104 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. II. Abschnitt. Bundesgesetze.

Zweiter Abschnitt. Seconde section.

Bundesgesetze. Lois fédérales.

I. Auslieferung von Verbrechern und. Angeschuldig'ten. Extradition de
malfaiteurs et d'accusès.

13. guten vom 2. Februar 1905 in Sachen am; gegen Thier-gern

Art. 1_Abs. 2 Austfeferungs Ges. vom 24. Juni 1852. Auch wenn bereits
von einem Kanton ein Strafverfahren gegen den Angehörigen eines andern
Keins-Ins durchgeführt und ein Urteil erlassen ist, kann eteeser
(Heimats ) Kanton die Auslieferung verweigern unter der Be(img-meg,
das Strafverfahren selbe-r dmrhznfz'ihren..

A. Am 12. Februar 1904 verurteilte das Polizeigericht Von Vevey den
Robert Benker von Diessenhofen (Thurgau) wegen abus de confiance in
contumaciam zu drei Monaten Gefängnis. Nachdem sich infolge einer Anfrage
des thurgauischen Polizeibepartementes vom 16. August 1904 herausgestellt
hatte, dass Benker am 6. Juli 1903 wegen eines andern Deliktes im Kanton
Thurgau derhaftet und seither in eine thurgauische Arbeitsanstalt
ver-bracht worden war, stellte das Justizund Polizeidepartement des
Kantons Waadt an das Polizeidepartement des Kantons Thurgan das Gesnch um
Auslieferung des Venter. Als dieses Gesuch abschlägig beschieden wurde,
richtete der Staatsrat des Kantons Waadt ein Auslieferungsbegehren an
den Regie-I. Auslieferung von Verbrechem und Angeschuldîgten. N° 13. 105

rungsrat des Kantons Thurgau. Dieser antwortete am 23. September, Benker
protestiere gegen seine Auslieferung und behaupte-, unter Beteuerung
seiner Unschuld, von dem im Kanton Waadt gegen ihn eingeleiteten
Strafverfahren erst in jüngster Zeit Kenntnis erhalten zu haben. Die
Auslieferung werde deshalb abgelehnt, dagegen werde auf Verlangen des
Kantons Waadt die Übernahme des Strafverfahrens erklärt, falls Waadt
nicht vorziehe, ein neues Strafverfahren gegen Benker anzuordnen und ihm
dabei Gelegenheit zur Verteidigung zu geben. Am 4. Oktober schrieb der
Staatsrat des Kantons Waadt an den Regierungsrat des Kantons Thurgau,
es siehe Venier das Recht zu, eine neue Beurteilung (relief de son
fugement) zu verlangen, und es werde deshalb das Auslieferungsgesuch
erneuert. Der Regierungsrat des Kantons Thurgau antwortete hierauf
am 22. Oktober, er habe, da eine bestimmte Zusicherung, dass Benker
Gelegenheit zu seiner Verteidigung erhalten wet-de, nicht vorliege,
beschlossen, das Auslieferungsgesuch in Anwendung von Art. i Abs. 2 des
interkantonalen Auslieferungsgesetzes abzulehnen, dagegen die Übernahme
des Strafverfahrens gegen Benker wegen des ihm im Kamen Waadt zur Last
gelegten Vergehens durch die thurgauischen Behörden zu erklären und dein
Staatsrat des Kantons Waadt ein Urteilsrezess zuzusichern.

B. Mit Eingabe vom 11. November 1904 erklärt der Staatsrat des Kantons
Waadt, gegenüber der Weigerung des Kantons Thurgau an das Bundesgericht
zu rekurrieren. Der Rekurs werde damit begründet, dass das von Benker
begangene Vergehen in Art. 2 des Bundesgesetzes über die Auslieferung
von Verbrechern und Angeschuldigten vom 24. Juli 1852 vorgesehen und
dass das gegen Benker ergangene Urteil definitiv und vollziehbar sei.

C. In seiner Vernehmlassung beantragt der Regierungsrat des Kantons
Thurgau Abweisung der Beschwerde Seine Weigerung, den Benker auszuliefern,
beruhe auf Art. 1 Abs. 2 des Auslieferungsgesetzes Gestützt auf diese
Gesetzesbestimmung sei er ohne weiteres berechtigt, die Auslieferung
zu verweigern, Wenn er, wie er dies dem Staatsrat des Kantons Waadt
gegenüber getan habe, sich verpflichte, Benker nach den Gesetzen des
Kantons Thurgau beurteilen und bestrafen zu lassen. Der Kanten Thur-

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gan machet von der ihm nach dem Gesetz zustehenden Befugnis, die
Auslieferung zu verweigern, deshalb Gebrauch, weil der Regierungsrat
des Kantons Waadt ihm keine genügende Zusicherung daruber gegeben habe,
dass Benker in dem wieder auszunehmenden Verfahren Gelegenheit zur
Verteidigung erhalten werde.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung: '

1. Esosteht fest, dass Robert Benker, dessen Auslieferung verlangt wird,
im Kanton Waadt wegen eines der im Bundesgefetze uber die Auslieferung
von Verbrechern und Angeschuldigten vom 24. Juli 1852 vorgesehenen
Delikte verurteilt worden ist und dass somit Art. 1 dieses Gesetzes auf
den vorliegenden Fall Anwendung findet. Ebenso unbestritten ist aber,
dass Benker thurgauischer Kantonsbürger ist. Es greift daher die in
Absatz 2 des genannten Artikels aufgestellte Ausnahme Platz, wonach
ein Kantonqdie Auslieferung seiner eigenen Bürger verweigern kann,
wenn er sich verpflichtet, dieselben nach seinen Gesetzen beurteilen
und bestrafen, oder eine bereits über sie verhängte Strafe vollziehen
zu lassen-A

Z. Nun könnte es nach dem Wortlaut dieser letztern Gesetzesbestimmung
in Verbindung mit derjenigen von Absatz 1 desselben Artikels fraglich
erscheinen, ob hiemit dem requirierten Kantone tm Falle bereits
erfolgter Verurteilung die Wahl gegeben werden wollte, die verhängte
Strafe zu vollziehen oder die betreffende Person nach seinen eigenen
Gesetzen beurteilen und bestrafen zu lassen, oder ob nicht vielmehr
die in Absatz 2 aufgestellte Alternative Aburteilung und Bestrafung
nach den eigenen Gesetzen oder Pollng der bereits verhängten Strafe
der in Absatz 1 aufgestellten Alternative schwebende gerichtliche
Verfolgung oder bereits erfolgte Vernrteilung in dem Sinne entspreche,
dass derwequirierte Kanton, um sich von der Auslieferungspflicht zu
hen-men, im Falle schwebender gerichtlicher Verfolgung die Abnrteclung
und Bestrafung des Angeschuldigten nach seinen eigenen Gesetzen, im Falle
bereits erfolgter Verurteilung dagegen den Vollng der verhängten Strafe
anzubieten habe. Diese letztere, an "?) mit dem Wortlaut von Art. 1 des
Auslieferungsgesetzes vertragltche Interpretation hält indessen einer
nähern Prüfung nicht Stich. Denn der Grund, der nach Art. 1 Abs. 2
des Aus-

l. Auslieferung von Verbrechem und Angeschuldigbenss N° 13. 107

lieferungsgesetzes den requirierten Kanten von der Auslieferungspflicht
befreit, liegt in der Verschiedenheit der kantonalen Gesetzgebung auf dem
Gebiete des Strasrechts und Strafprozesses und trifft gegenüber einem
bereits gesällten Urteile in gleichem Masse zu, wie gegenüber einem
noch schwebenden gerichtlichen Verfahren. Daher kann dadurch, dass ein
Kanton seine Strafgerichtsbarkeit san Jemand ausdehnt, der sich unter
der territorialen Hoheit eines andern Kantons befindet, ohne letztern
zuvor zu begrüssen, dieser nicht des Rechts beraubt werden die Verfolgung
und Bestrafung feiner Angehörigen nach seinen Gesetzen zu übernehmen,
und es kann dadurch nicht bewirkt werden, dass der requirierte Kanten
nur noch zwischen Auslieferung und Vollziehung des auswärtigen Urteils zu
wählen hat; vielmehr kann er sich der Pflicht zur Auslieferung auch jetzt
noch dadurch entschlagen, dass er sich verpflichtet, den Betreffenden
nach seinen Gesetzen zu beurteilen und zu bestrafen. Vergl. Amtl
Samml. d. bundesg. Entschy Bd. XXV, 1. Teil, S. 34.8.

Jm vorliegenden Falle hat sich der Kanton Thurgau zu letzterem
verpflichtet, wovon Vormerkung genommen wird, und es ist somit die
Bedingung, unter welcher die Auslieferung verweigert werden konnte,
erfüllt.

Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Das Auslieferungsbegehren wird abgewiesen-
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 31 I 104
Datum : 02. Februar 1905
Publiziert : 31. Dezember 1905
Quelle : Bundesgericht
Status : 31 I 104
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : 104 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. II. Abschnitt. Bundesgesetze. Zweiter Abschnitt.


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