302 A. Staatsrechtliche
Entscheidungen. lll. Abschnitt. Kantonsverfassungem

halb angefochten, weil sie von einer administratioen statt von einer
gerichtlichen Behörde erlassen und aus diesem Grunde gesetzwidrig fei,
sondern ausschliesslich deshalb, weil sie überhaupt jeder gesetzlichen
Grundlage entbehre. Die Kognition des Bundesgerichts hat sich daher auf
diesen letztern Punkt zu beschränken.

3. Die einzige als gesetzliche Basis für die Verfügung vom 10. Januar
1905 angerufene und in Betracht kommende Gesetzesbestimmung ist §
129 Abs. 2 thurg PGB, welcher das Konkubinat verbietet. Denn wenn in §
250 thurg. SMB, vom 15. Juni 1841, der Ungehorsam gegen solche amtliche
Verfügungen, welche eine Strafandrohung enthalten, als strafrechtlich zu
beurteilendes Vergehen bezeichnet wird, so bezieht sich dies natürlich
nur auf gültige amtliche Verfügungen. Wo es sich also, wie hier, gerade
um die Frage handelt, ob eine bestimmte amtliche Verfügung Gültigkeit
beanspruchen könne oder nicht, ist aus der angeführten Bestimmung des
Strafgesetzes nichts abzuleiten. .

Dagegen enthält allerdings § 129 PGB die Vorschrift, dass in nichtiger
Ehe oder in Konkubinat zusammenlebende Personen von einander getrennt,
beziehungsweise bestraft werden fallen. Diese Bestimmung erscheint,
trotzdem sie in einem Civilgesetzbuch figuriert, als genügende
gesetzliche Grundlage für eine Verfügung, durch welche zwei in Konkubinat
zusammenlebenden Personen befohlen wird, ihr Zusammenleben aufzugeben.

Bei der angefochten-en Verfügung vom 10. Januar 1905 hanss

delt es sich nun aber nicht mehr bloss um das Verbot des Zusammeitlebens,
sondern um dasjenige jeden Betretens des Fatzerschen Hauses seitens der
Anna Gasser, unbekümmert um dessen Dauer und Zweck, so dass also jeder
einzelne, nach den gegebenen Umständen ganz unverdächtige Besuch als
ein strafbares Vergehen behandelt würde. Ein solches Verbot erscheint
nicht mehr als durch §-129 PGB gedeckt. Denn es ist Har, dass mit dem
blossen Betreten des Fatzerschen Hauses seitens der Rekurrentin Gassek
der Tatbestand des Konkubinats nicht gegeben ist. Ob aber und unter
welchen Voraussetzungen in Zukunft je nach dem weiteren Verhalten der
Rekurrentin begründeter Anlass zum Einschreiten der Behörden vorhanden
sein könnte, ist heute nicht zu entscheiden.2. Anderweitîge Eingriffe
in garantierte Rechte. N° 53. 303

Demnach hat das Bundesgericht erkannt: Der Rekurs wird in dem Sinne
begründet erklärt, dass das am 10. Januar 1905 an die Rekurrentin
Gasser gerichtete Verbot, das Hans des Rekurrenten Fatzer zu Betreten,
aufgehoben wird.

53. Eli-teil vom 25. Zllat 1905 in Sachen Dietrich gegen Grosser gear
Vaterstadt

Eingr-iff in das Gebiet der richterlichen Gewalt durch Ermächtigung zur
Expa-apriatioee zwecks Durchführung von Bauund Strassenlinden? Verletzung
des Eigentums eint-alt Verweigerung der sagen. Zonenexpropriation ? Z
5 EVO. Baselstadt; baselstädt. Ges. über die Anlegung u. Korrelation mm
Strasse-n, vom 13. Febr. 1902, spez. gig 13 u. 36.

Das Bundesgericht hat, da sich ergiebt:

A. Nach dem baselstädtischen Gesetz über die Anlegung und die Korrektion
von Strassen vom 13. Februar 1902 (EUR 13) ist die öffentliche Verwaltung
berechtigt und auf Verlangen des Erfordprinten verpflichten ausser dem
in die Strasse fallenden Boden diejenigen Restund Teilgrundstücke zu
übel-nehmen welche zufolge ihres geringen Flächeninhalts oder ihrer
Gestaltung zur selbständigen baulichen Verwertung nicht geeignet
find. Über diese Frage entscheidet die Expropriationskommifsion
nach freiem Ermessen; der Entscheid kann durch das Rechtsmittel
der Appellation ans Appellationsgericht weitergezogen werden
(C*-BO § 212). Die von der öffentlichen Verwaltung auf solche Weise
übernommenen Restund Teilgrundstücke können nach dem Verfahren der
sog. Jmpropriation den anstossenden Grundstücken zugeteilt werden.
Neben der gewöhnlichen Exproprialion stellt das genannte Gesetz das
Verfahren der sog. Zonenerpropriation auf, indem es (in EUR 36) bestimmt:
Für die Durchführung von Banlinien in bebauten Komplexen kann der Grosse
Rat, um die Schaffung günstigerer Bauplätze, besserer gesundheitlicher
Zustände oder

xxx1, t. _ 4903 20

304 A. Staatsrechthche
Entscheidungen. III. Abschnitt. Kantonsverfassungen.

grösserer feuerpolizeilicher Sicherheit zu bewirken,
die Zweiter-propriation beschliessen." Bei der Aufstellung des
Verteilungplans soll womöglich jedem beteiligten Grundeigeutümer eine
Parzelle zugeteilt werden, die nach Grösse, Lage und Frontausdehnung der
früheren verhältnismässig entspricht (EUR 40). Aus dem Flächeninhalt
Von Liegenschasten, welche die öffentliche Verwaltung schon vor dem
die Zonenexpropriation verfügenden Grossratsbeschluss als fiskalisches
Eigentum erworben hat, sowie aus dem Flächeninhalt impropriierter
Allmendsläche sind zunächst, soweit möglich, diejenigen Anteile von
Privateigentümern, welche das Mass von 120 m2 nicht erreichen, auf dieses
Mass zu ergänzen."

BspAm 9. Februar 1905 fasste der Grosse Rat des Kantons Baselstadt
betreffend die Korrektion der Ecke Marktplatz-Gerbergasse folgenden
Beschluss: Der Grosse Rat des Kantons Basel1tadt, auf den Antrag des
Regierungsrates, ermächtigt den Reg1erungsrat zur Durchführung der
Bauund Strassenlinien der Gerbergafse und des Marktplatzes auf den
Liegenschaften Gerber: gasse 1, 3 und 5 und Gerbergasse 7XMarktplatz 17
und bewilligt Dafür den erforderlichen Kredit von netto 230,000 Fr. auf
Pechnung der Jahre 1905 und 1906. Die vorstehende Ermächtigung umfasst
die Befugnis zur Durchführung des Erpropriationsverfahrens und zur
bestmöglichen Veräusserung der innerhalbder Strassenlinien gelegenen
Abschnitte der Allmend und der Liegenschaften Gerbergasse 1, 3 und
5. Die Rekurrenten sind Eigentumer der in diesem Beschlüsse genannten
Liegenschasten Gerber-. gasse 3 und 5, von denen nach Abzug des in
die Strasse fallenden Areals 17 ./cl und 20 i}2 mi, also zusammen 38
m2 verbleiben wurden, zu deren Weiterveräusserung der Regierungsrat
ermächtigt wird. Die Rekurrenten hatten eine Eingabe an den Grossen
Ratgerilchtet mit dem Begehren, es sei entweder für den ganzen Block
Frerestrasse-Marktplatz-Gerbergasse, oder wenigstens für den Teil an
der Gerbergasfe die Zonenerpropriaton vorzusehen.

C. Mit Rechtsschrift vom 3. April 1905 beschweren sich die Relnrrenten
über den erwähnten Grossratsbeschluss beim Bundesgericht als
verfassungswidrigen Eingriff in ihre Rechte als Eigentümer-. Es wird
ausgeführt, der angefochtene Beschluss desGrossen Rates dekretiere die
Erwerbung der nicht in die Strasse2. Anderweitige Eingriffe in garantierte
Rechte. N° 53. 305

fallenden Reftparzellen durch den Staat, obschon die Administrativbehörden
gar nicht kompetent seien, in dieser Beziehung über die Abtretungspflicht
endgültig zu entscheiden Auch habe der Regierungsrat bereits durch
Vertrag diese Restparzellen an einen Nachbar verkauft, wodurch die
Frage der Abtretungspflicht in unzulässiger Weise präjudiziert worden
sei. Dazu femme, dass im vorliegenden Falle nach der gesamten Sachlage
die Zonenexpropriation hätte angeordnet werden müssen, wenn nicht eine
Bergewaltigung der Rechte der Rekurrenten eintreten sollte. Ein Bauplatz
dürfe nur dann als ein zur Bebauung ungeeigneter im Sinne des § 13 des
Strassengesetzes behandelt werden, wenn auch die Zonenexpropriation
ihm nicht zu genügender Grösse und Gestaltung verhelfen würde, welche
Voraussetzung hier nicht zutreffe, wie des nähern darzutun versucht wird.

D. Namens des Grossen Rates des Kantons Baselftadt hat der Regierungsrat
auf Abweisuug des Reknrses angetragen. In der Begründung wird betont,
dass der Grosse Rat im angefochteneu Beschluss nicht die Erwerbung
und Weiterveräusserung der Restparzellen der Rekurrenten dekretiert,
sondern nur dem Regierungsrat die Ermächtigung erteilt habe, dieselben
auf dem Expropriationswege zu erwerben und wieder zu veräussern (behuss
Armudierung einer Nachbarparzelle). Der endgültige Entscheid über die
Abtretungspflicht stehe weder dem Grossen Rat, noch dem Regierungsrat,
sondern den richterlichen Behörden Erpropriationskommission Und eventuell
Appellationsgericht zu. Es bleibe daher den Rekurrenten anheimgestellt,
im Expropriationsverfahren den Nachweis zu erbringen, dass sich die
Restflächen ihrer Liegenschaften zu selbständigen baulichen Verwertungen
eignen würdenwobei es dann Sache der richterlichen Instanz sei, zu
entscheiden, ob die Voraussetzungen für Totalexpropriation vorliegen oder
nicht. In dieser Beziehung liege daher zur Zeit ein Anlass zu Beschwerde
nicht vor; --

in Erwägung:

1. Wie sich aus der Vernehmlassung des Regierungsrates mit aller
Deutlichkeit ergibt und übrigens wohl auch aus demallerdings in dieser
Beziehung nicht ganz klaren Wortlaut des an-

gesochtenen Grossratsbeschlusses zu schliessen war, wird durch dn

308 A. Staatsrechtliche
Entscheidungen. HI. Abschnitt. Kantonsverfassungen.

letztern nicht die Abtretungspflicht der Rekurrenten in Bezug auf
die Restslächen ihrer Liegenschasten ausgesprochen, sondern nur dem
Regierungsrat die Ermächtigung erteilt, diese Restflächen auf dein
Expropriationswege nach § 13 des Strassengesetzes zu erwerben. Falls die
Rekurrenten im Erpropriationsverfahren die Abtretungspflicht bestreiten,
so werden die richterlichen Behörden Erwopriationskommission und eventuell
als zweite Instanz das Appel-

lationsgericht hierüber entscheiden Darnach kann keine Rede si

davon sein, dass durch das angefochtene Deh-et der Entscheid über die
Abtretungspflicht den hier kompetenten Behörden entzogen oder dass durch
das Dekret oder durch einen vom Regierungsrat abgeschlossenen Vertrag der
Entscheid der richterlichen Behörden in unzulässiger Weise präjudiziert
worden sei, und es erweist sich somit der erste Beschwerdepunkt der
Rekurrenten von vornherein als unbegründet.

2. Was den zweiten Beschwerdepunkt, die Verweigerung der
Zonenexpropriation durch den Grossen Rat anbetrifst, so kann als verletzte
Versassungsnorm nur § 5 KSI} in Frage kommen, der bestimmt: Das Eigentum
soll vor willkürlicher Verletzung gesichert sein. Für Wtretungen, die der
allgemeine Nutzen erfordern sollte, ist nach gesetzlichen Bestimmungen
gerechte Entschädigung zuleisten- Nun behaupten die Reknrrenten und zwar
gewiss mit Recht nicht, dass die Bestimmung des § 13 des Strassengesetzes,
wonach ausser dem in die Strasse fallenden Boden diejenigen Restflächen
von Liegenschaften erpropriiert werden können, die wegen ihres geringen
Flächeninhalis oder wegen ihrer Gestaltung zur selbständigen baulichen
Verwertung nicht geeignet sind, mit dem angeführten Versassungsgrundsatz
nicht vereinbar sei, da ja in der Tat, wie in der Rekursantwort zutreffend
hervorgehoben ist, sowohl die Überbauung als das dauernde Brachliegen
solcher zu Bauzwecken ungeeigneter Teilgrundstücke in dicht- bebauten
und bevölkerten städtischen Quartieren dem öffentlichen Interesse
in gleicher Weise zuwiderläuft Der Rekurs macht lediglich geltend,
dass ein derartiges Verfahren von den administrativen Behörden nur dann
eingeleitet werden dürfe, wenn die Zonenexpropriation nicht geeignet sei,
dem betreffenden Bauplatz genügende Grösse und Gestalt zu verschaffen,
welche Voraussetzung2. Anderweitige Eingrika in garantierte Rechte. 1 °
53. 307

hier nicht zutreffe. Allein ein solcher Satz ist ldem Gesetze
schlechterdings nicht zu entnehmen. Aus § 36 ergibt sich vielmehr,
dass die Anordnung der Zonenexpropriation in das Ermessen "des
Grossen Rates gestellt ist und dass für den Entscheid hunger nicht,
wie die Rekurrenten dies beanspruchen, die lprivaten guteressen eines
einzelnen Grundeigentümers, sondern dle. allgemeinen öffentlichen
Interessen massgebend sein sollen: Von einer willkurlichen Anwendung
des Strassengesetzes auf die Rekurrenten kann daher keine Rede sein und
es kann bei dieser Sachlage die Frage unerörtert bleiben, ob in einer
willkürlichen Handhabung der gesetzlichen Bestimmungen über Erpropriation
wegen des damit verbundenen Eingriffs in das Eigentum eine willkurliche
Verletzung der letztern im Sinne des § 5 KV, aus welcheaneschwerdegrund
die Rekursschrift allein abstellt, erblickt werden konnte; erkannt:

Der Rekurs wird abgewiesen-
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 31 I 303
Datum : 01. Januar 1904
Publiziert : 31. Dezember 1905
Quelle : Bundesgericht
Status : 31 I 303
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : 302 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. lll. Abschnitt. Kantonsverfassungem halb


Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
regierungsrat • frage • eigentum • richterliche behörde • konkubinat • bundesgericht • entscheid • ermessen • mass • weiler • kantonsverfassung • dauer • nichtigkeit • rechtsmittel • gesetzmässigkeit • sachverhalt • kantonales rechtsmittel • grundstück • judikative • bruchteil
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