98 A. Staatsrechtliche
Entscheidungen. III. Abschnitt. Kantonsverfassungen.

Dritter Abschnitt. Troisième section.

Ka ntonsverfassungen.

Constitutions cantonales.Uebergrifl' in das Gebiet der gesetzgebenden
Gewalt. Empiétement

dans le domaine du pouvoir législabif.

16. Arten vom 25. Januar 1906 in Sachen You gegen grid),
bezw. Eber-gerächt Juzem.

Legitimation zum staatsrechtiz'cîwn Rekeirrse bezw. Zulässigkeit
desselben: Interesse des Reime-ernten an der Aufhebung des
angefochtenen E-ntscheides. Anfechtung der Verordnung des liegen-ZU-
schen Regierungsrates über Motavwagenetc. Verleg-ins vom 21. Marz 1903,
weger Verzeznngs des Vei'fassemgsgî'mzasatzes: nulla poena sine lege. §
5 luzern. StsV. Bedenke-eng jenes Grundsatzes :. er verlangt nur, dass auf
Grund eines gültigen Rechtssatzes, meint emes Gesetzes i. e. S. gem tem
werde. Kompetenz des luz-em. Regeerungsrates ZiemErlass jener few-innan
§§ 63 und 67 Zuzeffl. StsV. 0?ganisationsgesets vom 8. .ärz 1899, §§ 59
Abs. i, 65 Abs. 2. Zaldssigkeit einer Delegation der gesetzgebemlen Gewaèt
an den {Regiemssngsmt. Rechtsverweigerung Siege-nd m der Beemtmcktagu-fig
der Rechte der Verteidigung.

Das Bundesgericht hat,

da sich ergeben: .

A. Durch Urteil vom 28. Juni 1905 erklärte das Obergericht des Kantons
Luzern den 1889 geborenen Rekurrenten Fritz Bou, den Sohn des Anton Von
zum Hötel du Parc m Vitznau -Uebel griff in das Gebiet der gesetzgebenden
Gewalt. N° 16. 99

in Bestätigung des Strafentscheides des Bezirksgerichts Weggis als erster
Instanz schuldig der Übertretung der regierungsrätlichen Verordnung
betreffend den Motorwagenund Fahr-radverkehr, vom 21. März 1903, in
idealer Konkurrenz mit fahrlässiger Körperverletzung im Sinne des § 76
lit. b PolStG und mit fahrlässiger Sachbeschädigung nach § 117 eodem, be:
gaugen unter ausserordentlich mildernden Umständen gemäss § 724D KrimStG,
und verfällte ihn in Anwendung der §§ 9 Abs. Z, 22, 27, 31, 32 Und 34 der
erwähnten Verordnung vom 21. März 1903, der §§ 76 lit. b und 117 PolStG,
der § 30 eodem und § 724D KrimStG und der §§ 240 ff., 262 sf., 204,
309 und 330 SMV in eine Geldbusse von 30 Fr., eventuell entsprechende
Gefängnis-strafe, sowie zum Ersatze des gestifteten, vom Zivilrichter
auszumittelnden Schadens und zur Tragung sämtlicher Kosten. Dieses
Urteil beruht auf folgendem Sachverhalt: Der Rekurrent machte am 15. Juli
1904 auf der Strasse zwischen Weggis und Vitznau Probesahrten mit einem
Motorvelo. Am gleichen Tage benutzten die Rekursbeklagten, Baumeister
Fritz Georg Erich und dessen Ehefrau, aus Leipzig, diese Strasse,
indem sie sich mit einem Einspännerfuhrwerk der Pension Lützelau bei
Weggis, wo sie einen Kurausenthalt machten, nach Vitznau fahren lassen
wollten. Unweit der Lützelau, an einer scharfen Biegung der Strasse-,
kam der Rekurrent hinter ihrem Fuhrwerk nachgefahren. Der Kutscher
Tröndle wich deshalb links-, nach der Landseite der Strasse zu, (uns,
das Pferd aber scheute beim Vorfahren des Motorvelos und brannte, unter
Zerreissung des linken Zügelriemens, durch. Dabei wurde das Fuhrwerk
umgeworfen und beschädigt und die Rekursbeklagten, welche herausstürztem
trugen verschiedene leichtere Verletzungen, sowie zerrissene Kleider
davon. Das Pferd konnte erst in Vitznau angehalten werden. Über diesen
Vorfall rapportierte Landjäger Birrer in Weggis am folgenden Tage dem
Statthalteramt Luzern, und einige Tage später liessen die Rekursbeklagten
bei derselben Behörde gegen den Rekurrenten Strafklage wegen der ihm
später in den erwähnten Urteilen zur Last gelegten Vergehen einleiten. Jm
hierauf durchgeführten Polizeistrafverfahren trug der Vertreter des
Reknrrenten auf Freifprechung seines Klienten an und bestritt dabei,
speziell vor

100 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. ILI. Abschnitt
Kantonsverfassungen.

Obergericht, die Verfassungsmässigkeit der regierungsrätlichen
Motorwagenund Fahrradverordnung. Diesen Einwand weist der
obergerichlliche Strafentscheid mit folgender Begründung zurück:
Es sei allerdings fraglich, ob der Regierungsrat allein schon
gestützt auf die in der angefochteuen Verordnung vorerst angerufenen
Bestimmungen des Organisationsgesetzes (§ 65 Abs. 2) und des Gesetzes
betr. das Strassenwesen (§ 82) zur Aufstellung von Sirafbestimmungen
auf dem blossen Verordnungswege mit einer gesetzlichen Vorschriften
gleichkommenden Wirkung befugt gewesen fei. Dagegen sei dies unzweifelhaft
der Falla gemäss dem weiterhin angerufenen § 127 PolStG, wonach die
Ubertretungen der Bestimmungen zum Schutze der Strassen . . . nach den
hierüber bestehenden besonderen Reglementen und Verordnungen bestraft
werden. Sodann folge die Gesetzmässigkeit einer solchen Straffentenz auch
aus § 36 leg. cit., welcher das Zuwiderhandeln gegen Landesgesetze oder
obrigkeitliche Verordnungen, auf deren Übertretung keine bestimmten
Strafen ausgesetzt seien, unter Strafe stelle. Es sei daher nicht
einzusehen, wieso eine Bestrafung des Rekurrenten wegen Ubertretung der
streitigen Verordnung gegen den von ihm angeführten Verfassungsgrundsatz:
nulla poena sine lege verstossen sollte. Als Moment für die Zubilligung
der mildernden Umstände bei Ausmessung der Strafe erwähnt das Obergericht
ausser der Jugend des Rekurrenten und dessen Ungeübtheit im Fuhren mit
Motorrad auch den beim eingetretenen Unsall mitwirkenden, zufälligen
Umstand des Reissens eines Zügels des durchbrennenden Pferdes.

B. Gegen das Urteil des Obergerichts vom 28. Juni 1905 hat Fritz Von
innert der Frist des Art. 178 Ziff. 3 OG den staatsrechtlichen Rekurs an
das Bundesgericht ergriffen mit dem Antrag, das angefochtene Urteil sei
aufzuheben. In der Rekursschrift wird wesentlich ausgeführt: Die Anwendung
der in der regierungsrätlichen Verordnung betr. den Motorwagenund
Fahrradverkehr vom 21. März 1903 enthaltenen Strafbestimmungen
(Festsetzungen strafbarer Tatbesiände und hierauf bezüglicher
Strasdrohungen) gegenüber dem Rekurrenten bedeute für diesen eine
Verletzung des Grundsatzes: nulle. poena sine lege,Uebergn'fi' in das
Gebiet der gesetzgebenden Gewalt. N° 16. 101

dessen Schutz ihm § 5 luzern StsV durch die Vorschrift gewährleiste,
dass eine gerichtliche Verfolgung nur in den vom Gesetze vorgesehenen
Fällen erfolgen dürfe. Denn die gefetzgebende Gewalt stehe nach §
45 luzern. StsV ausschliesslich dem Grossen Rate zu und könne von ihm
verfassungs-rechtlich auch nicht zur Ausübung an ein anderes staatliches
Organ delegiert werden; folglich habe die streitige, vom Regierungsrate,
welcher laut % 63 StsV bloss mit der Vollziehung der Gesetze ze. und
mit der Staatsverwaltung betraut sei, erlassene Verordnung keine
verfassungsrechtlich gültigen Strafbeftimmungen aufstellen können. Von
den drei Gesetzesstellen, aus denen der Regierungsrat gemäss dem
Jngress der Verordnung seine Kompetenz zu deren Erlass ableite (§
82 des Gesetzes betr. das Strassenwesen vom 1. Juli 1865, § 65 Abs. 2
des Organisationsgesetzes und § 127 PolStG) habe auch das Obergericht
bezüglich der beiden erstgenannten Bestimmungen Bedenken. In der Tat
finde sich in denselben für die vom Regierungsrate beanspruchte Befugnis
nicht der leiseste Anhaltspunkt. Der § 82 des Strassengesetzes übel-trage
ihm die allgemeine Oberaufsicht über das gesamte Strassenwesen, also
lediglich administrative Pflichten, nicht gesetzgeberische Kompetenzen,
insbesondere nicht die Kompetenz zur Aufstellung von Strafnormen, da
das Strassengesetz selbst in seinem V. und VI. Abschnitt eine ganze
Reihe deliktischer Tatbestände aufgestellt und mit Strafe bedroht, der
Gesetzgeber sich somit, in Ermangelung einer abweichenden ausdrücklichen
Bestimmung, implicite als allein kompetent erklärt habe, allfällige
Lücken der einschlägigen Normen, deren Ergänzung die angefochtene
regierungsriitliche Verordnung bezwecke, auszufüllen. Ebenso verleihe
auch der § 65 Abs. 2 des Qrganisationsgesetzes, wonach der Regierungsrat
als oberste Polizeibehörde die zur Handhabung der Rechtssicherheit,
Ruhe und Ordnung erforderlichen Anordnungen ze. zu erlassen habe,
jenem nicht legislatorische Gewalt, sondern gehe davon aus, dass der
Regierungsrat seine Massnahmen innert den Schranken der Verfassung
und der Gesetze zu treffen habe. Allein auch der § 127 PolStG vermöge
-entgegen der Annahme des Obergerichts die in Frage stehenden Straf-
bestimmungen nicht zu sanktionieren; denn abgesehen davon, dass jener
Gesetzes-paragraph in seiner Allgemeinheit mit der Verfas-

102 A. Staatsrechtliche
Entscheidungen. HI. Abschnitt. Kantonsverfassungen.

sung nicht vereinbar sei, weil danach der Verfassungsgrundsatz:
nulla poena sine lege umgangen werden könnte, habe er jedenfalls nur
Bezug auf gültige Verordnungen und Reglementez die Verordnung über den
Motorwagenund Fahrradverkehr aber sei, wie bereits nachgewiesen, als mit
der Verfassung im Widerspruche stehend in jeder Hinsicht ungültig. Noch
weniger zutreffend sei die Berufung des Obergerichts auf § 38 PolStG
Diesem gegenüber gelte schon das zu § 127 ibid. Bemerkte und überdies
beziehe er sich nur auf Landesgesetze und obrigkeitliche Verordnungen,
auf deren Übertretung keine bestimmten Strafen ausgesetzt seien,
während die streitige Verordnung ja in § 34 gerade solche Strafen
festsetze. Übrigens habe das Obergrricht im Dispositiv seines Urteils
auf die §§ 36 und 127 PolStG gar nicht abgestellt und damit durch
konkludente Handlung erklärt, dass es an seine Urteilsbegründung selbst
nicht glaube. Die Verfassungswidrigkeit der in Rede stehenden Bestrafung
des Rekurrenten ergebe sich aber auch noch aus der Erwägung, dass laut §
212 lit. f. des Gesetzes über das Strafrechtsverfahren das Urteil die
Anführung des Gesetzes, auf das die Strafe gestützt werde, zu enthalten
habe, der Verurteilte also berechtigt fei, die Mitteilung dieses Gesetzes
zu verlangen, während dieser Prozessnorm vorliegend bei der lediglich auf
eine Verordnung gestützten Verurteilung des Reknrrenten nicht nachgelebt
und dadurch gegenüber dem Rekurrenten eine Verletzung der Rechtsgleichheit
(Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV und § 4 luzem. StsV), sowie der Vorschrift des § 5 luzern. SBB,
dass die gerichtliche Verfolgung auf die vom Gesetze vorgeschriebene
Weise zu erfolgen habe, begangen worden sei. -Eine weitere Verletzung der
genannten Verfassungsbestimmungen sodann liege in folgendem Umstande:
Ja der vom Statthalteramt Luzern geführten Untersuchung des Falles sei
dem Rekurrenten in einem wichtigen Punkte entgegen den Vorschriften
des Gesetzes über das StRV die Einsichtnahme der Zeugenverhörakten
nicht gewährt worden. Beim Appellationsvorstande vor Obergericht, am
24. Mai 1905, habe nämlich der Vertreter des Rekurrenten das Begehren
um nochmalige Einvernahme des Zeugen Tröndle durch das Statthalteramt
gestellt. Das Gericht habe nun diese Einvernahme nachträglich angeordnet;
es habeUebergrifl' in das Gebiet der gesetzgebenden Gewalt. N° 18. 103

jedoch weder dem Rekurrenten, noch seinem Vertreter hievon Kenntnis
gegeben, sondern ihnen das Resultat des am 5. Juni erfolgten neuen Verhörs
vorenthalten und sofort das vorliegende Endurteil ausgefüllt Es habe also
dem Rekurrenten keine Gelegenheit gegeben, an der neuen Zeugenaussage
Kritik zu üben und eventueli die Beeidigung des Zeugen Vor Obergericht zu
verlangen (EUR 267 StRV). Dies qualifiziere sich als eine Verletzung des
Verteidigungsrechts des Rekurrenten und damit als eine Rechtsverweigerung
ihm gegenüber (zu vergl. AS d. bg. Entsch: ll) Nr. 2 und 15 Nr. 93). Aus
den entwickelten Gründen sei das angefochtene Urteil aufzuheben Es
könne gegen dieses Begehren nicht etwa eingewendet werden dass wenn auch
die Vernrteilung des Rekurrenten wegen der angeblichen Übertretung der
Verordnung über den Motorwagenund Fahrradverkehr aufgehoben werden müsste,
dadurch doch das Resultat der Bestrafung nicht wesentlich verändert würde,
indem doch die Verurteilung wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung
aufrecht bliebe; denn die Strafbarkeit der Handlung des Rekurrenten
gemäss der fraglichen Verordnung bilde die Grundlage der Verurteilnng
wegen der beiden andern Delikte, folglich müsse diese letztere mit dem
Wegfall jener Voraussetzung ebenfalls dahinfallen.

C. Der Anwalt der rekursbeklagten Eheleute Erich hat auf Abweisung
des Rekurfes angetragen. Er macht vorab geltend, dass der Rekurs ohne
praktische Bedeutung sei, weil die Aufhebung der Verurteilung des
Rekurrenten wegen Übertretung der angefochtenen Verordnung, entgegen
der Behauptung des Rekurses, die andern beiden Delikte und damit die
Bestrafung des Reurrenten nicht zu beseitigen vermöchte Sodann bestreitet
er, dass der Regierungsrat auf Grund gesetzlicher Ermächtigung nicht
zum Erlass von Strafbesiimmungen berechtigt sei, und verteidigt die
Kompetenzbegründung bezüglich der streitigen Vorschriften gestützt
auf die im Jngrefse der Verordnung angerufenen Gefetzesstellen und
die Ausführungen des Obergerichts. Endlich wendet er gegenüber der das
Prozessverfahren betreffenden Beschwerde des Rekurrenten ein, dieselbe
sei deswegen völlig unstichhaltig, weil es sich bei dem beanstandeten
Vorgehen des Obergerichts gar nicht um eine Zeugeneinvernahme im Sinne
des Gesetzes gehandelt habe, sondern um eine

104 A. Staatsrechtliche
Entscheidungen. HI. Abschnitt. Kantonsverfassungeu.

Jnsormativeinvernahme, d. h. eine blosse Erkundigung zu Handen des
Gerichts, um dieses in Stand zu setzen, zu entscheiden, ob Veranlassung
vorhanden sei, das erstinstanzliche Urteil zu kassieren und dem Begehren
um Aufnahme weiterer Zeugenverhöre zu entsprechen.

D. Das Obergericht des Kantons Luzern führt in seiner Ver-· nehmlafsung
auf den Rekurs, mit dem Antrage auf Abweisungs desselben, zur Ergänzung
der vorab angerufenen Motive seines Urteils, welche durch die Ausführungen
des Rekurses nicht entkräftet seien, wesentlich noch aus: Auch die
im Urteile geäusserten Zweifel über die Anwendbarkeit der § 82 des
Gesetzes über dasStrassenwesen und § 65 des Organisationsgesetzes
erscheinen bei näherer Prüfung als grundlos. Das dem Regierungsrat
in § 82 des Strassengesetzes zugewiesene Oberaufsichtsrecht begreife
wohl ohne Zweifel auch die Befugnis zum Erlasse von auf die Materie
bezüglichen Verordnungen, Reglementen und Weisungen in sich, wie aus §
65 Abs. 1 des Organisationsgesetzes, sowie auch aus § 67 luzern. StsV sich
ergebe. Die angefochtene Verordnung bernhe somit auch in Hinsicht auf die
genannten beiden Gesetzesvorschriften auf gesetzund verfassungsmässiger
Grundlage; das luzernische Recht kenne überhaupt eine Reihe zum Teil
bloss von Gemeindebehörden erlassener Verordnungen mit Strafbestimmungen,
die deswegen bis jetzt kaum von jemandem im Ernste beanstandet worden
seien. Ubrigens werde von den Rekursbeklagten zutreffends eingewendet,
dass bei Gutheiszung des Rekurses im erörterten Punkte die beiden
andern strafrechtlichen Tatbestande nicht ohneweiteres dahinfallen
würden. Bezüglich dem angefochtenen Akten- vervollständigungsverfahren
endlich sei zu bemerken, dass es sich dabei um zur Orientierung des
Richter-Z von Amtes wegen angeordnete bezw. vorgenommene Erhebungen
handle, ein Vorgehen, wie es schon wiederholt beobachtet worden sei, ohne
dass jemals eine Partei darin eine Verkürzung in ihrem Verteidigungsrecht
erblickt hätte.

E. Der Regierungsrat des Kantons Luzern, welchem der Rekurs ebenfalls,
zur Vernehmlassnng über die Frage der Rechtsgültigkeit der angefochtenen
Verordnung betreffend den Motorwagenund Fahrradverkehr im Hinblick aus
§ 5 luzern SBB, übermitteltUebergriff in das Gebiet der gesetzgebenden
Gewalt. N° 16. 105--

worden ist, hat sich wesentlich wie folgt geäussert: Die fragliche
Verordnung sei im grossen und ganzen die wörtliche Reproduktion
der zwischen der Mehrzahl der schweizerischen Kantone bestehenden
Automobilund Velovereinbarung. Um den Anschluss anerns an dieses
Konkordat zu erleichtern und zu beschleunigen, habe der Regierungsrat,
dem Beispiele anderer Kantone folgend, die betreffenden Befiimmungen
in der Form einer Verordnung für denKanton verbindlich erklärt. Seine
Kompetenz hier sei unzweifelhaft; sie ergehe sich einmal aus den
allgemein gehaltenen § 67 StsV und § 65 des Organisationsgesetzes
vom 25. April 1899,. und sodann insbesondere aus § 82 des Gesetzes
betr. das Strassenwesen vom 1. Juli 1865. Denn das dem Regierungsrat hier
eingeräumte Oberaufsichtsrecht über das gesamte Strassenwesen finde seine
praktische Verwirklichung n. a. gerade in der Befugnis zur Regelung der
in die betreffende Ninterie einschlagenden Fragenund um solche handle
es sich hier Weisungen, Verordnungen u. dergl. zu erlassen. Der Wert
solcher Erlasse aber wäre illusorischwenn ihre Übertretungen nicht
unter Strafe gestellt werdenÄ könnten. Zu letzterem Zwecke dürfte nun
zwar der Hinweis auf die Strafdrohnng des § 86 PolStG genügen; doch
bestehe kein Hindernis, besondere Strafbestimmungen innerhalb der in §
36 PolStG vorgesehenen Grenzen in die Verordnungen selbst aufzunehmen·
Wenn dies also in der Automobilund Beloverordnung, deren Strafdrohnngen
sich bedeutend unter dem Strafmaximum des § 36 PolStG halten, geschehen
sei, so sei nicht einzusehen, inwiefern hierin eine Verletzung des
in § 5 StsV niedergelegten Grundsatzes: nulla poena sine lege liegen
sollteganz abgesehen davon, dass der in jener Verfassungsbestimmung
enthaltene Begriff Gesetz mehr genereller Natur sei und auch denjenigen
der Verordnnng in sich schliesse. Überdies müsse die Unanfechtbarkeit
der streitigen Verordnung auch aus § 127 PolStG gefolgert werden;
denn darin liege einerseits die Bestätigung des dem Regierungsrate
schon in der Verfassung eingeräumten Rechtes zum Erlasse von allgemein
verbindlichen Verordnungen und anderseits deren Gleichstellung mit
gesetzlichen Bestimmungen in ihren Wirkungen und Folgen; -

106 A. Staatsrechtliche
Entscheidungen. Ill. Abschnitt. Kantonsverfassungen. in Er w & g u n g :

1. Zunächst kann es sich fragen, ob gemäss dem Einwande der
Rekursbeklagten und des Qbergerichts eine sachliche Prüfung des Rekurses
in seinem ersten Punkte, bezüglich der Anfechtung der regierungsrätlichen
Verordnung betr. den Motorwagenund Fahrradverkehr vom 21. März 1903,
wegen praktischer Bedeutungsiosigkeit desselben, d. h. wegen Mangels
des erforderlichen rechtIichen Interesses des Rekurrenten an der
Beurteilung der Beschwerde, abzulehnen sei. Doch ist dies richtigerweise
zu verneinen. Denn abgesehen davon, dass jedenfalls nicht ausser
Zweifel steht, ob der kantonale Richter zur Annahme fahrlässiger und
damit strafbarer Körperrerletzung und Sachbeschädigung auch gelangt
wäre, wenn sich der vorliegende Tatbestand nicht als _slher: tretung der
streitigen Verordnung qualifiziert hätte, fällt in Betracht, dass die
der Anfechtung unterstehende Strafsentenz nicht nur das Strafdispositiv
in dem engem Sinne der Festsetzung des Strafmasses, sondern auch den
Ausspruch umfasst, welcher Vergehen der Bestrafte schuldig befunden
worden ist und dass auch dieser Ausspruch für den Bestraften keineswegs
nebensächlich, fondern Unter Umständen sogar von grösserer Wichtigkeit
ist, als die damit verbundene Strafzumefsung, so hinsichtlich der Frage
des Rückfalls (nach luzern. Recht: § 32 PolStG, bezw. §§ 77 ff. KrStG)
und für die Strafenregister. Somit muss, selbst wenn angenommen werden
wollte, dass das strafbare Verschulden des Returrenten für die andern
beiden Vergehen nicht speziell in seinem verordnungs widrigen Verhalten
als solchem gefunden, sondern dass dieses Verhalten als allgemein
pflichtwidrig taxiert worden sei, und dass ferner die beiden Vergehen
allein die verhängte Gesamtstrafe grundsätzlich und dem Masse nach zu
rechtfertigen vermögen, __ doch ein genügendes Interesse des Rekurrenten
an der Beurteilung der Zulässigkeit seiner Bestrafung in Anwendung der
angefochtenen Verordnung betreffend den Motorwagenund Fahrradverkehr
als gegeben erachtet werden.

2. Was nun die Frage der Verfassungsmässigkeit der streitigen Verordnung
betrifft, so ist zunächst festzuhalten, dass sich die Nachprüfung
des Bundesgerichts nur auf die im vorliegenden Falle angewendeten
Bestimmungen derselben erstrecken kann, da die FristUebergriff in das
Gebiet der gesetzgebenden Gewalt. N° '16. 107

zur Anfechtung der Verordnung als solcher, in ihrer allgemeinen
Verbindlichkeit, verstrichen ist Der Rekurrent berust sich wegen der
Anwendung der Verordnung ihm gegenüber auf Verletzung des Grundsatzes:
nulla, poena sine lege, den er aus der Bestimmung des § 5 luzern. StsV
vom Jahre 1875 ableitet: Niemand darf gerichtlich verfolgt ..... werden,
ausser in den born Gesetze vorgesehenen Fällen ..... Er folgert
hieraus nämlich, dass in Luzern jede Strafnorm (strafbarer Tatbestand
und zugehörige Strafdrohung), um vor der Verfassung bestehen zu
können, auf dem Wege der Gesetzgebung, durch den verfassungsmässigen
Inhaber der gesetzgebenden Gewalt, erlassen sein müsse, und dass
daher dem Regierungsrate, welchem nur die vollziehende Gewalt und
die Staatsverwaltung zustehen (g 63 StsV), die Kompetenz zum Erlasse
gültiger Strafnormen mangle. Allein diese Auffassung der angerufenen
Verfassungsbestimmung geht fehl.

Der Grundsatz: nulla poena sine lege hat im allgemeinen in

seiner Verwendung im modernen Staatsund Strafrecht nicht

Bezug auf die Unterscheidung von Erlassen des als Gesetzgeber bezeichneten
Staatsorgans gegenüber solchen anderer Staatsorgane, insbesondere
des Inhabers der sogen. vollziehenden Gewalt wenn er in diesem Sinne
auch bei seiner Aufstellung durch die naturrechtliche Staatslehre
des 18. Jahrhunderts gebraucht wurde, die sich im 19. Jahrhundert
speziell in der französischen Rechtsanschauung noch erhalten hat (siehe
hierüber: Binding, HandTbuch des Strafrechts l S. i'? ff. und O. Mayer,
Deutsches Verwaltungs-recht I S. 307) , sondern er bezieht sich auf
den Gegensatz zwischen allgemein verbindlichen Erlassen überhaupt und
für einen bestimmten Einzelfall ergehenden Weisungen oder Verfügungen
der Staatsbehörden: Das Bestehen von allgemein "verbindlichen, auf
alle Fälle in gleicher Weise zur Anwendung gelangenden Normen soll
den Bürger auf dem Gebiete des Strafrechts vor behördlicher Willkür
schützen. Danach aber darf der Ausdruck lex (Gesetz) darin nicht
in dem wörtlichen, formellen Sinne der auf dem Wege der Gesetzgebung
aufgestellten Vorschrift aufgefasst werden; er ist vielmehr zu verstehen
in der materiellen Bedeutung des gefetzten Rechtes, der Rechtsfatzung
Die Rechtsgültigkeit einer Strafsentenz setzt also lediglich voraus,

108 A. Staatsrechtliche
Entscheidungen. III. Abschnitt. Kantonsversassungen.

dass durch gültigen biechtssatz für den betreffenden Tatbestand dieStrafe
angedroht set. Gültig aber ist ein Rechtssatz dann, wenn

er aus einer verfassungsmässig anerkannten Rechtsquelle herrührt was beim
geschriebenen Rechte einfach von der Frage abhängt-. ob die Behörde,
das Staatsorgan, das den Satz aufstellt hiezts verfassungsmässig
zuftändig sei (dergl. Goldschmidt, Verwal-. tungsstrafrecht, S. 187;
O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht I S. 306 § 22 Abs. 3; Renold,
Bundesverwaltungsstrafrecht, S. 32). Kompetent zur Aufstellung von
Rechtssätzm aber ist nun auch in den heutigen Verfassungsstaaten
nicht ausschliesslich der Träger der gesetzgebenden Gewalt. Dieser
erscheintgegenteils lediglich als das oberste der rechtssetzenden
Staatsorgane und neben ihm werden zur Bewältigung der stets sich meh:
renden, In mannigfaltiger Weise rechtliche Regelung erfordernden
Aufgaben des modernen Gemeinwesens auch andere Organeder Staatsgewalt
zur Rechtsschaffung herangezogen Auf diesem Boden steht speziell das
luzernische Verfassungsrecht. Dies ergiebtsich schon daraus, dass § 67
StsV den Regierungsrat, den Trägerder verwaltenden und vollziehenden
Gewalt (gg 63 ff.), u. a. mitdem Erlasse der sur Vollziehung und
Verwaltung nötigen Verordnungen- betraut, welche jedoch der Verfassung
und den bestehenden Gesetzen nicht zuwideriaufen dürfen. Denn der
hier ge:brauchte allgemeine Ausdruck Verordnung umfasst auch die
Rechtsverordnungem die allgemein verbindlichen , das Verhalten der
einzelnen der Gemeinschaft gegenüber regelnden, jedoch nicht auf dem
Wege der Gesetzgebung erlassenen staatlichen Anordnungen

tm Gegensatz zu den einzelne Fälle betreffenden Verfügungen um;
Beschlussen (vergl. z.B. Jellineck, Gesetz und Verordnung

S. 366 ff.; Laband,. Staatsrecht des deutschen Reiches [IV. Aule II S. 80;
O. Mayer, a. a. D. I S. 122). Dass das Verordnungsrecht im Sinne des §
67 der luzern. Verfassung In diesem Sinne aufzufassen isf, zeigt in
unzweideutiger Weise die generelle Definition der Polizeivergehen
an der Spitze des PolStG, vom 6. Juni 1861, als Handlungen oder
Unterlassungen,'welche in diesem oder einem besonderen Gesetze
oder durch eine gültige Verordnung mit Polizeistrafe bedroht werden
(vergl. Goldschmidt, a. a. O. S. 372, oben), sowieUehergriff in das
Gebiet der gesetzgebenden Gewalt. N° 16. 109

ferner die Blankettstrafdrohung des § 36 ibidem für Verfehlungen
gegen Landesgesetze oder obrigkeitliche Verordnungen, zan deren
Übertretung keine bestimmten Strafen ausgesetzt sind. Denn diese beiden
Gesetzesbestimmungen sind durch den fraglichen § 5 der später (1875)
erlassenen Staatsverfassung nicht etwa modifiziert worden, da schon
die zur Zeit des Erlasses des PolStG (1861) geltende Staatsverfassung
von 1848 in § 6, sowie die diese ersetzende, derjenigen von 1875
unmittelbar vorgehende Staatsverfassung von 1863, ebenfalls in § 6, den
wörtlich gleichen Text enthalten. Wenn ferner § 127 der Bestimmungen
des Polizeistrafgesetzes bestimmt, dass die Übertretungen zum Schutze
der Strassen, Eisenbahnen und des Eisenbahnbetriebes nach den hierüber
bestehenden besondern Reglementen und Verordnungen bestraft werden,
so ergibt sich auch hieraus, dass auf diesem Gebiete speziell nicht
nur das Gesetz in formellem Sinne als Quelle von Strafnormen behandelt
wird. Endlich kann darauf hingewiesen werden, dass im Kanton Luzern
eine ganze Anzahl von regiernngsrätlichen Verordnungen besteht, die
Rechtssätze enthalten, ohne dass je deren Verfassungsmässigkeit deshalb
in Frage gestellt worden wäre, weil überhaupt dem Regierungsrat die
Kompetenz zur Aufstellung von Rechts-verordnungen mangle. Danach muss
denn das Gesetz im angerufenen § 5 der luzern. Verfassung ebenfalls in
materiellem Sinne verstanden werden, so dass es, wie der Regierungsrat in
der Vernehmlassung zutreffend geltend macht, auch die Rechts-verordnungen
umfasst, die von dem Träger der vollziehenden Gewalt innerhalb der
Schranken seiner Zuständigkeit erlassen worden find.

3. Nach dem gesagten ist zur Entscheidung des in Rede stehenden
Beschwerdepunktes nur zu untersuchen, ob der Regierungsrat bei Erlass
der streitigen Verordnung betr. den Motorwagenund Fahrradverkehr
vom 31. März 1903 bezw. der dem Reskurrenten gegenüber zur Anwendung
gebrachten Bestimmungen derselben (laut Angabe des obergerichtlichen
Urteils: der §§ 9, Abs. 3, 22, 27, 31, 32 und 34.) die Grenze seiner
Befugnis überschritten habe. Nun enthalten die fraglichen Bestimmungen
Vorschriften für Personen, welche mit Automobilen (Fahrzeugen mit
mechanischem Antriebe) oder Fahrrädern (§§ 1 und 17 der

110 A. Staatsrechiliche
Entscheidungen. HI. Abschnitt. Kantonsverfassungen.

Verordnung) fahren, d. h., wie § 17 bezüglich der Fahrräder ausdrücklich
angibt und übrigens aus dem im Jngresse der Verordnung angerufenen §
82 des Gesetzes betr. das Strassenwesen vom 1. Juli 1865 hervorgeht,
die öffentlichen, der Aufsicht des Regierungsrates unterstehenden
Strassen benutzen. Die erstern jener Bestimmungen geben die Weisungen:
an näher bezeichneten, besondere Kollisionsgesahr drohenden Stellen
der Strassen eine bestimmte beschränkte Fahrgeschwindigkeit nicht
zu überschreiten (§§ 9 Abs. 3, und 27), gänzlich anzuhalten, um das
voraussehbare Erschrecken passierender Tiere zu vermeiden (§ 31), einen
Alarmapparat näher bestimmter Art zu verwenden (§ 22), sowiebei Eintritt
eines Unsalls abzusteigen, für Hülfeleistung besorgt zu sein und sich
auf Verlangen zu legitimieren (§ 32), und § 34 bedroht Zuwiderhandlungen
gegen die vorstehenden Weisungen mit bestimmten Strafen (Bussen von 2
bis 20 Jr., im Wiederholungsfalle von 6 bis 50 Fr.). Diese Weisungen
qualifizieren sich somit als mit Strafsanktion versehene Äusserungen
des Staatswillens gegenüber den Staatsuntertanen, als Strafsatzungen,
und zwar aufgestellt zur Wahrung der Sicherheit des Verkehrs auf den
öffentlichen Strassen. Sie gehören, dieser Zweckbestimmung gemäss, in
das staatliche Betätigungsgebiet des Polizeiwesens, d. h. nach der heute
angenommenen Auffassung des Begriffs der Polizei (s. Rosin, Preussisches
Polizeiverordnungsrecht, S. 183; O. Mayer, Deutsches Verwaltungs-recht
I S. 249) der aus Beschränkung der natürlichen Handlungsfähigkeit des
Einzelnen zu Gunsten des Gemeinwohls, auf Abwehr von Störungen für
die gute Ordnung des Gemeinwesens aus dem Einzeldasein gerichteten
Staatstätigkeit, wobei die Vorschriften der §§ 93, 22, 27 und 31
dem präventiven, diejenige des § 32 dem repressiven Polizeizwecke
dienen. Die Kompetenz zum Erlasse solchen Polizeiverordnungs-Rechts
aber ist dem Regierungsrate, wenn nicht schon in seiner Eigenschaft
als Vollziehungsbehörde für das Gesetz betreffend das Strassenwesen
vom 1. Juli 1865 was dahingestellt bleiben kann so doch unzweifelhaft
durch die ihm nach Massgabe der §§ 63 und 67 StsV zustehende Funktion
als staatliche Verwaltungsbehörde verliehen. Denn die Ausübung der
Polizeigewalt bildetUebergrifi' in das Gebiet der gesetzgebenden Gewalt,
N° 16. 111

nach allgemeiner Rechtsauffassung einen Zweig der Verwaltungstätigkeit
des Staates. Und dieser Auffassung huldigt insbesondere das luzernische
Staatsrecht. Dies geht, abgesehen von der unbestrittenermassen
bestehenden einschlägigen Praxis der Verwaltungsbehörden, speziell des
Regierungsrates, schon daraus hervor, dass die Staatsverfassung die
Polizeigewalt nirgends erwähnt, während diese ihrer Natur nach von den
in der Verfassung üblicherweife unterschiedenen drei Gewalten weder der
gesetzgebenden noch der richterlichen Gewalt zugewiesen werden kann. Dazu
kommt, dass das kantonale Organisationsgesetz vom 8. März 1899 in § 59
Abs. 1 den Regierungsrat als die oberste verwaltende vollziehender und
polizeiliche Behörde des Kantons bezeichnet. Die Fortunlierung dieser
Gesetzesstelle nötigt nicht etwa zu der Annahme, dass der Gesetzgeber die
polizeilichen Funktionen der verwaltenden und vollziehenden Tätigkeit des
Regierungsrates als ein aliud habe gegenüberstellen wollen; sie lässt sich
vielmehr durchaus ungezwungen erklären als besondere Hervorhebung jenes
Zweiges der Verwaltung mit Rücksicht auf die hiefür als nötig erachtete
nähere Definition, wie sie dann in § 65 Abs. 2 des Organisationsgesetzes
gegeben ist, welcher lautet: Als oberstePolizeibehörde erlässt er
(der Regierungsrat) die zur Handhabung der Rechtssicherheit, Ruhe und
Ordnung erforderlichen Anordnungen, Beschlüsse, Befehle, Verbote. Dass
diese Bestimmung verfassungswidrig sei, ist nicht ersichtlich und auch
nicht behauptet. Dagegen ist nun freilich zweifelhaft, was alles zur
Polizei bezw. zur Handhabung der Rechtssicherheit, Ruhe und Ordnung zu
rechnen und somit der regierungsrätlichen Verordnungsgewalt zugewiesen
ist. Soviel aber sieht ausser Zweifel, dass die Regelung der Benutzung
der öffentlichen Strassen aus dem Gesichtspunkte der Verkehrssicherheit
darunter fällt. Dies ist im deutschen und französischen Verwaltungs-recht
anerkannt (vergl. G. Meyer, Deutsches Verwaltungsrecht I S. 204; Q. Mayer,
franz. Verwaltungsrecht S. 177). Und was das luzernische Recht betrifft,
so enthalt das Strassengesetz selbst Bestimmungen über die Benutzung Der
Strassen unter dem Titel: Strassenpolizeiliche Vorschriften, die ihrem
Inhalte nach den doppelten Zweck haben, die· Wege zu schützen und den
Verkehr darauf im Interesse der Sicherheit zu

112 A. Staatsrechtliche
Entscheidungen. III. Abschnitt. Kantonsverfassungen.

ordnen. Auch ist an den schon erwähnten § 127 des Polizeistrafgesetzes
zu erinnern. Der Umstand, dass die Strassenpolizeivergehen, abgesehen
von der in der streitigen Verordnung statuierten, im Strassengesetze
selbst geregelt sind, vermag entgegen der Annahme des Rekurrenten
die Verordnungskompetenz des Regierungsrates nicht ohne weiteres
auszuschliessen Denn selbstverständlich steht es dem Gesetzgeber als
oberstem Organ der Rechtssetzung zu, jedes beliebige Rechtsgebiet selbst
zu ordnen; dies hat jedoch im Sinne des § 67 StsV nur zur Folge, dass
der Regiegungsrat auf diesem Gebiete keine widersprechenden Vorschriften
erlassen dars, dass also das Gesetz nur durch den Gesetzgeber selbst
abgeändert oder aufgehoben werden kann; dagegen hindert es -in Ermangelung
einer gegenteiligen ausdrücklichen Gesetzesbestimmung, die hier fehlt
nicht eine Ergänzung der gesetzlichen Normen auf dem Verordnungswege,
als welche die streitige Verordnung mit ihren Vorschriften für die
modernen Verkehrsmittel gegenüber dem Strassengesetze, dessen Vorschriften
naturgemäss dem zur Zeit seines Erlasses herrschenden Strassenverkehre
angepasst sind, sich darstellt.

Zum gleichen Ergebnis wie die vorstehenden Erörterungen führt auch noch
folgende Erwägung: Nach der heute in der Doktrin wohl herrschenden Theorie
(vergl. Laband, a. a. O. 2 S. 88; Jellineck, a. a. O. S. 333 n. 383;
Rosin, a. a. O. S. 32 n. 64; Anschiitz, Begriff der gesetzgebenden Gewalt,
S. 17; Goldschmidt, a. a. O. S. 444/445) steht es der gesetzgebenden
Gewalt sofern ihr dies nicht etwa verfassungsmässig ausdrücklich
untersagt ist, was für das luzernische Staatsrecht nicht zutrifft frei,
den Erlass von Staatsnormen über eine bestimmte Materie auf dem Wege der
Gesetzgebung einem andern Staatsorgane zu übertragen. Das Requisit einer
solchen Delegation der gesetzgebenden Gewalt an den Regierungsrat aber
ist mit Bezug auf die streitigen Verordnungsbestimmungen unzweifelhaft
erfüllt durch die früher erwähnte Vorschrift des Art. 65 Abs. 2 des
Organisationsgesetzes vom 8. März 1899. Wenn daher nicht schon auf
die in der Verfassung (% 6?) unmittelbar umschriebene Kompetenz des
Regierungsrates abgestellt werden wollte, so wäre diese doch infolge
jener besonderen gesetzlichen Ermächtigung gegeben. uebergriff in das
Gebiet der gesetzgebenden Gewalt. N° 16. 113

4. Hiegegen vermag auch das vom Rekurrenten aus § 212 Mt. f des Gesetzes
über das Strafrechtsverfahren vom 7 . Juni 1865 abgeleitete Argument
nicht aufzukommen; denn wenn jene Bestimmung als formalen Bestandteil des
verurteilenden Straf erkenntnisses die Anführung des Gesetzes, woran die
Strafe gegründet wird", erwähnt, so ist eben der Ausdruck Gesetz auch
hier, wie in § 5 StsV, in dem oben entwickelten allgemeinen Sinne der
rechtsgültig aufgestellten Rechtsnorm zu verstehen. Somit erweist sich die
Beschwerde des Rekurrenten wegen Verletzung des § 5 StsV in seinem früher
zitterten Passus und implicite auch wegen der im letztberührten Punkte
daneben noch ansgerufenen Verletzung der Rechtsgleichheit (Art. 4 BVz §
4 StsV) durch Anwendung der regierungsrätlichen Verordnung betr. den
Motorwagen und Fahrradverkehr ihm gegenüber als in allen Teilen
unbegründet. Ebensowenig liegt danach, bezüglich des letztberührten
Punktes, eine vom Reknrrenten noch behauptete Verletzung des § 5 StsB in
seinem weiteren Passus vor, wonach niemand gerichtlich verfolgt werden
darf, ausser . . . . auf die vom Gesetze vorgeschriebene Weise.

5. Was endlich die Beschwerde des Rekurrenten wegen Verstosses des
Obergerichts gegen den vorstehenden Passus des § 5 StsV und wegen
Rechtsverweigerung durch Beeinträchtigung seiner Verteidigungsrechte
betrifft, welche Beschwerde er darauf stützt, idass das Obergericht
ihm das Resultat eines nach der obergerichtlichen Parteiverhandlung
angeordneten Ergänzungsverhörs mit dem Zeugen Kutscher Tröndle
vorenthalten habe, so mag allerdings die vom Qbergerichte verteidigte
Zulässigkeit dieses tatsächlich eingeschlagenen Verfahrens angesichts
des im luzernischen Gesetz über das Strafrechtsverfahren unzweideutig
niedergelegten Grundsatzes, dass dem Angeschuldigten das gesamte
wesentliche Prozessaktenmaterial zur Kenntnis gebracht werden muss
(vergl. §§ 246 und 267 StRV) als zweifelhaft erscheinen. Allein im
gegebenen Falle ist der Rekurrent dadurch in seiner Rechtsstellung
offenbar in keiner Weise gekränkt worden. Denn das Obergericht hat
den als bewiesen angenommenen Vorfall des Reissens eines Zügels des
durchbrennenden Pferdes, auf den die streitige neue Zeugeneinvernahme
sich hauptsächlich bezog, als für die grundsätzliche

AS 32 I 1906 8

114 A. staats-rechtliche
Entscheidungen. lll. Abschnitt. Kantonsverfassungen.

Frage der Strafbarkeit des Verhaltens des Rekurrenten unerheblich

erklärt und ihn lediglich bei der Strafzumessung als mildernden

Umstand, also in dem Rekurrenten günstigem Sinne, berücksichtigt

Folglich hat der Rekurrent jedenfalls kein positives rechtliches

Interesse daran, das fragliche Verfahren anzufechten; erkannt:

Der Rekurs wird abgewiesen

17. Arrèt du 29 mars 1906, dem la cause Pasquier et consorts contre
Conseil d'Etat de Fribourg.

Arrété du Conseil d'Etat de Fribourg du 18 aoüt 1905, concernant la durée
de la chasse, etc. Art. 8. Inconstitutionnalité. Art. 31, 45 litt. @;
Art. 52 Const. frib.; lois du 10 mai 1876 et du 28 mai

1890 sur la chasse.

Sous date du 18 aoùt 1905, le Conseil d'Etat du canton de ss

Fribourg & pris un arrété fixant la durée de la chasseaux différentes
espèces de gibier, ainsi que les limites des territoires ä. ban et des
réserves de chasse. L'art. 8 de cet arrèté dispose qu' en prenant le
permis de chasse, tout chasseur doit verser une cotisation spéciale de
10 fr. destinée exclusivement au repeuplement du gibier. Cet article 8
se réfère 5. l'art. 6 de la loi fribourgeoise du 23 mai 1890 modifiant
certaines dispositions de celle du 10 mai 1876 sur la chasse, stetnent que
le Conseil d'Etat ordonne les mesures nécessaires pour la destruction
des animaux nuisibles, ainsi que pour le repeuplement du gibier et
l'introduction de nouvelles espèces.

C'est contre l'art. 8 du prédit arrèté, disposition ci-haut reproduite,
que H. Pasquier, M Rémy et consorts ont interjeté euprès du Tribunal
federal un recours de droit public pour déni de justice; ils concluent
à ce qu'il plaise à, ce tribuna] annuler le prédit art. 8 et condamner
l'Etat de Fribourg à restituer à chacun des recourants la finance de 10
fr.Uebergrifl" in das Gebiet der gesetzgebenden Gewalt. N° 13. 115

qu'ils ont dù déposer pour obtenir leurs permis de chesse.

Ce recours se fonde, en substance, sur les motifs ci après: ' La
disposition attaquée de l'arrété du 18 aoùt 1905 viole le principe de
la. séparation des pouvoirs ; il empiète sur le pouvoir législatif
et constitue ainsi un déni de just-ice. La loi fiinourgeoise sur la
chasse, du 10 mai 1876, determine lmntativement, à l'art. 6 tous les
cas où un permis de chesse doit etre refusé. Or l'art. 8 de l'arrété
attaqué en édictant que tout chasseur, en preuant le permis de chasse,
doit verser une cotisation Speciale de 10 fr. destinée exclusivement
au rep-euplement du gibier, obligeait chaque chasseur, pour obtenir
son permis, à verser une finance de 10 fr. en sus du prix du permis,
à peine de se voir refuser celui-ci au ces où il n'opérerait pas oe
versement. Le Conseil d'Etat en imposant, par son arrété susvisé, la
condition du paiement de cette finance, a créé un nouveau cas d'exclusion,
qui revient & refuser le permis de chasse à celui qui ne paiera pes,
préalablement, la finance en question; il y a, là un empiétement.
du pouvoir exécutif sur le pouvoir législatif ; en outre cette finance
de 10 fr. n'est autre chose qu'une angmentation déguisée du prix des
permis de chasse ; ce prix étant fixé pour les différents permis, dans
la loi du 23 mai 1890, il n'appartient pas, en vertu du meine principe
de la séparation des pouvoirs, d'en majorer le montant. G'est en vertu
de la disposxtion, plus haut reproduite, de Part. 6 de la loi du 10
mai 1876 que le pouvoir exécutif & le droitd'autoriser des chasses
spéciales, en dehors du temps ordinaire de chasse, pour la destruction
des animaux nuisibles ; c'est ainsi qu'il peut res-, tremdre la durée de
la chasse et meine l'inter-dire complètement dans certains territoires,
en mettant ceux-ci à ban. Toutei'ois cette prescription de l'art. 6
ne donne nullement au Conseil d'Etat l'autorisation de prélever sur
chaque chasseur une finance de 10 fr. pour le repeuplement. C'est là
une interprétation ar'nitraire, contraire au texte et à l'esprit de la
1012; dès le moment que le législateur n'a fixé à l'art. 6 de la, 101,
ni le principe, nile montant d'une pareille cotisation , ce n'est que
d'une fagon arbitraire que le Conseil d'Etat
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 32 I 98
Datum : 25. Januar 1906
Publiziert : 31. Dezember 1907
Quelle : Bundesgericht
Status : 32 I 98
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : 98 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. III. Abschnitt. Kantonsverfassungen. Dritter


Gesetzesregister
BV: 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
OG: 178
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
regierungsrat • verfassung • frage • kantonsverfassung • weisung • nulla poena sine lege • verurteilung • zweifel • pferd • verhalten • weiler • norm • zeuge • benutzung • tag • rechtssicherheit • verteidigungsrechte • bundesgericht • verfassungsrecht • entscheid
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