Mädchen teitnähmen, und auch vielfach weibliche Personen namentlich in
Abwesenheit der Männer besuchten und sich dabei sehr zudringlich erwiesen.
Jnsbesondere führte ein Privatmann von (Chur beim kantonalen

III. Glaubensund Gewissenssreiheit. N° 4-4. 255

Polizeidepartement Beschwerde darüber, dass seine Frau von den
Mormonenmissionären in ihre Versammlungen gezogen und trotz seinem Verbot
in der Familienwohnung besucht worden sei, bis sie schliesslich ihn und
die Kinder heimlich verlassen bade, um sich zu Mormonen nach Teusen und
St. Gallen zu begeben. Hierauf zog der Kleine Rat durch Beschluss vom
6. Dezember 1907 in Betracht: Es sei allerdings nicht dargetan, dass die
fraglichen Mormonenmissionäre hier die Vieliveiberei gepredigt hätten;
dagegen sei notorisch, dass die Mormonen die Vielweiberei lehrten und
womöglich auch praktizierteu, so dag, wenn sie dieselbe im einzelnen
Falle nicht erwähnten, darin bloss eine Täuschung ihrer Zuhörer liege (zu
vgl. Salis, Bundesrecht (2. Aufl.) 3 S. 5 ff.). Die Lehre der Vielweiberei
aber gefährde zweifellos die Sittlichkeit und die öffentliche Ordnung. Die
Sekte der Mormonen falle daher unter das Verbot des § 16 des kantonalen
Polizeigesetzes {nem 26. Juli 1873) lautend: Mitglieder und Gründer
von solchen Sekten, welche die Sittlichkeit und die öffentliche Ruhe
gefährden, sowie diejenigen, welche für solche Seit-en Anhänger werben,
werden mit Gefängnis bis zu i Monat "beftraft. Dieser Erwägung gemäss
lud der Kleine Rat das Kreisamt Chur ein, in Sachen aus Grund von §
17 Polizeigesetz schleunigst einzuschreiten-A In der Folge leitete
das Kreisamt gegen die heutigen Rekurrenten eine Untersuchung ein und
stellte dabei fest, dass die vier Rekurrenten als Missionäre der Kirche
der Heiligen der letzten Tages-, bekannter unter dem Namen Mortnonen,
in Chur und Umgebung im Sinne der Verbreitung ihres Glaubens gewirkt
hätten durch Veranstaltung von öffentlichen Versammlungen, an denen
sie den vor allem daran teilnehmenden Frauen, erwachsenen Mädchen und
Kindern religiöse Reden gehalten hätten, ferner durch eifriges Aufsuchen
der Bewohner von Chur. in ihren Behausungen, und zwar in gewiss sehr
auffälliger Weise jeweilen zu Zeiten, da die Männer an der Arbeit und
nicht zu Hause gewesen seien, sowie endlich durch Verteilung verschiedener
Traktate und Schriften in notorisch zudringlicher Weise. Gestützt auf
diese Feststellungen erkannte der Kreisgerichtsausschuss Chur durch
Urteil vom 26. Februar 1908:

1. Theodor Josef Bär, Friedrich Barfuss, CS,. S. Vaterlaus

256 ,. Staatsrechuiche Entscheidungen. l. Abschnitt. Bundesverfassung.

und (S;. J. Kirkam haben sich des Vergebens gegen die öffentliebe Ordnung
und Sittlichkeit schuldig gemacht.

2. Dieselben werden hiefür gemäss Pol.-Ges. § 16 mit je drei Tagen
Gefängnis bestraft.

8. Auch haben sie je 10 Fr. Gerichts-kosten zu tragen.

Diesem Urteil liegen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Es ist notorisch, dass die Anhänger des Mormonismus bisher immer
die Vielweiberei gelehrt und dieselbe womöglich auch praktiziert
haben. Nun kann mit Bezug auf die heutigen Angeklagten allerdings nicht
mit Bestimmtheit behauptet werden, dass auch sie mit ihren Predigten die
Vielweiberei lehren. Sie bestreiten dies vielmehr und weisen darauf hin,
dass ihr Heimatstaat Utah durch eine Konvention mit den Vereinigten
Staaten von Amerika sich zur Abschaffuug der Polhgamie verpflichtet
babe und dass der Präsident ihrer Kirche durch eine am 6. Oktober
1900 erlassene Kundgebung, alle Mormonen aufgefordert babe, sich den
diesbezüglichen Gesetzen der Vereinigten Staaten zu unterwerfen

2. Durch ein gesetzliches Verbot der Vielweiberei ist aber der Glaube
der Mormonen kein anderer geworben. Ihre Lehren sind (wie sich aus ihren
slteligionsbüchern ergibt) nach wie vor die gleichen geblieben. Daher muss
auch angenommen werben, dass die Verbreiter des Mormonismus ihre Lehren
in anderen Ländern ,-,verbreiten,. ohne Rücksicht auf die Gesetzgebung
der Vereinigten Staaten von Amerika.

_3. Bis zum Beweise des Gegenteils muss daher nach wie vor angenommen
werden, dass mit der Lehre des Mormonismus zugleich auch die von
diesem Glauben gepriesene Vielweiberei direkt oder indirekt gepredigt
wird. Eine solche Lehre gefährdet nun zweifellos die Sittlichkeit und
die öffentliche Ordnung und es sîellt sich daher die Tätigkeit der
Angeklagten als ein Vergehen

gegen bie öffentliche Ordnung und Sittlichkeit dar.

' B. Gegen das vorstehende Strafurteil haben die vier Ver-Urteilten,
von denen alle Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika, die drei
ersiaufgesührten überdies durch Abstammung auch noch Schweizerbürger
sind, innert gesetzlicher Frist den staatsrechtlichen Rekurs an das
Bundesgericht ergriffen Und Aufhebung

, fWW.-·-MJ

îlI. Glaubensund Gewissensfreiheit. N° 44. 257

des Urteils wegen Rechtsverweigernng und Verletzung der verfassungsmässig
garantierten Glaubensfreiheit beantragt. Sie bemerken zunächst, sie
hätten allerdings notgedrungen damit sie ihre in Chur deponierten
Ausiveisschriften zu anderweitiger Verlegung ihres Wohnsitzes hätten
erheben können die ihnen auferlegte Freiheitsstrafe bereits abgesessen,
allein damit sei ihr rechtliches Interesse an der Ungültigerklärung ihrer
Bestrafung nicht dahingefallen, auch sei das Kostendispositiv des Urteils
noch nicht vollzogen. Sodann führen sie wesentlich aus: Eine Willkür
liege schon in der Feststellung des angefochtenen Urteils, dass sie in
Chur durch Predigten gewirkt halten, insofern, als Kirkam der deutschen
Sprache gar nicht und Bär ihr nur in ganz ungenügender Weise mächtig fei,
wie dem Gerichtsausschuss aus dem Verhör der beiden ohne weiteres habe
klar werden müssen. Willkiirlich aber sei insbesondere die Argumentation,
es sei his zum Beweise des Gegenteils anzunehmen, dass die Lehre der
Vielweiberei von ihnen direkt oder indirekt gepredigt worden sei. Eine
derartige Präsumtion der Schuld eines seine Unschuld beteuerndeu Angess
schuldigten widerspreche jeder geordneten Rechtssprechung Überdies habe
das Gericht den angebotenen Unschuldsbeweis gar nicht abgenommen, sondern
sei einfach darüber hiinveggeschritten. Tatsächlich enthielten die von
ihnen verteilte-n Schriften in keiner Beziehung Lehren, die als geeignet
angesehen werden könnten, die öffentliche Ordnung und Sittlichkeit zu
gefährden, insbesondere werde darin nicht der Vielweiberei das Wort
geredet, sondern gegenteils ausdrücklich die Anerkennung der staatlichen
Regierungen und der Staatsgesetze gepredigt (zu vgl. Abschnitt 134 der
Lehre und Blindnisse, und namentlich Nr. 12 der Glaubensartikel). Auch
seien sie, die Rekurrenten, nicht etwa darauf ausgegangen, die
Answanderung aus der Schweiz zu befürroortenz sie hätten vielmehr-,
der gegenwärtigen Tendenz ihrer Religionsgemeinschaft und erhaltener
Weisung gemäss, den sich ihnen anzuschliessen Geneigten geraten, in
ihrem Vaterlande zu bleiben und hier zu helfen, die als gut befundene
Lehre aufzuhalten und zu verbreitenZuzugeben sei ohne weiteres, dass
die Lehre der Vielweiberei die öffentliche Ordnung und Sittlichkeit
gefährden würde, bestritten werde jedoch, dass eine solche Lehre-,
wenigstens heute noch, von

258 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

den Angehörigen der Kirche Jesn Christi der Heiligen der letzten

Tage irgendwie gepredigt oder auch nur geduldet werde. Die-

Feststellungen des bundesrätlichen Rekursentscheides in Sachen Loosli vom
7. Oktober 1887 seien durch die seitherigen Ereignisse überholt worden;
verwiesen werde auf den die Polygamie endgültig verbietenden Akt des
Kongresses der Vereinigten Staaten Nordamerikas vom ils. Juli 1894 über
die Aufnahme des Volkes von Utah als Staat der Nordamerikanischen Union,
auf eine Amnestie-Proklamation des Präsidenten der Vereinigten Staaten vom
25. September 1894, mit der Feststellung, dass nachgewiesenermassen das
Verbot der Polvgainie von den Mormonen nun nicht mehr übertreten merde,
sowie endlich auf den Inhalt des deutschen Organs der Mormonenkirche Der
Stern", speziell auf die in Nr. 7 seines Jahrgangs 1908 veröffentlichten
Ansichten von hervorragenden Personen über die Mormouen. Danach aber
seien fie, die Rekurrenten, tatsächlich nicht deswegen bestraft worden,
weil sie wirklich die öffentliche Ordnung und Sittlichkeit verletzt
hätten, sondern einzig und allein, weil sie sich zur Glaubensans sicht
der Morinonen bekennten, und es involviere das angefochtene Urteil somit
auch die verfassungswidrige Bestrafung eines Glanbensbekenntnisses.

C. Der Kreisgerichtsansschuss Chur hat Abweisung des Rekurses beantragt
Er betont zunächst, dass die Rekurrenten die ihnen auferlegte Strafe
freiwillig, ohne hier durch Zuriickbehaltungxihrer Ausweisschriften
gezwungen worden zu fein, abgesessen und damit das Strafurteil in bester
Form anerkannt und auf das Recht des staatsrechtlicer Reknrses hiegegen
wirksam verzichtet hätten. Im weitern bemerkt er, dass die Rekurrenten
für die Vielehe Propaganda gemacht hätten, gehe klar und unwiderleglich
aus den von ihnen verteilten Büchern und Schriften hervor; so enthalte
eine derselben, betitelt Biblische Hinweisungen, einen ganzen Abschnitt
über die Vielehe, worin diese als eine von Gott gestatte-te und sogar
gebotene Institution gepriesen werde (S. 117 ff.). Und was den Einwand
betreffe, einzelne der Rekurrenten hätten in Chur gar nicht religiöse
Predigten halten können, möge allerdings richtig fein, dass Kirkam, und
in ganz vermindertem Masse auch Bär, ihre Lehren in deutscher Sprache
nicht ganz fliessend hätten

lll. Glaubensund Gewissensfreiheit. N° M. 259

vortragen können, allein diese beiden hätten doch als Handlanger ihrer
der deutschen Sprache vollständig mächtigen Kollegen durch Verteilen und
Verbreiten ihrer Bibeln, Schriften und Traktate eingestandenermassen
reichlich Propaganda gemacht. Schliesslich hätten die Rekurrenten
vor dem Kreisgerichtsausschusz selbst zugegeben, dass gegenwärtig
im Territorium Utah noch viele Vielehen beständen. Wenn nun auch die
Gesetzgebung der Vereinigten Staaten, welche jetzt auch für Utah gelte,
die Vielehe beschränkende oder verbietende Bestimmungen enthalten möge,
so hätten diese weltlichen Gesetzesbesiimmungen doch keinen Einfluss auf
die religiösen Ansichten der Mormonen ausgeübt: diese predigten, wie die
angezogene von 1901 datierte Schrift beweise, nach wie vor die Vielehe;
in Erwä g u ng:

i. Da der vorliegende Retan die angebliche Verletzung nicht speziell
staatsbürgerlicher, sondern allgemeiner verfassungsmässiger
Jndividualrechte zum Gegenstande hat, sind die Rekiirrenten,
feststehender Praxis gem'dsz, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörig-
keit, also mit Entschluss auch des Nicht-Schweizerbürgers Kirkani, zur
Beschwerdeführung legitimiert Und ihr Rekursrecht ist trotz der bereits
erfolgten Verbiisznng der ihnen auferlegten Freiheitssirafen nicht als
ver-wirkt zu erachten. Denn in ihrem Strafantritt kann eine Anerkennung
der Strafe nicht erblickt werden, da ihre Angabe, dass sie hiezu gezwungen
gewesen seien, um die Herausgabe ihrer zum Zwecke der Wohnsitzverlegung
benötigten Ausweisschriften zu erlangen, angesichts der Zulässigkeit
und notorisch allgemeinen Handhabung der Schriftenzurückhaltung zur
Erzwingung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, trotz der Bestreitung
des Kreisgerichtsausschrisses, als mindestens glaubhaft

erscheint. Dazu ist ihr Interesse an der Aufhebung des Straf-

urteils bei der gegebenen Sachlage offenbar nicht erschöpft, indem ja
die Wirkung des Urteils mit dem Vollng des Strafdispofitivs keineswegs
abgeschlossen ist, sondern abgesehen von dem unbestrittenermassen noch
nicht vollsireckten Kostendisvositiv in der Bedeutung der Bestrafung
für den bürgerlichen Leurnund der Rekurrenten überhaupt, und im Hinblick
auf das Strafaus-

messungsinonient des Rückfalls im besondern, noch fortdauert.

TM A. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

2. Das Prinzip der Unoerletzlichkeit der Glaubensund Gewissensfreiheit
mit seiner Folgerung,dass niemand wegen Glaubensansichten mit Strafen
irgendwelcher Art belegt werden darf (Art. 49 Abs, 1 und Abs. 2 in fine
BB), gewährleistet nach richtiger Auffassung (vgl. L. R. v. Satis, Die
Religionsfreiheit in der Praxis, S. 34; G. Vogt, Gedrucktes Manuskript
der Vorlesung über Religiousfreiheit im Wintersemester 1889j1890, S. 2;
"Ws. Bur(khardt, Komm. z. BB, S. 484) die Straflosigkeit nicht nur
der religiösen Überzeugungen, des Denkens und Fühlens in religiösen
Dingen, sondern, implicite, auch der Äusserung dieser Überzeugungen als
solcher-, d. h. des den Charakter religiöser Glanbensansichten tragenden
Äussernngsinhaltes. Denn der religiöse Glaube als Bestandteil des
menschlichen Jnnenlebens kann der staatlichen Kontrolle und Massregelung
naturgemäss überhaupt nur unterstehen, soweit er geäussert wird. Allein
anderseits ist die Glaubensäusserung in ihrer Erscheinungsform als
menschliche Handlung notwendigerweise an die der Handlungsfreiheit
des Jndividnutns im Staate allgemein gesetzten Schranken gebunden,
da ja die staatliche Garantie der Glaubensfreiheit nicht das einzige,
oberste Staatsprinzip darstellt, sondern lediglich Geltung hat im
Rahmen der gesamten staatlichen Rechtsordnung, neben den ihr rechtlich
koordinierten auderweitigen Grundsätzen Jus-besondere ist danach die
Verkündigung und Verbreitung einer Glaubenslehre zum Zwecke der Werbung
neuer Anhänger die religiöse Propaganda , gleich der unter dein Schutze
der Kultusfreiheit (Art. 50
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 50 - 1 Die Gemeindeautonomie ist nach Massgabe des kantonalen Rechts gewährleistet.
1    Die Gemeindeautonomie ist nach Massgabe des kantonalen Rechts gewährleistet.
2    Der Bund beachtet bei seinem Handeln die möglichen Auswirkungen auf die Gemeinden.
3    Er nimmt dabei Rücksicht auf die besondere Situation der Städte und der Agglomerationen sowie der Berggebiete.
BV) stehenden eigentlichen Glaubensbetätigung
der Ausübnng gottesdienstlicher Handlungen- , allgemein ebenfalls mir
innerhalb der Schranken der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung-If
an welche Art. 50 Abs. 1
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 50 - 1 Die Gemeindeautonomie ist nach Massgabe des kantonalen Rechts gewährleistet.
1    Die Gemeindeautonomie ist nach Massgabe des kantonalen Rechts gewährleistet.
2    Der Bund beachtet bei seinem Handeln die möglichen Auswirkungen auf die Gemeinden.
3    Er nimmt dabei Rücksicht auf die besondere Situation der Städte und der Agglomerationen sowie der Berggebiete.
BV jene eigentliche Ginubensbetätigung bindet,
als zulässig zu erachten, soweit sie nicht ihrer Art nach schon unter
die Beschränkung der Spezialnorm des am. 55 BV über die Freiheit der
Meinungsäusserung durch die Presse fällt. (Vgl. über diesen letzten Punkt
das Urteil des Bundesgerichts vom 3. Juni 1876 in Sachen Stucki,AS 2
Nr. 50 S. 192 ff., und im übrigen zur vorstehenden Verfassungsauslegung
den allerdings abweichend begründeten Entscl)eid des Bundesrates vom
7.0ktober 1887 in Sachen Loosli:

.... Glaubensund Gewissensfreiheil. N° 44. 281

BBl 1887 IV S. 180; Salis, Bundesrecht 3 Nr. 987, sowie Satis,
Religionsfreiheit, S. 13; Burckhardt, a. a. O, S. 484 oben). Die Begriffe
der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung- aber find, wie Burckhardt,
a. a. O. S. 507, zutreffeud betont, bundesrechtlicher Natur und somit von
selbständiger Bedeutung und derogatorischer Kraft gegenüber abweichenden
Normen der kantonalen Rechtsordnungen Der blindes-rechtliche Begriff
der Sittlichkeit speziell nun umfasst nicht das den Sitten oder dem
herrschenden sittlichen Empfinden entsprechende Verhalten schlechthin,
sondern lediglich die als notwendige Grundlage des Staates anerkannte,
d. h. die rechtlich geschätzte sittliche Ordnung. Danach aber erscheint
eine Glaubensiiusserungals gegen die Siti: lichkeit verstossend und
deshalb im Sinne der erörterten Einschränkung der Garantie des Art. 49
Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 49 Vorrang und Einhaltung des Bundesrechts - 1 Bundesrecht geht entgegenstehendem kantonalem Recht vor.
1    Bundesrecht geht entgegenstehendem kantonalem Recht vor.
2    Der Bund wacht über die Einhaltung des Bundesrechts durch die Kantone.
BV strafbar nur, sofern sie, speziell in Gestalt der religiösen
Propaganda, eine Erscheinungsform annimmt, die als solche den allgemein
dein staatlichen Strafschutz unterstellten sittlichen Grundlagen
des Staates zuwiderläuft und in diesem Sinne eine strafbare Handlung
involviert (vgi. Vogt, a. a. O. S. 7 Ziffer 6, ferner David Streiff,
Zürcher Dissertation über die Religionsfreiheit [1895] S. 22/23, mit
der von Burckhardt, a. a. O. S. 507 angebrachten Einschränkung sowie
auch Carl Stooss, in der ZschwStrR 5 [1892] S. 516).

3. In Anwendung der vorstehend entwickelten Rechtsaiiffassung
ist nun zu prüfen, ob die angesochteue, auf § 16 des bündnerischen
Polizeigesetzes vom 26. Juli 1873 gestützte Bestrafung der Rekurrenten
bundesverfassnngsmässig statthaft sei. Dabei ergibt sich ohne weiteres,
dass diese kantonale Strafsatzung vor der Garantie des Art. 49 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 49 Vorrang und Einhaltung des Bundesrechts - 1 Bundesrecht geht entgegenstehendem kantonalem Recht vor.
1    Bundesrecht geht entgegenstehendem kantonalem Recht vor.
2    Der Bund wacht über die Einhaltung des Bundesrechts durch die Kantone.
,
in Verbindung mit Art. 50 Abs. 1
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 50 - 1 Die Gemeindeautonomie ist nach Massgabe des kantonalen Rechts gewährleistet.
1    Die Gemeindeautonomie ist nach Massgabe des kantonalen Rechts gewährleistet.
2    Der Bund beachtet bei seinem Handeln die möglichen Auswirkungen auf die Gemeinden.
3    Er nimmt dabei Rücksicht auf die besondere Situation der Städte und der Agglomerationen sowie der Berggebiete.
, BV nur insoweit zu Recht bestehen farm,
als sie die in allgemein strafrechtlich relevante Erscheinung tretende
Propaganda für Sekten, welche die Sittlichkeit oder die öffentliche
Ordnung gefährden, unter Strafe stellt, nicht aber, soweit sie schon die
Zugehötigkeit zu einer solchen Sekte, bezw. das einfache Bekenntnis der
betreffenden Glaubenslehre, um dieser Lehre an sich willen als strafbar
erklären sollte. Die religiöse Propaganda kann danach, mit an- dern
Worten, der Strafverfolgung nur ausgesetzt sein, soweit darin

262 A. staatsrechtiiehe Entscheidungen. l. Abschnitt. Bundesverfassung.

ein Verhalten liegt, das unter eine der allgemein zum Schutze
derSittlichkeit oder der öffentlichen Ruhe aufgestellten Strafnormen
fällt. Der Bereich des strafbaren Unrechts aber umfasst nach heutiger
Gesetzgebung und Rechtsanschauung ausser dem Tatbestand der strafbaren
Handlungen selbst jedenfalls nur noch die Aufforderung oder Anreizung
zur Begehung solcher Handlungen, also, so weit hier von Belang, eines
der Vergehen gegen die Sittlichkeit oder die öffentliche Ordnung und
Ruhe. In Betracht kommt nun im vorliegenden Falle nach der gegebenen
Aktenlage ausschliesslich das in den schweizerischen Kantonen, wie
in allen, auf der christlichen Weltanschanung begründeten Staaten,
anerkannte Sittlichteitsvergehen der mehrfachen Ehe oder Vielehe (ogs.
Stooss, Grundzüge des schweiz. Strafrechts 2 S. 268 ff.). Die Bestrafung
der Eltekurrenten wäre somit verfassungsmässig berechtigt, sofern die
Rekurrenten, wenn auch nicht der eigenen Begehnng dieses Delikts-,
so doch wenigstens der Aufforderung oder Anreizung Anderer hier
überführt sein sollten (ng. bezüglich der Presssreiheit: AS 2 Nr. 50
Crw. 4 S. 197). Dies ist jedoch nicht der Fall. Das Strafurteil des
Kreisgerichtsausschusses Ehnr gibt, in Übereinstimmung mit dem Beschluss
des bündnerischett Kleinen Rates vom 6 Dezember 1907, ausdrücklich zu,
dass den Rekurrenten das direkte Predigen der Lehre der Vielweiberei nicht
nachgewiesen sei, und gründet ihre Bestrafung, wie namentlich auch aus der
Rekursbeantwortnng. des Kreisgerichtsausschusses hervorgeht, lediglich
auf das Argument, dass jene Lehre in den von ihnen zu Propagandazwecken
verbreiteten Büchern und Schriften enthalten sei. Es fragt sich somit
nur, ob in der Verbreitung dieserj Drucksacheu zufolge ihres Inhaltes
eine strafbare Aufforderung oder Anreizung zum Vergehen der Vielehe
liege. Dies aber kann nach den vorliegenden Akten nicht bejaht werden
Wohl enthalten dies von der deutschen Mission der Kirche Jesn Christi
der Heiligen der letzten Tage" zum Gebrauche der Missionare und solcher,
welche die heiligen Schriften studieren, im Jahre 1901 herausgegebenen
Biblischen Hinweisungen unter dem Abschnitt "Patrica: chalische Ehe
(S. 116 ff.) eine Vereinigung von Stellen des alten Testamentes zur
Substanziierung folgender, dem Abschnitt vorgedruckter Notiz: Die
Überlieferungen und Vorurteile von

m. Glaubensund Gewissensfreiheit. N° 44. 263

Jahrhunderten, die von Menschen gemachten Bekenntnisse des Tages und die
Gesetze aller Nationen, welche sich zum Christentum bekennen, vereinigt,
schärfen die Jdee ein, dass es sündhaft sei für einen Mann, unter
irgend welchen Verhältnissen zu gleicher Zeit mehr als eine lebende und
ungeschiedene Frau zu haben. Eine sorgfältige Durchgehung der heiligen
Schrift wird aber die Tatsache offenbaren, dass die Vielehe, die jetzt
als so abscheulich betrachtet wird, in Übereinstimmung mit dem göttlichen
Gesetz ist welches den alten Jsraeliten gegeben wurde. Dass es mit der
Zustimmung und dem Segen Gottes von vielen der besten und bevorzugtesten
Männer, von welchen die Bibel Erwähnung macht, ausgeübt wurde, und dass
das Prinzip niemals eine göttliche Vernrteilnng erhielt. Ebenso finden
sich auch im Buch der Lehre und Bitnduisse der Mormonenkirche Angaben über
die göttliche Rechtfertigung der Vielehe (S. 473 f.). Daraus geht hervor-,
dass die religiöse Sekte der Mormoneu, ihrem allgemeinen Grundsatze des
unmittelbaren Bibelglaubens

entsprechend, im Sinne des alten Testament-Z speziell auch die

mehrfache Ehe als vor Gott zulässige und ihm unter Umständen sogar
wohlgesällige Institution betrachtet, die denn auch notorischerweise
in dem von der Seite gegründeten Staate Utah vielfach praktisch
verwirklicht wurde. Allein anderseits ist im Anhang zum Bud; der
Lehre und Bündnisse, Abschnitt (134): Über Regierungen und Gesetze
im allgemeinen die staatliche Rechtsordnung ausdrücklich anerkannt,
soweit sie wenigstens nicht die Gewissensfreiheit durch Vor-schreibng
von Kultusbestimmungen beschränke (Ziffer 4) und die Bürger nicht der
freien Ausübung ihres religiösen Glaubens beraube oder sie in ihren
Meinungen beschränke, solange als den Gesetzen des Landes Achtung und
Aufmerksamkeit gezeigt wird und solche religiöse Meinungen Aufmusst
und Einpörung nicht rechtfertigen (Ziffer 7) also unter Vorbehalten,
welche nicht über die in Rede stehenden Garantien des schweizerischen
Verfassungs-rechts hinausgehen. Und wohl im gleichen Sinne enthalten die
in den Bibtischen Hinweisungen- sowohl, als auch in mehreren der in Chur
verteilten Traktate und in der deutschen Halbmonatsschrift der Sekte
(Der Stern), Jahrgang 1908 S. 3 f. abgedruckten Glaubensartitel der Kirche

264 .A. Staatsrechtliche Entscheidungen. 1. Abschnitt. Bundesverfassung.

Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage u. a. das Bekenntnis (Ziffer
U und 12): Wir legen Anspruch auf das Recht, den Allmächtigen Gott
zu verehren nach den Eingebungen nnseres Gewissens, und gestatten
allen Menschen dasselbe Recht, mögen sie verehren wie, wo oder was
sie wollen. Wir glauben daran, Königen, Präsidenten, Herrscher-n und
Magistraten untertiinig zu sein und den Gesetzen zu gehorchen, sie zu
ehren und zu unterstützen Ja der Verbreitung dieser Glaubenslehre in
ihrem ganzen Zusammenhange kann nun aber auch nur eine Anreizung zu der
als rechtswidrig anerkannten Betätigung der Vielehe, also eine direkt
sirafbare Handlung, schlechterdings nicht gefunden werden. Denn die
Mormonen ordnen danach ihre in der Rekursschrift allerdings zu Unrecht
völlig in Abrede gestelltereligiöse Auffassung von der Zulässigkeit
oder sogar Wünschbarkeit mehrfacher Ehe in unzweideutiger Weise dem
ihr entgegenstehenden Staatsgesetze unter. Als zweifelhaft könnte
es höchstens erscheinen, ob die fragliche Lehre nicht anreize zur
Auswanderung nach einem die Vielehe duldenden Staate und damit zur
Untgehnng der sihweizerischen Rechtsordnung, die deren direkter Verletzung
gleichznhalten wäre. Doch bestehen vorliegend auch für diese Befürchtung
keine genügenden Anhaltspunkte Denn die Rekurrenten erklären ausdrücklich,
dass sie, der gegenwärtigen Tendenz ihrer Religionsgemeinschaft und
erhaltener Weisung gemäss, ihren Anhängern zum Verbleiben in der
Heimat rieten. Und diese Behauptung erweist sich als mindestens nicht
unglaubhaft, angesichts des Umstandes, dass in den namentlich von
Mormonen bewohnten und durch Einwanderung bevölkerten einzelnen Staaten
der nordamerikanischen Union, speziell im Staate Utah, gegenwärtig,
insbesondere seit der 1894 erfolgten Aufnahme des Territoriums
Utah ais vollberechtigten Gliedstaates der Union, gegendie früher
wenigstens tatsächiich geduldete Vielweiberei im Sinne der amerikanischen
Gesetzgebung ebenfalls strafrechtlich eingeschritten wird. Unter solchen
Umständen aber kann das Argument der Auswandernngsgefahr, auf welches der
Bundesrat in seinem die Bestrafung der Morinonenpropaganda schützenden
Rekursentscheide in Sachen Loosli vom 7. Oktober 1887 (BVI 1887 IV S.1?5
ff. spez. 181 f.; Salis, Bundesrecht 3 Nr. 991J haupt-

sisi... __.............___.-.,mm. j si

IV. Gerichtsstand des Wohnortes, N° 45. 265

sächlich abgestellt hat, heute nicht mehr entscheidend ins Gewicht fallen-

4. Nach den vorstehenden Erwägungen kann das angefochtene Strafurteil des
Kreisgerichtsausschusses Chur vor der Unwesversassungsmässigen Garantie
der Glaubensfreiheit nicht zu Recht bestehen und ist in diesem Sinne
aufzuheben. Doch mag dabei immerhin ausdrücklich betont sein, dass die
entwickelte Rechtsansfassung der strafrechtlichen Verfolgung retigiöser
Propaganda jenach der Art ihrer Durchführung, so gegebenenfalls
etwa aus dem Gesichtspunkte rechtswidrigen Hausfriedeiisbruchs,
keineswegsentgegensteht; --

erkannt:

Der Rekurs wird gutgeheissen und das Urteil des Kreisgerichts-

ausschusses Chur vom 26. Februar 1908 aufgehoben.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 34 I 254
Date : 25. Juni 1908
Published : 31. Dezember 1908
Source : Bundesgericht
Status : 34 I 254
Subject area : BGE - Verfassungsrecht
Subject : III. Glaubensund Gewissensfreiheit. Liberté de conscience et de croyanca t4. Zweit


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BV: 49  50
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1887/IV/180