38 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. [I. Abschnitt. Bundesgeselze.

Zweiter Abschnitt. Seconde section.

Bundesgesetze. Lois iédérales.

M

I. Organisation der Bundesrechtspfleg'e.

Organisation judiciaire fédérale.

7. Urteil vom 3. März 1904 in Sachen Evangelische Ortsarmeupslegschaft
Romanshorn und Konsorten gegen Grossrat des Kantons Thurgau.

Raku-rs gegen einem Grossmtsbeschluss, der eine-n esegiermegsrcktlictoen
Entscheid (über Verwendîmg der Zinsen eines Kronfesstonelten
Orts-Mrge-rzzsiî'menfomis) in Ausiéòung des teiler-meinen Aufsichtsrechts
get-the-isst. Art. 178 Ziff. 1 OG: Verfügung oder Erlass ?

Das Bundesgericht hat, da sich ergeben:

A. Im Jahre 1900 fasste der Regierungsrat des Kantons Thurgau, veranlasst
durch eine Beschwerde der Stadtarmeupflegschast Frauenseld gegen eine
entsprechende Weisung des kantonalen Armendepartements, folgenden
grundsätzlichen Beschluss:

Aus den Zinsen seines konfessionellen Ortsbürgerarmenfonds darf nicht
der aus die Kircheinwohner der betreffenden Ortsgemeinde fallende Teil
der sogenannten ersten Hälfte des Defizits der Kirchspielarmenrechnung
gedeckt werden, sondern es sind die Zinsen zu verwenden:

a) in erster Linie zur Deckung des aus die Ortsgemeinde alsl. Organisation
der Bundesrechtspflege. N° 7. 39

gsolche fallenden Betreffnisses an der sogenannten zweiten Hälfte der
Kirchspielarmenrechnungz

b) eventuell, d. h. beim Wegfall oder nach Erfüllung der unter lit. &
erwähnten Leistung entweder zur direkten Nüchtergütung der durch
den Kirchspielarmenfonds für Bürger der betresfenden Ortsgemeinde und
Konfession geleisteten Unterstützungen, oder zur direkten Unterstützung
armer Bürger der betreffenden Ortsgemeinde und Konsession.

Dieser Beschluss wurde in den regierungsrätlichen Rechenschaftsbericht
pro 1900 aufgenommen. Bei Beratung dieses letzteren durch den Grossen Rat
aber wurde er beanstandet und deshalb einer grossrätlichen Kommission
zur Berichterstattung überwiesen. In seiner Sitzung vom 10. März 1903
nahm der Grosse Rat den Antrag der Mehrheit dieser Kommission aus:
Gutheissung des sachhezüglichen grundsätzlichen Entscheides (sc. des
Regierungsrates) im vollen Umfange mit grosser Mehrheit an.

B. Gegen den Vor-stehenden Beschluss des Grossen Rates, welcher im
kantonalen Amtsblatt am 21. März 1903 publiziert wurde, ergriff Advokat
Dr. T. Sandmeier in Frauenseld namens der evangelischen Armenpflegschaft
Romanshorn, ze. (folgt Aufzählung, die hier unerheblich) rechtzeitig
den staatsrechtlichen Rekurs an das Bundesgericht mit dem Antrag,
jener Beschluss sei als verfassungswidrig aufzuheben Zur Begründung
wird geltend gemacht und näher ausgeführt, lit. b des vom Grossen Rate
bestätigten Regierungsbeschlusses stehe in offenbarem Widerspruch mit
dem Wortlaut und der bisherigen Auslegung der § 18 und 19 des kantonalen
Armengesetzes vom 15. April 1861. Dadurch würden in Verletzung des § 47 KV
die Orts-armensonds ihrer gesetzlichen Bestimmung entfremdet, und ferner
die Bürger der Ortsgemeinden mit solchen Fonds in ihren Urteilsrechten
an den Kirchspielsarmenfonds beeinträchtigt und dadurch in ihren Rechten
gegenüber den übrigen Anteilhabern der Kirchspielsarmenfonds hintangesetzt
in Verletzung der § 11 erster Satz und § 8 KV. Hieraus ergebe sich die
Rekurslegitirnation aller Neknrrenten.

C. Der Grosse Rat des Kantons Thurgau wendet dem Rekurse gegenüber ein,
sein angesochtener Beschluss vom 10. März

40 A. Staatsreuhtiiche Entscheidungen. H. Abschmtt. Bundesgesetzes.

1903 bedeute nicht eine oberinstanzliche Bestätigung des inhaltlich
streitigen Regierungsbeschlusses aus dem Jahre 1900, oder eine
authentische Gesetzesinterpretation, sondern lediglich eine in
Ausübung des dem Grossen Rat nach § 36 lit. l der KV zustehenden
allgemeinen Aussichtsrechtes ausgesprochene Gutheissung jenes
Regierungsbeschlusses; denn nach thurgauischem Staatsrecht habe der
Grosse Rat wie er schon in seiner Nekursantwort an das Bundesgericht
in Sachen des landwirtschaftlichen Bezirksvereins Kreuzlingen vom 21·
März 1902 eingehend dargetan habe nicht die Kompetenz, Beschlüsse des
Regierungsrates als Staatsgerichtshof oder Rekursinstanz direkt zu
bestätigen oder aufzuheben, sondern nur als Aufsichtsbehörde seine
Billigung oder Missbillignng derselben auszudrücken Dieser Akt aber
habe nicht verbindlichen Charakter; es liege darin weder eine allgemein
verbindliche, noch eine persönliche Verfügung im Sinne des Art. 178
OG. Somit sei der Rekurs formell unstatthaft; eventuell sei er auch
materiell unbegründet. Es werde deshalb Abweisung desselben beantragt.

D. In ihrer Replik anerkennen die Rekurrenten die Richtigkeit der
Ausführungen der Rekursantwort über die staats-rechtliche Natur des
angefochtenen Grossratsbeschlusses; sie bestreiten aber, dass diesem
deswegen der Charakter der Verfügung im Sinne des Art. 178 OG abgehe, weil
der ihm zu Grunde liegende Regierungsbeschluss erst durch die Sanktion des
Grossen Rates allgemeine Verbindlichkeit erlangt habe, indem derselbe erst
in Zukunft, gestützt auf diese Sanktion, allgemein angewendet würde; --

in Erwägung:

Der Beschluss des thurganischen Grossen Rates vom 10. März 1903, gegen
den allein der vorliegende Reknrs gerichtet ist und nach dem Zeitpunkt
seiner Einreichung allein gerichtet sein kann, qualifiziert sich wie die
Rekurrenien selbst zugeben als eine vom Grossen Rat in der ihm durch
§ 38 lit. 1 der Verfassung zugewiesenen Funktion der Ueberwachung des
Geschäftsganges aller Behörden und Gerichte ausgesprochene Gutheissung der
sachlich streitigen Schlussnahme des Regierungsrates vom Jahre 1900. Es
handelt sich somit dabei um einen rein administrativen Akt, welcher die
ihm zu Grunde liegende Schlussnahmes des Regierungsrates nicht etwa mit
neuer rechtlicher Anktorität!. Organisation der Bundesrechtspflege. N°
8. 41

versieht, sondern vielmehr lediglich als rechtlich unverbindliche,
wenn auch faktisch für den Regierungsrat bedeutsame Meinungsäusserung
des Grossen Rates über die in jener Schlussnahme enthaltene Anordnung
und Rechtsauffassung erscheint. Hierin aber kann, wie auch der Grosse
Rat anzunehmen scheint, eine Verfügung oder ein Es-lass im Sinne des
Art. 178 OG nicht gefunden werden; denn das Charakteristische dieser Akte
ist eine bestimmte, für einen einzelnen Fall, oder allgemein rechtlich
verbindliche Weisung, ein Dispositiv im Rechtssinne. Ein solches liegt
jedoch hier nicht vor. Der fragliche Beschluss des Grossen Rates hat
unzweifelhaft nicht dispositiven, sondern lediglich deklaratorischen
Charakter. Demnach kann er, dem cit. Art. 178 OG gemäss, nicht Gegenstand
eines staatsrechtlichen Rekurses bilden. Dieser wäre vielmehr nur direkt
gegen den grundsätzlichen Beschluss des Regierungsrates vom Jahre 1900
zulässig gewesen und ist natürlich auch noch zulässig gegen zukünftige
Regierungsbeschlüsse, welche die streitige Rechtsansfassung im konkreten
Falle zur Anwendung bringen werden. Folglich ist der vorliegende Rekurs
als unstatthaft von der Hand zu weisen; --

erkannt: Auf den Rekurs wird nicht eingetreten.

8. Urteil vom 28. März 1904 in Sachen Baratelli gegen Kleinen Rat des
Kantons Graubünden.

Kompetenz des Bemdesgerichtes als Staatsge-raichtskof. {Verèeîzung des
Ari. 4 Fabw Ges. und Art. 8 Haftpflichtgesetz non1887.)

Das Bundesgericht hat,

nach Einsicht der Beschwerde des Adolf Baratelli über den Entscheid des
Kleinen Rates des Kantons Graubünden vom 12. Januar 1904, durch welchen
der Veschwerdesiihrer pflichtig erklärt wird, die Anzeige betreffend den
Unfall des J. Platter vom 10. Juni 1901 aus vorgeschriebenem Formular zu
erstatten, und zwar innerhalb einer Frist von 8 Tagen von der Mitteilung
an, unter der Androhung von Busse; -
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 30 I 38
Datum : 03. März 1904
Publiziert : 31. Dezember 1904
Quelle : Bundesgericht
Status : 30 I 38
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : 38 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. [I. Abschnitt. Bundesgeselze. Zweiter Abschnitt.


Gesetzesregister
OG: 178
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
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