444 A. staats-rechtliche Entscheidungen. 1. Abschnitt. Bundesverfassung.

verbietet die über den Rahmen des kantonalen Prozessrerhtes
hinausnetende prozessuale Berücksichtigung Sdes Instituts der
Ve-rufuug, spezieki bezüglich dessen Einwirkung aus die Rechtskraft
des zur Berufung ver-stellten kaut-malen Urteils: die Herbeiziehung
auch der Bundesprozessnorm des Art. 65 OG zur Beurteilung des Begriffes
rechtskrästig in l§ 228 der solothurnischeu ZPO, denn die bundesrechtliche
Voraussetzung des ungestörten Bestandes des fraglichen kantonalen
Rechismisttels auch neben dem Rechismitiel der Berufung lässt die
vom Obergericht vertretene Annahme nicht zu, dass ein prozessualisches
Erfordernis jenes zufolge des gesetzlichen Suspensioefsektes der Berufung
nicht gegeben, die Geltendmachung des kantonalen Rechts-mittels also
gerade wegen der gleichzeitigen Benutzng des Rechtsmittels der Berufung
nicht zulässig sei. Es kann deshalb der § 223 der solothurnischen ZPO
in seiner Auslegung durch das Obergericht, wonach das Rechtsmittel des
neuen Rechtes in Verufungsfällen überhaupt ausgeschlossen sein soll,
gegenüber der bundesrechilichen Bestimmung des Art. 77 OG nicht zu Recht
bestehen. Demnach ist der angesochtene Entscheid des Obergerichtes,
weil der Rekurrentin in bundesrechtswidriger Weise ein gesetzliches
Rechtsmittel verschaliensd, im Sinne des Rekursbegehrens aufzuheben;
erkannt:

Der Rekurs wird guigeheissen und damit das Urteil des Obergerichtes
des Kantons Solothurn vom 30. März 1906 in der Meinung aufgehoben, dass
das Obergericht angewiesen wird, die Neurechtsklage der Rekurrentin zu
beurteilen. Bis zu deren Erledigung wird der Entscheid des Bundesgerichts
über die in Sachen pendente Berufung ausgesetzt.

Vergl. auch Nr. 73.

II. Doppeibesteuerung. Double imposition. Vergl. Nr. 74.[II. Verweigerung
und Entzug der Niederlassung. N° B?. 445

m. Verweigerung und Entzug der Niederlassung. Roms et retrait de
I'établissement.

67. guia: vom 4. Juli 1906 in Sachen Heinze: und Fraun gegen Regierunger
alti.

Recht auf Niedertàssungsbewmigung. Voraussetzung ist die Heere-see
wirklicher Niederlassung Beweislast.

A. Die Rekurrenten, die bisher in ihren Heimatgemeinden "Muotatal und
Jngenbohl wohnten, suchten beim Gemeinderat Eriifeld, Kanten Uri, um
die Bewilligung zur Niederlassung nach, indem sie je einen Heimatschein
und ein Leumuudszeugnis ihrer Heimatgemeinde, sowie eine Bescheinigung
der Witwe Dubs zur Krone in Ersifeld darüber, dass sie bei ihr je ein
Zimmer gemietet hätten, einlegten Der Gemeinderat Erstfeld bewilligte den
Rekurrenten die Niederlassung, dagegen entschied der Regierungsrat Uri
als Oberbehörde, dass auf die Gesuche der Rekurrenten nicht einzutreten
sei, wovon den letztern am 31. Mai 1906 Kenntnis gegeben wurde

B. Über diese Verfügung des Regierungsraies Uri haben die Refin-temete
den staatsrechtlichen Rekurs ans Bundesgericht ergriffen mit dem Antrag,
es sei dieselbe wegen Verletzung des Art. 45
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 45 Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes - 1 Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
1    Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
2    Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend über seine Vorhaben; er holt ihre Stellungnahmen ein, wenn ihre Interessen betroffen sind.
BV aufzuheben

C. Der Regierungsrat des Kantons Uri hat auf Abweisung des Rekurses
ungetragen und ausgeführt: Die Rekurreuten hielten sich zur Zeit gar
nicht im Kanten auf; ihr Niederlassungsgesuch sei nur deshalb abgewiesen
worden, weil die zu erwerbende Niederlassung nur eine Fiktion sei, die
den Rekurrenten den Erwerb des urnerischen Fischereipatentes ermöglichen
sollte, ohne dass sie tatsächlich ihre Niederlassung oder ihren Aufenthalt
aus dem Kamen Schwyz nach Uri verlegen wollten. Die Rekurrenien pflegten
jeweilen tagsüber dem Fischfang in den urnerischen Gewäfsern obzuliegen
und dann am Abend wieder zu ihren Familien nach Muotatal und Jngenbohl
zurückzukehren Sie hätten also in Wahrheit ihren Haushalt und ihr Domizil
ausserhalb des Kantons Uri. Falls die Rekurrenien ihr Domizil wirklich und

446 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

nicht bloss fiktiv in Uri nahmen, so würde ihnen die
Niederlassungsbewilligung ohne weiteres erteilt werden.

D. § 3 der urnerischen Vollziehungsverordnung zum Bundesgesetz über die
Fischerei lautet: Fischereipatente dürfen nur an Einwohner des Kantons,
einschliesslich fremde Pensionäre, welche das fünfzehnte Altersjahr
zurückgelegt haben und im Besitze des Aktivbürgerrechts sind, ausgestellt
werden

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Wie das Bundesgericht schon im Falle Betschart und Konsorten
gegen Uri (AS 25 I S. 332) ausgesprochen hat, sind Besitz
einer kantonalen Niederlassungsbewilligung und Niederlassung
nicht identisch. Die Niederlassungsbewilligung bildet bloss
den förmlichen kantonalpolizeilichen Aus-weis über das Recht
zur Niederlassung, während die eigentliche Niederlassung eine
örtlicheBeziehung zum betreffenden Kanton ein persönliches Verweilen des
Niedergelassenen am Niederlassungsort oder die Anlage oder Benutzung von
Geschäftseinrichtungen an diesem Orte unter seiner Verantwortlichkeit
voraussetzt (s. auch AS 31 I @. 579). Wenn nun auch aus dem durch Art. 45
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 45 Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes - 1 Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
1    Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
2    Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend über seine Vorhaben; er holt ihre Stellungnahmen ein, wenn ihre Interessen betroffen sind.

BV garantierten Recht auf Niederlassung ein Anspruch auf Erteilung der
kantonalen Niederlassungsbewilligung fliesst, so kann doch zweifellos nur
derjenige diesen Anspruch geltend machen, der die Absicht hat, sich im
Kauton niederzulassen, d. h. jenes feste örtliche Verhältnis zum Kanton
herzustellen Eine solche Einschränkung folgt aus der Natur der Sache;
auch ist irgend ein praktisches Bedürfnis dafür, dass an Personen,
welche die genannte Absicht nicht haben, Niederlassungsbewilligungen
verabfolgt werden sollten, nicht ersichtlich. Da aber die tatsächliche
Niederlassung dem Gesuch um Niederlassungsbewilligung nicht voranzugehen
braucht,und da dem Niederlassungsbewerber unmöglich zugemutet werden
kann, sich über seine Pläne und Intentionen vorerst auszuweisen, so
muss von vornherein die Vermutung gelten, dass die ernstliche Absicht
wirklicher Niederlassung vorliege, und es muss der Behörde, welche wegen
Mangels solcher Absicht die Niederlassungsbewilligung verweigerte will,
der Nachweis dafür obliegen, dass der Petent gar nicht vorhabe, in die
durch die Niederlassung vorausgesetzte örtliche Beziehung zum Kanton zu
treten, sondern höchstens ein Scheinverhältnis zur Umgebung irgendwelcher
Gesetzesvorschriften begründen molle.Ill. Verweigerung und Entzug der
Niederlassung. N° 67. 447

Vorliegend ist den Rekurrenten das Recht zur Niederlassung im Kamen
Uri nicht bestritten, sondern die Niederlassungsbewilligung wird ihnen
nur deshalb vom Regierungsrat vorenthalten, weil ihnen die Absicht
wirklicher Niederlassung fehle. Indessen kann der Nachweis für diesen
Mangel, der nach dem Gesagten die urnerischen Behörden trifft, und der
nicht leicht genommen werden darf, nicht als erbracht gelten. Dass die
Rekurrenten zur Zeit im Kanton Schwyz wohnen und sich nicht in Erstfeld
aufhalten, ist gleichgiltig, weil, wie bereits bemerkt, der Anspruch auf
Niederlassungsbewilligung nicht erfordert, dass die Niederlassung, die
übrigens mit dem zivilrechtlichen Wohnsitz durchaus nicht identisch ist,
tatsächlich bereits bestehe. Jener Umstand schliesst daher die Absicht
der Rekurrenten, sich in Uri, speziell in der Gemeinde Crstfeld,
niederzulassen, mit nichten auf. Und was den Einwand anbetrifft,
dass die Rekurrenten bloss den Tag über im Kanton Liri fischen, um am
Abend jeweilen zu ihren Familien in den Kanton Schwyz zurückzukehren,
so steht nicht fest, dass die Rekurrenten auch in Zukunft nach erteitter
Niederlassungsbewilligung so handeln werden, ganz abgesehen davon, dass
die Rekurrenten von Beruf Fischer sind und dass die Niederlassung auch
zum blossen Zwecke des Gewerbebetriebes und der Berufsausübung genommen
werden kann.

Stellt sich somit die angefochtene Verfügung des Regierungsrates von
Uri als Verftoss gegen Art. 45
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 45 Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes - 1 Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
1    Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
2    Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend über seine Vorhaben; er holt ihre Stellungnahmen ein, wenn ihre Interessen betroffen sind.
BV dar, so mag noch bemerkt werden,
dass die blosse Niederlassung in Uri oder gar der blosse Besitz einer
urnerischen Niederlassungsbewilligung noch keineswegs den Anspruch,
ein Fischereipatent lösen zu dürfen (g 3 der zit. faut. Verordnung),
zu begründen braucht. Vielmehr ist es eine Frage des kantonalen Rechts,P
was unter Kantonseinwohner im Sinne dieser Bestimmung zu verstehen ist,
ob hier der zwilrechtliche Wohnsitz im Kanton erforderlich ist, oder ob
eine Niederlassung ohne Wohnsitz genùgt.

Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Der Rekurs wird im Sinne der Erwägungen gutgeheissen und die angesochtene
Verfügung des Regierungsrates des Kantons Uri aufgehoben
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 32 I 445
Datum : 30. März 1906
Publiziert : 31. Dezember 1907
Quelle : Bundesgericht
Status : 32 I 445
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : 444 A. staats-rechtliche Entscheidungen. 1. Abschnitt. Bundesverfassung. verbietet


Gesetzesregister
BV: 45
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 45 Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes - 1 Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
1    Die Kantone wirken nach Massgabe der Bundesverfassung an der Willensbildung des Bundes mit, insbesondere an der Rechtsetzung.
2    Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend über seine Vorhaben; er holt ihre Stellungnahmen ein, wenn ihre Interessen betroffen sind.
OG: 65  77
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
uri • niederlassungsbewilligung • bundesgericht • regierungsrat • weiler • rechtsmittel • fischereipatent • bundesverfassung • kantonales recht • familie • gemeinderat • entscheid • bescheinigung • wohnsitz • solothurn • begründung des entscheids • voraussetzung • bewilligung oder genehmigung • niederlassungsfreiheit • fiktion
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