488 A. Staatswohl-liebe Entscheidungen. Il. Abschnitt. Landesgesetze
mit stillschweigender Billigung des Vaters sowohl, als auch
derHeimatgemeinde Reckingen bei sich aufgenommen und seither tat-v
sächlich Vaterstelle an ihm Ver-sehen hat, während ihn anderseits
mit der Heimatgemeinde, welche daneben allein noch in Betracht fallen
könnte, keinerlei faktische Beziehungen verknüpfen, abgesehen von der
gerade streitigen, dort bestellten und bestehenden Verwaltung seines
Vermögens Diese aber ist für die Frage des Domizils ohne Belang;
denn sie verdankt ihre Entstehung, wie die Akten erkennen lassen, dem
Umstande, dass das dem Knaben im Jahre 1901 im Kamen Bern durch Erbschaft
angefallene Vermögen von der zuständigen Amtsstelle nach Reckingen als
der (vermutlich allein bekannten) Heimatgemeinde des Erben geschickt
und von derselben augenscheinlich lediglich in dieser Eigenschaft in
Verwaltung genommen worden ist, somit entgegen den Vorschriften des BG
betr. zivilr. V. d. N. u. A. (Art. 10 ff.), welchedas Vormundschaftswesen
grundsätzlich der Wohnsitzgemeinde zuweisen. Danach hätte die Gemeinde
Reckingen das ihr über-sandte Vermögen entweder dem Vater Gunthern,
oder, wohl richtiger, im Sinne der vorstehenden Ausführung der Gemeinde
Pieterlen zuweisen sollen. Wenn sie statt dessen selbst die Verwaltung
desVermögens übernommen hat so ist sie gemäss Art. 17 leg. cit. zur
Übergabe derselben an Pieterlen verpflichtet Denn die fragliche Bestimmung
erscheint als anwendbar auch auf den hier vorliegenden Fall der Begründung
eines neuen Wohnsitzes infolge Zessierens der gesetzlichen Präsumption
des Art. 4 Abs. L BG betr. zivilr. B. d. N. u. A., da dieser Fall
vernünftigerweise dem in Art. 17 ibidem vorgesehenen Normalfall der
Bewilligung eines Wohnsitzwechsels seitens der Vormundschaftsbehörde
gleichzustellen ist. Es ist daher dein Reknrsbegehren der
GemeindePieterlen zu entsprechen; erkannt-:
Der Rekurs wird gutgeheissen und demnach die Gemeinde-
Reckingen pflichtig erklärt, die Vermögensverwaltung des minderjährigen
Leo Gunthern von Reckingen an die Vormundschasts-" behörde der Gemeinde
Pieterlen abzugeben und derselben das verwaltete Vermögen jenes
auszuhändigen.Ii. Zivilrecht]. Verhältnisse der Niedergelassenen und
Ausenthalter. N° 72. 489
72. guten vom 20 se . Member 1906 in Sachen Hmberger gegen Yfisengetttht
éàaffaaulm.
auch die gesamte formelle Nachlassäehandlung zu verstehen Die
Untersteèlung der Er]; o e eil ° ' -' ' Nachlassbehamllung 12h? n ea
Hezmat: echt temfasst dee formelle
A. Am 30. April 1906 verstarb an ihrem Wo nort
o . · ' S a = FhgiaixseäiuWnStive Emma. Siegrtst geb. Fischer-, von
Seeîgen, Rift! w g .. te hinterliess ein in Aarau hinterlegtes Testament
drin einzelne Verwandte zu Erben eingesetzt und sahlreiche Ver-,
machtnisse angeordnet waren und worin als Testamoentsvollstrecker der
Rekurrent, Fürsprech Dr. Heuberger in Aarau bezeichnet war Das Testament
enthielt ausserdem die Klausel: ,Die Testatori . unterstellt gemäss der
Vorschrift des Art· 22 Zlbs 2 des Bé; Fett: zivilr. V. d. N. u. A. vom
25. Juni 1891 die Erbfol e in Ihre Verlassenschaft dem Erbrecht ihres
Heimatkantons Aasgau, das also zur Anwendung kommen soll, soweit im
vor: liegenden Testamente über die Erbsolge in die Verlasens 't d _
Testatorin nichts anderes versiegt wird. Das Sie irckhsare ' er Aarau
eröffnete das Testament und erliess an die nächsken Egli??her-wandten
der. Erblasserin unterm 9. Juni 1906 die öffentliche Zlgizsäzrdkkrnng
sich über ihre Ansprüche bis zum 15. September Andra!) eun dBezirksgericht
Agrau schriftlich auszuweisen, mit der A ung, ass nach Ablauf dieser Frist
die als nächste Erben · ngemeldeten sofort in den Besitz der Erbschaft
eingewiesen würden immerhin unter Wahrung aller Rechte gegenüber allfällig
weiten; Berechtigten. Am 10. Mai 1906 nahm das Waisengericlit Schafsäausen
imvBeisein des Rekurrenten als Testamentsvollstreckers ein Judentauuberdie
etwas mehr als 400,000 Fr. betragende Verlassenschaft aus. In der Folge
ergaben sich dann Differenzen zwischen dem Waisengericht Schafshausen
und dem Rekurrenten
490 A. Siaatsrechtliche Entscheidungen. [I. Abschnitt. Bundesgesetze.
über die beidseitigen Befugnisse hinsichtlich des Nachlasfes der Witwe
Siegrist. Der Rekurrent nahm das Recht in Anspruch, die Erbschaft
zu liquidieren und bis zur erfolgten Liquidation zu verwalten und er
verlangte hiebei u. a., dass das Waisengericht zum Nachlass gehörige
Werttitel, die es bei der Kantonalbank Schaffhausen bezogen und in die
Schirmlade gelegt hatte, der Bank wieder in Depositum gebe und ihm die
Depositenscheine für dieses Depot und ein solches bei der Aargauischen
Bank, sowie die Kontokorrentrechnung der Schaffhauser Kantonalbank
übermittle. Die Auffassung des Waisengerichts über seine Stellung in
der Sache kam in einer Zuschrift der Waisengerichtskanzlei vom 31. Mai
1906 an den Rekurrenten wie folgt zum Ausdruck: Als Aargauerin konnte
die Verstorbene gemäss Art. 24 BG betr. zivilr. V. d. N. n. A. ein
Testament nach den in ihrem Heimatkanton bestehenden Vorschriften
errichten und war auch befugt, die Erbfolge in ihrem Nachlass dem
Aargauerrecht zu nnterstellen (Art.22 Abi. 2 leg. cit.). In allen
übrigen Beziehungen aber untersteht die Ordnung ihres Nachlasses
dem Rechte des legten Wohnsitzes und speziell erfolgt an diesem auch
die Eröffnung der Erbschaft für die Gesamtheit des Vermogens (Art. 23
leg. cit.). Demnach wird alfo die Waisenbehörde der Stadt Schaffhaufen
durch Rachforschungen bei den in Frage kommenden Zivilstandsämtern die
Jntestaterben der Verstorbenen feststellen (Art. 16 der waisenamtlichen
Geschäftsordnung), diesen alsdann durch den Waisengerichtspräsidenten
von den testameniarischen Verfügungen der Erblasserin Kenntnis geben
(Art. 10 des Beschreibungsund Teilungsgesetzes) und ihnen nötigenfalls
durch das Gericht eine peremptorische Frist zur Anerkennung oder Be:
sireitung des Testamentes ansetzen lassen (Att. 27 der watsenamtlichen
Geschäftsordnung). Sodann werden die Jntestaterben auch veranlasst werden,
einen Massaverwalter zu bestellen und, soweit sie auswärts sind, für einen
Vertreter am Platze zu sorgen. Bis ersteres geschehen sein wird, besorgt
die Waisengerichtskanzlei die Verwaltung des Vermögens. Die Wei-intel
werben von der Waisenbehörde, welche den Erben für die Befriedigung
ihrer Ansprüche verantwortlich ist, in Verwahrung genommen und in der
Schirmlade deponiert. Mit dem TestamentH. Zivilrecht}. Verhältnisse der
Niedergelassenen und Aufenthalter. N° 72. 491
als solchem kann erst gerechnet werden, wenn dieses entweder allseitig
anerkannt ist oder erhobene Einwendungen dagegen gütlick) oder
ggerichtlich beseitigt find. Denn der Fall wäre ja denkBar, dass auch in
formeller Beziehung Einsprachen gegen dasselbe erhoben werden, welche,
wenn sie geschützt würden, das Testament unter Umständen ganz annullieren
könnten. Jst nun das Testament formell bereinigt, so erfolgt sofort die
Ausfertigung der Teilung auf dem Papier und nach Unterzeichnung derselben
durch die Beteiligten, sowie der Genehmigung des Dokumentes durch die
Waisenbehörde, die zuständigen auswärtigen Vormundschaftsbehörden und des
Waiseninspektorats kann dann die Tätigkeit des Testamentsvollstreckers
beginnen gemäss den demselben durch die herwärtigen gesetzlichen
Bestimmungen eingeräumten Kompetenzen. Gegen diese Stellungnahme der
Waisengerichtskauzlei reknrrierte der Rekurrent an das Waisengericht;
er erhielt aber am 19. Juni 1906 den Bescheid, dass ein Rekurs unzulässig
sei, weil eine eigentliche Schlussnahme nicht vorliege. Übrigens handle
es sich hier einfach Um die Anwendung gesetzlicher Bestimmmungen,
die ohne weiteres, d. h. ohne vorgängige Beschlussfassung zu erfolgen
habe. Zugleich bestätigte das Waisengericht die in der Zuschrift seiner
Kanzlei vom 31. Mai ausgesprochene Auffassung Am 28. Juni 1906 sodann
teilte das Waisengericht dem Reknrrenten mit, dass die Konserenz der
Jntestaterben der verst. Witwe Siegrist beschlossen habe, es sei, bis
der Vollng des Testaments durch den vorgesehenen Testamentsvollstrecker
beginnen könne, die Verwaltung und, soweit nötig, auch die Liquidation des
Nachlasses vom Rekurrenten und der Waisengerichtskanzlei unter Aufsicht
der Waisenbehörde Schafshauseu zu besorgen.
B. Mit Rekursschrift vom 30. Juni 1906 hat Für-sprech Dr. Henberger
beim Bundesgericht folgende Anträge gestellt: 1. Das Waisengericht sei
zu verhalten: a.) Die zur Verlassenschaft der Witwe Siegrist gehörenden
Werttitel, die es von der Schaffhauser Kantonalbank erhoben und in seine
Schirmlade gelegt hat,. dieser Bank wieder in Deposition zu geben;
b) ferner die Depositem scheine sowohl für die bei der Schaffhauser
Kantonalbank als für die bei der Aarganischen Bank deponierten Werttitel,
die zur Ver-
492 A. Staatsrechtliche Entscheidungen ll. Abschnitt. Bùndesgesetze.
lassenschast der Witwe Siegrist gehören, dem Rekurrenten herauszugeben;
c) ihm auch die Kontokorrentrechnung der Schaffhauser Kantonalbank
über den mit Witwe Siegrist unterhaltenen Verkehr vom 9.X10. Mai 1906
zu übermitteln. 2. Dem Waisengericht sei zu untersagen: a) Irgend eine
Verfügung über die zur Verlassenschaft der Witwe Siegrist gehörenden
Vermögensgegenstände und Urkunden zu treffen; b) Handlungen vorzunehmen,
zu deren Vornahme der Rekurrent als Testamentsvollftrecker befugt ist,
also unter anderm die Verlassenschaft zu verwahren, zu verwalten und zur
Teilung zu bringen und Vermächtnisse auszuzahlen. Zur Begründung wird
ausgeführt, das Vorgehen des Waisengerichts bedeute eine Verletzung
des Art. 22 Abf. 2 BG betr. zivilr. V. d. N. u. A. Die Erblasserin
habe durch letziwillige Verfügung die Erbfolge in ihren Nachlass dem
Rechte ihres Heimatkantons Aargau unterstellt Alle durch das Erbrecht
normierten Verhältnisse beurteilten sich daher vorliegend nach aargau-
ischem Recht. Dieses müsse insbesondere massgebend sein für die Eröffnung,
Inkraftsetzung, Bekanntgebung, gerichtliche Bestreitung des Testaments,
für die Annahme der Erbschaft und die Teilung der Verlassenschaft. Es
dürfe daher in keiner der genannten Beziehungen Schafshauser Recht zur
Anwendung gebracht werden Nach aargauischem Recht habe man es nicht
mit einem Fall waisenamtlicher Liquidation zu tun. Die Schaffhauser
Waisenbehörde sei deshalb auch nicht berechtigt, eine amtliche Liquidation
ganz oder zum Teil durchzuführen, sondern sie habe dies gemäss dem
ausdrücklichen Willen der Testatorin dem Testamentsvollstrecker zu
überlassen.
C. Das Waisengericht der Stadt Schaffhausen hat die Anträge gesielli:
1. Es seien die Anträge des Rekurrenten sub litt-. a, b und (:
um Titelherausgabe abzuweisen. 2. Es sei auszusprechen, dass es der
Waisenbehörde Schaffhausen gestattet sei, die durch die Gesetzgebung ihr
Überbundenen Vorkehrungen mit Bezug auf die Erbschaft der Witwe Siegrist
weiter auszuführen bis zu dem Zeitpunkt, wo der Übergabe der Erbschaft
an den Testamentsvollstrecker keine rechtlichen oder tatsächlichen
Hindernisse mehr im Wege stehen. In erster Linie wird dem Rekurrenten
die Beschwerdelegitimati-on bestritten, weil die Erben mit seinem
Vorgehen nicht ein-IE. ZivilreehtL Verhältnisse der Niedergelassenen
und Aufemhalter. N° 72. 493
derstanden seien. Zur Sache selber wird im wesentlichen
bemerkt: Wiewohl Witwe Siegrist die Erbfolge in ihrem Nachlass
aargauischein Recht unterstellt habe, so habe doch nach am. 23 BG
betr. zivilr. V. d. N. u. A. die Eröffnung der Erbschaft in Schaffhausen
als dem letzten Wohnsitz der Erblasserin und nach Schaffhauser Recht zu
erfolgen gehabt. Wenn auch nicht ganz abgeklärt sei, welche Kompetenzen
hieraus für die Behörden des letzten Wohnsitzes folgen, so erscheine doch
danach die Waisenbehörde Schaffhausen zu ihrem Vorgehen berechtigt. Nach
dem schaffh. Beschreibungsund Teilungsgesetz vom 25. Januar 1864 habe in
allen Todes-fällen die amtliche Jnventarisation stattzufinden Dabei sei
die Behörde verpflichtet, die Erbschaft bis zur Teilung gut Und sorgfältig
zu verwalten, und auch die Teilung und Liquidation der Erbschaft sei
von ihr zu besorgen. Neben den Funktionen der Waisenbehörde sei die
Tätigkeit eines Testamentsvollstreekers, wie sie in den Art. 1965 1967
PG vorgesehen fei, eigentlich überflüssig geworden. Immerhin seien
die Anträge eines solchen Testamentsvollftreckers über Verwaltung
oder Liquidatiou einzelner Vermögen-steile entgegenzunehmen und wenn
immer möglich zu berücksichtigen, und da nun vorliegend nach Erfüllung
der öffentlichen Zwecke (Nachund Erbschaftssieuern) für den Staat kein
weiterer Grund vorliege, dem Willen des Testators keine Folge zu gehen,
so stehe nichts im Wege, nach Feststellung der Erbschaft und der Erbteile
oder Vermächtnisse die weitere Liquidation dem bestellten Vertrauensmann
zu überlassen. Dagegen habe sich auch die Waisenbehörde nie gesperrt,
wie es überhaupt keineswegs ihr Bestreben sei, das Testament nicht zu
respektieren, sondern bloss, dasjenige Vorzukehrery wozu sie amtlich
verpflichtet sei. Zur Zeit sei nun noch nicht einmal die Jnventarisation
der Erbschaft vollendet. Es werde eine erhebliche Nachsieuer und
Steuerbusse vom Nachlass der Witwe Siegrist bezogen werden, und es
würden infolgedessen die Erbteile und wohl auch die Verinächtnisse zu
reduzieren sein. Erst nach Feststellung des Betrages der Erbteile und
Vermächtnisfe könnten dann auch die Erbschaftssteuern berechnet werden.
Alles dies könne nur von der schaffh. Behörde und nicht vom aargauischen
Testamentsvollstrecker besorgt werden, und es müsse selbstverständlich
geschehen, bevor dem Testamentsvollstrecker die
494 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. [I. Abschnitt. Bundesgesetze.
Erbschaft herausgegeben werde. Man könne doch dem Kenton Schafshausen
nicht zumuten, dass er nachträglich die Beträge der Nachstener und Bussen,
sowie der Erbschastssteuer bei den einzelnen Erben und Vermächtnisnehmern
im Kanton Aargau eintreibe. Auch gehöre zu einer rechts-kräftigen
Erbschaslsbeschreibung, dass sie von den Erben unterschriftlich anerkannt
sei. Das Waisengericht müsse daher vorerst die Beteiligten ausfindig
machen. Sodann sei das Testament noch nicht in Rechtskraft erwachsen,
undso lange dies nicht der Fall sei und nicht definitiv feststehe, wer
als Erben in Betracht komme, sei auch keine rechtskräftige Beschreibung
möglich.
Jn einer nachträglichen Eingabe hat das Waisengericht Schafshausen seinen
Standpunkt hinsichtlich der Mitwirkung des Testa- mentsvollstreckers
bei der Verwaltung der Erbschaft noch dahin präzisiert, dass derselbe
mündlich oder schriftlich Anträge oder Begehren stellen könne und dass
das Waisengericht allein oder in Verbindung mit dem Rekurrenten alle
die verlangten Handlungen vornehmen werde, sofern sie nicht gegen das
Gesetz oder die Jnteressen der Erben verstossen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: si
1. Der Reknrrent ist zur vorliegenden Beschwerde legitimiert Als
Testamentsvollstrecker ist er berechtigt und verpflichtet, den letzten
Willen des Erblassers zur Vollziehung zu bringen. Falls er sich hierin
durch Massnahmen von Behörden in bundesrechtswidriger Weise gehemmt
glaubt, muss er auch berechtigt sein, im Wege der staatsrechtlichen
Beschwerde dagegen den Schutz des Bundesgerichts anzurufen. sEiner
Vollmacht oder zustimmenden Erklärung der Erben bedarf er hier nicht,
weil feine Rechtsstellung als Testamentsvollstrecker nicht aus dem Willen
der Erben, sondern auf demjenigen des Erblassers beruht, wie er ja auch
den letztern unter Umständen gegen die Erben zur Geltung zu bringen hat.
2. Man könnte sich fragen, ob ein kantonaler Entscheid, wie er allein
durch staatsrechtlichen Rekurs angefochten werden fame, überhaupt
vorliegt (Art. 178 Biff. 1 QG). Wenn aber auch die Zuschrift des
Waisengerichts Schaffhansen an den Rekurrenten vom 31. Mai 1906 sich
äusserlich als blosse MeinungsäusserungI I. Zivilrecht}. Verhältnisse
der Niedergelassenen und Autenthalter. N° 72. 495
gibt und die Behörde es nachträglich abgelehnt hat, einen Rekurs hiegegen
anzunehmen, eben weil es sich um eine blosse Meinungsäusserung handle, so
liegt doch in jener Zuschrist zweifellos eine definitive und verbindliche
Stellungnahme des Waisengerichts gegenüber den Ansprüchen des Reknrrenten,
und es darf darin umso nnbedenklicher ein Entscheid (Verfügnng) nach
Art.178 Ziff. 1 leg. cit. erblickt werden, als das Waisengericht in der
Rekursantwort in dieser Beziehung keinerlei Einwand gegen die Beurteilung
des Falls durch das Bundesgerichi erhebt. Der Entscheid ist aber auch,
obgleich er von einer Gemeindebehörde ausgeht, ein kantonaler im Sinne
der genannten Bestimmung des OG (s. AS 31 I S. 241 Erw. 1).
Eine vorgängige Erschöpfung des kantonalen Jnstanzenzuges
ist bei Beschwerden wegen Verletzung des Bundesgesetzes Bett,
zivilr. V. d. N'. u. A. nicht erforderlich (AS 29 I S. 32 f.).
3. Mit dem Rekurse, der sich auf eine Verletzung von Art. 22 Abs. 2
BG betr. zivilr. B. d. N. u. A. als einzigen Beschwerdegrund stützt,
verlangt der Rekurrent, dass ihm vom Waisengericht der Nachlass der
Witwe Siegrist behufs Vollstreckung des Testaments aushingegeben
werde. Das Waisengericht widersetzt sich zur Zeit diesem Begehren,
erklärt sich aber bereit, nach Feststellung der Erbschaft, der Erbteile
und Vermächtnisse und nachdem die Steueransprüche von Schaffhausen
befriedigt oder sichergestellt find, die weitere Liquidation der
Erbschaft dem Rekurrenten als Testamentsdollslrecker zn überlassen und
ihm den Nachlass zu diesem Zwecke seiner Zeit auszuliefern. Ferner will
das Waisengericht jetzt schon dem Rekurrenten bei der Verwaltung des
Nachlasses und hinsichtlich der Liqnidation einzelner Vermögensstück
ein gewisses Recht der Mitwirkung einräumen Der Streit dreht sich somit
in keiner Weise um die Anwendung von Normen des materiellen Erbrechts,
sondern ausschliesslich um die formelle Behandlung des Nachlasses. Der
Rekurrent folgert ans Art. 22 Abs. 2 BG betr. zivilr. V. d. N. u. A.,
dass, nachdem die Erblasserin die Erbfolge in ihren Nachlass dem
Rechte ihres Heimatkantons Aargau unterstellt hatte, die auf den Erbgang
bezüglichen Bestimmungen des aargauischen Rechts nicht nur in materieller,
sondern auch in formeller Beziehung zur Anwendung zu kommen
496 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. [I. Abschnitt. Bundesgesetze.
haben und macht geltend, dass er vorliegend als Testamentsvokistrecker
nach aargauischem Recht die Befugnis habe, behufs Vollzugs des
letzten Willens der Erblasferin den Nachlass in Besitz zu nehmen und
zu liquidieren. Er bestreitet aber nicht, dass wenn für die formelle
Behandlung des Nachlasfes der Witwe Siegrist schaffhaufisches Recht
massgebend sein sollte, das Vorgehen des Waisengerichts gesetzmässig
ist. Jus-besondere behauptet er nicht, dass er als Testamentsvollstreeker
nach schaffhausischem Recht mehr Befugnisse hatte, als ihm vom
Waisengericht eingeräumt oder in Aussicht gestellt sind und dass etwa
in dieser Beziehung das Waisengericht sich einer Verfassungswidrigkeit
schuldig gemacht habe. Das Waisengericht dagegen steht auf dem Standpunkt,
dass Art. 22 Abs. 2 die formelle Nachlassbehandlung nach schaffhausischem
Recht nicht ausschliesst Die einzige durch das Bundesgericht zu lösende
interkantonale Rechtsfrage ist danach die, ob die seitens des Erblassers
nach Art. 22 Abs. 2 leg. cit. erfolgte Unterstellung der Erbfolge unter
Heimatrecht auch die formelle Nachlassbehandlung, wie sie hier im Streite
liegt, nach dein letztern, im Gegensatz zum Recht des letzten Domizils,
zur Folge hat, m. a. W. nach welchem Rechte es sich entscheidet, ob und
in welcher Weise die Behörden bei der Feststellung, Sicherung und der
Liquidation des Nachlasses mitzuwirken haben.
4. Die Tätigkeit der Behörden bei Behandlung einer Verlassenschaft
regelt sich formell nach öffentlichem Recht. Es ist daher von vornherein
ausgeschlossen, dass diese Tätigkeit in einem Kanton nach dem Rechte
eines andern Kantons sich vollziehen könnte, weil die Behörden stets
nur das öffentliche Recht des eigenen Staates zur Anwendung bringen
können. Auch wäre es praktisch meist schlechterdings unmöglich, hiebei
nach dem Rechte eines andern Kantons zu verfahren, weil der beidseitige
Behördenorganismus nicht übereinstimmt, indem z. B die Behörden,
die in einem Kant-on zur Mitwirkung berufen find, im andern gar nicht
existieren. Erklärt man deshalb in dieser Beziehung das Recht des Heimat:
oder des Domizilkantons als massgebend, so bedeutet dies nichts anderes,
als dass die formelle Nachlassbehandlung dem einen oder andern Kanton
zugewiesen wird, dass also die Behörden des einen oder andern Kantons
als hiefür zuständigEI. Zivilrechtl. Verhältnisse der Niedergelassenen
und Aufenthalter. N° 72. 497
bezeichnet werden (insofern natürlich nach den einzelnen Rechten
gemäss der konkreten Sachlage eine behördliche Mitwirkung vorgeschrieben
ist). Somit handelt es sich vor-liegend nicht datum, ob das Waisengericht
Schaffhausen bei der formellen Behandlung des Nachlasfes Siegrist nach den
Vorschriften des aargauischen Rechts zu verfahren und danach die Stellung
des Rekurrenten als Testamentsvollstreckers zu respektieren hatte, sondern
die Frage stellt sich so, ob das Waisengericht abgesehen etwa von den
ersten vsichernden Massnahmen überhaupt zuständig ist und eventuell in
welchem Umfang, sich mit dem Nachlasse zu befassen. Soweit hiebei seine
Kompetenz bejaht wird, steht zugleich fest, dass das Waisengericht die
nach schaffhausischem Recht ihm zustehenden Funktionen auch in Bezug
auf den Nachlass Siegrist ausüben hann, und welche Befugnisse für den
Rekurrenten als Testamentsvollstrecker verbleiben, ist hiebei nicht eine
Frage der Anwendung des BG bets. d. zivilr. V. d. N. u. er., sondern rein
des kantonalen schaffhaufischen Rechts, die vom Bundesgericht mangels
einer bezüglichen Beschwerde auch nicht weiter zu prüfen tft.
ö. Der Rekurrent scheint bei seiner Beschwerde Über-sehen zu haben,
dass nach Art. 23 BG die Eröffnung der Erbschaft stets
für die Gesamtheit des Vermögens am letzten Wohnsitz des Erb-
slassers erfolgt. Die Bestimmung gilt auch für den Fail, dass der
Erblasser nach Art. 22 Abs. 2 die Erbfolge in seinen Nachlass dem
Heimatrecht unterstellt hat. Auch hier sind also die Behörden des
letzten Wohnsitzes zur Mitwirkung bei der Erbschaftseröffnung berufen
(soweit eine solche Mitwirkung nach kantonalem Recht vorgesehen ist),
und sie können hiebei, was den Umfang ihrer Tätigkeit und das Verfahren
anbetrifft,·nach den Ausführungen
in Erwägung 4 nur das Recht des eigenen Kantons anwenden.
Fragt es sich sodann, was unter der Eröffnung der Erbschaft im Sinne des
Art. 23 zu verstehen tft, und welche allfälligen behördlichen Funktionen
darunter fallen, so leuchtet ein, dass damit nicht etwa bloss die
ersten sichernden Vorkehren unmittelbar nach dem Tod des Erblasfers, die
lediglich den bestehenden Zustand erhalten sollen und die schon nach der
Natur der Sache nur von den Wohnsitzbehörden vorgenommen werden können,
gemeint find. Vielmehr wider-spricht es keineswegs dem allgemeinen
und juristi-
498 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. H. Abschnitt. Bundesgesetze.
schen Sprachgebrauch, wenn unter Eröffnung der Erbschaft in einem etwas
weitern Sinn die Gesamtheit der Massregeln begriffen wird, die die
Sicherung der Verlassenschaft und des Erbgangs und auch den Vollng der
Erbfolge zum Zweck haben, d. E. die gesamte formelle Nachlassbehandlung:
die Jnventarisierung und Siegelung des Nachlasses, das Verfahren zur
Ermittlung der Erben, die interimistische Verwaltung und die Liauidation
des Nachlafses n. s. w. Und dass nun auch das Bandes-gesetz so auszulegen
ist, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Das Bundesgefetz steht für
die Regelung der interkantonaleu zivilrechtlichen Verhältnisse und
speziell für das Ekbeecht (ein. 22 Abs. 1) anf re... Standpunkt des
Wohnsitzprinzips Art. 22 Abs .2 bildet demgegenüber eine Konzesfion
san das Heimatsprinzip, die als Ausnahmebestimmumg nach allgemeinen
Juterpretationsregeln eher enge auszulegen isf, während anderseits
Art. 28, weil er das allgemeine Prinzip des Gesetzes für die Eröffnung
der Erbschaft zur Geltung bringt, unbedenklich in einem etwas weitern
Sinn verstanden werden darf. Schon aus diesem Grunde wird man nicht
leicht geneigt fein, dieErbfolge nach Art. 22 Abs. 2, die der Erblafser
dem Heimatrecbt unter-stellen darf, auch im Sinne der formellen
Nachlassbehandlung, die sehr wohl unter den Begriff der Eröffnung
der Erbschaft nach Art. 23 gebracht werden farm, aufzufassen. Während
sodann die dem Erblasser eingeräumte Fakultät, die (Erbfolge in seinen
Nachlass dem materiellen Recht des Heimatkantons zu unterstellen, ihre
unverkennbar-e Berechtigung in den tiefgreifenden Verschiedenheiten
der kantonalen Erbrechte finder, ist ein gleichwertiges Interesse des
Erblassers daran, dass entgegen dein sonst herrschenden Wohnsitzprinzip
auch die formelle Nachlassbehandlung nach Heimatrecht erfolge, nicht
ersichtlich. Auch die Form, in derdie Unterstellung der Erbfolge
unter das Heimatrecht zu geschehen hat letztwillige Verfügung oder
Erbvertrag spricht dafür, dass es sich dabei nur um eine Verfügung über
die materielle Regelung der Erbfolge und nicht zugleich auch um eine in
das Gebiet des öffentlichen Rechts eingreifende Disposition über deren
formellen Vollng handelt. Weiterhin ist zu beachten, dass nachArt. 23
unter allen Umständen, auch wenn man den Begriff der Erbschaftseröffnung
in einem engem Sinn auslegen wollte-,siik. Zivilrecht}. Verhältnisse
der Niedergelassenen und Aufenthalte-rN° 72. 499
so dass er etwa nur die Feststellung und Sicherung des Nachtasses und
nicht auch den Vollzug der Erbfolge umfassen würde, sein wesentlicher
Teil der formellen Nachlassbehandlung dem Wohnsitzkanton zufällt,
und dass nun nicht angenommen werden kaundas Bundesgesetz habe in
dieser Beziehung eine Teilung der Zuftändigkeiten, einen in einem
bestimmten Zeitpunkt eintretenden Äbergang der Nachlassbehandlung an
den Heimatkanton einführen wollen, zumal ein solches durch keinerlei
dringende Interessen gefordertes Verfahren offensichtlich erhebliche
praktische Bedenken gegen sich hätte und wegen der Nichtübereinftimmung
der bezüglichen kantonalen Vorschriften vielfach geradezu undurchführbar
ware. Endlich ist daran zu erinnern, dass Erbstreitigkeiten nach Arl. 2
BG dem Gerichts-stand des letzten Domizils des Erblassers auch in den
Fällen unterliegen, wo dieser die Erbfolge dem Heimatrecht unterstellt
hat. Hieraus darf wiederum ein Argument dafür gefolgert werden, dass
nach richtiger Auslegung des Gesetzes mit der Eröffnung der Erbschaft
die gesamte formelle NachIassbehandlung, auch wenn der Erblasser von
der Fakultät des Art. 22 Abs. 2 Gebrauch gemacht hat, dem Rechte und
eventuell den Behörden des Wohnsitzkantons zufällt. Wie im übrigen
die zuletztgenannte Bestimmung zu interpretieren ist, ob sie sich nur
auf die Berufung zur Erbfolge oder auch auf anderweitige erbrechtliche
Vorschriften mit materieller Wirkung z. B. die Antretung und Ausschlagung
der Erbschaft -bezieht, braucht hier nicht erörtert zu werden. Für
die Entscheidung des vorliegenden Rekurses genügt die Feststellung,
dass sie für die formelle Nachiassbehandlung nicht gilt. (S. Escher,
Jnterkantonales Privatrecht, S. 204 ff., 275 f., AS Bi) I S. 698 Erw. l.)
6. Aus diesen Ausführungen folgt, dass für die Eröffnung der Erbschaft
Siegrist und damit für die gesamte formelle Nachlassbehandlung das
Erbrecht von Schafshausen massgebend ist und dass somit das Vorgehen
des Waisengerichts Schaffhaufen, das in amtliche-: Jnventarisation,
Verwaltung und Vorbereitung der Liquidation des Nachlasses besteht und das
unbestrittenermaszen dem schaffhausischen Recht entspricht, nicht gegen
das Bandes-gesetz der-stösst Der Rekurs ist daher abzuweisen; immerhin
ist das -Waisengericht bei seinen Erklärungen über die dem Rekurrenten
500 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. II. Abschnitt. Bundesgesetze.
als Testamentsvollstrecker eingeräumte Mitwirkung bei der Ver-: waltung
und Liquidation des Vermögens und über dessen spätere-
Aushingabe an den Rekurrenten zu bebaften
Demnach hat das Bundesgericht " erkannt:
Der Rekurs wird abgewiesen Dabei wird die Rekursbeklagtes
bei ihren Erklärungen über die dem Rekurrenten als Testamentsvellstrecker
eingeräumte Mitwirkung bei der Verwaltung und Ltqutdation des
Vermögens und über dessen spätere Aushingabe an den Rekurrenten
behaftet. 'I. Uebergrifi' in das Gebiet der gesetzgebenden Gewalt. N°
?3. 50i
Dritter Abschnitt. Troisiéme section.
Kantonsversassungen.
Constitutions cantonales.I. Uebergrifl' in das Gebiet der gesetzgebenden
Gewalt. Empiétement
dans le domaine du pouvoir lègislatif.
73. Zweit vom 20. Heptember 1906 in Sachen Cahun gegen Regierungsrat
Thurgau.
Legitimation zum séa-atsrechèèichen Reign-rs} Art. i 78 Ziff. 2
OG. Anwendung eines neuen, angeblich nach nicht in Kmfl getretenen
Wirtschaftsgesetzes anstatt des alten Gesetzes. Thurg. Wirtschaftsgesetz
vom 20. Mai 1906, Art. 36; Art. 39 Zifl'. 2 thurg. KV.. Formefle and
materielle Rechtskraft der Gesetze.
A. Am 14. Mai 1906 wurde über Jakob Ensslin, Wirt zum. Döbeli
in Emmishofen, der Konkurs eröffnet. Die Wirtschaft wurde von der
Konkursvercvaltung einstweilen weitergeführt, wobei der Sohn Jean Enssxin
behülflich war. Unterm 18. Mai bewarb sich Bierbrauer Billwiller in St,
Galler dem die letzteHypothek auf der Liegenschaft zum Döbeli zustand,
beim Gemeinderat Emmishofen für fici), eventuell den Sohn Ensslin,
um. ein neues Wirtschaft-spannt auf der genannten Liegenschaft. Die
durch das Wirtschaftsgesetz von 1880 verlangten Belege wurden bis zum
23. Mai beigebracht. Am 20. Mai 1906 wurde im. Kanton Thurgau durch
Volksabftimmung ein neues Wirtschafts-