46 A. Staatèrechtliche
Entscheidungen. III. Abschnitt. Kantonsverfassungen.

Artikel geschaffene Abgabe qualifiziere sich als Ausnahmefteuer, welche
gegen den Grundsatz der Rechtsgleichheit (Art. 2 Si.-B. und Art. 4
B.-V.) verstosse, ohne weiteres dahin. Denn dass diese Abgabe bei ihrer
Eigenschaft als Gebühr nicht von allen Vermögen, sondern nur von den
vormundschaftlich verwalteteryf erhoben wird, erklärt sich aus der Natur
der Sache; die Gleichheit in der Behandlung innerhalb dieser einzelnen
Kategorie von Vermögen aber liegt, wie der Rekursbeklagte zutreffend
ausführt, in der Proportionalität der Gebühr zum Vermögensbetrag Erscheint
somit die Anfechtung der Gebührenordnung vom 17-. Juni 1901 als in
allen Teilen unbegründet, so ist implicite auch der Angriff auf deren
Anwendung im vorliegenden Falle widerlegt. Daraus folgt die Abweisung
beider Rekursbegehren.

Demnach hat das Bundesgericht erkannt: Der Rekurs wird abgewiesen.

II. Anderweitige Eingrifl'e in garantierte Rechte; Atteintes portèes à
d'autres droits garantis.

10. Urteil vom 28. Januar 1903 in Sachen Sozialdemokratische Fraktion
des Grossen Rates des Kantons Bern gegen Grossrat Bern.

Yerfassungsbestimmang deine-few angemessene Rücksichtnahme auf die
Minderheiten bei Bestellung des Bei-renne ums inder Kommission des
Grossen Rates. Art. 26 Ziff. 19 ber-n. Is.-V. ; Art, M Abs. 4, Art. 33
des Reglements für den Gr. Rat des Kantons Bern vom

20. Mai 1901.

A. Am 16. September 1902 reichte Fürsprech Albrecht in Biel als Sekretär
der sozialdemokratischen Fraktion des bernischen Grossen Rates dem
Bundesgerichte eine von ihm und zehn andern, ebenfalls der genannten
Fraktion angehörenden Mitgliedern des Grossen Rates unterschriebene
Beschwerde ein, in der beantragtIl. Anderweitige Eingriffe in garantierte
Rechte. N° 10. 47

wird: Es sei die vom Grossen Rat des Kantons Ver-n am 30. Juli 1902
vorgenommene Wahl des Grossrates Gottfried Rnfener in die Justizkommission
des beruischen Grossen Rates zu kassieren und es sei diese Behörde
anzuweisen, bei Besetzung der vakanten Justizkommissionsstelle gemäss
Kantonsverfassung und Grossratsreglement vom 20. Mai 1901 zu progredieren.

Jn tatsächlicher Beziehung wurde in der Beschwerdeschrift angebracht:
Jm Frühjahr 1902 habe die ordentliche Gesamterneuerung des bernischen
Grossen Rates stattgefunden, wie solche alle vier Jahre gemäss Art. 21
der bernischen Staatsverfassung zu erfolgen habe. Der nengewähite Grosse
Rat des Kantons Bem sei zum ersten Mal am 2. Juli 1902 zusammengetreten,
um nach Art. 7 und 25 des Reglements für den Grossen Rat zu seiner
Konstituierung und zur Wahl des Regierungsrates und der ständigen
Kommissionen zu schreiten. Nach Art. 28 Schlussalinea derbem.
Kantonsverfassnng und nach Art. 33 des Grossrats-Reglements sei
bei Bestellung des Bureaus und der Kommissionen auf die Vertretung
der Minderheit-en angemessene Rücksicht zu nehmen. Eine solche
Minderheit bilde die sozialdemokratische Fraktion des Grossen Rates,
bestehend ans 16 -Mitgliedern. Nach Vorschrift der Verfassung und des
citierten Grossrats-Reglements müsse diese Fraktion bei Besetznng der
Kommissionen gebührend berücksichtigt werden. Dieser Vorschrift sei
der Grosse Rat bei Bestellung der Justizkommission in derSitzung vom
8. Juni 1902 nachgekommen, indem er den Grossrat Scherz, Armensekretär
in Bern, Mitglied der sozialdemokratischen Grossratsfraktion, in die
Justizkommission wählte. Nach seiner Wahl in die Justizkommission sei
Grossrat Scherz auch bestätigt worden als Mitglied

a) der Kommission betreffend das Gesetz über die Sonntagsruhe;

b) der Kommission betreffend Dekret über das Bestattnngswesen. Gestützt
aus Art. 32 Alinea 2 des Grossrats-Reglementes habe Grossrat Scherz
schriftlich seine Demission als Mitglied der Justizkommission
erklärt. Am 30. Juli 1902 sei der Grosse Rat zur Neubesetzung der
infolge der Demission des Grossratss Scherz vakant gewordenen Stelle in
der Justizkommission geschritten Die sozialdemokratische Fraktion des
Grossen Rates als Minderheit,

48 A. Staatsrechtliche
Entscheidungen. lll. Abschnitt. Kantonsverfassungen.

welcher diese Stelle gemäss Verfassung und Grossvats:lieglement zugekommen
sei, habe mit Schreiben vom 29. Juli 1902 den Präsidenten der übrigen
politischen Fraktionen mitgeteilt, sie bringe als Kandidaten für die
zu besetzende Stelle am Platze ihres zu ersetzenden Fraktionsgenossen
Grossrat Z'graggen in Bern in Vorschlag, welcher ebenfalls Mitglied
der sozialdemokratischen Grossvatsfraktion sei. Der Grosse Rat habe
hierauf auf Vorschlag der Majoritätspartei den Grossrat G. Rufener als
siebentes Mitglied der Justizkomtnission gewählt. Grossrat Rufener gehöre
der sozialdemokratischen Fraktion nicht an, sondern sei Mitglied der
freisinnigen Fraktion des Grossen Rates, welche in der Justizkommission
mit bereits 5 Mitgliedern vertreten sei.

Jn rechtlicher Beziehung wird ausgeführt: Durch die Nicht-

berücksichtigung der sozialdemokratischen Fraktion bei der Bestellung

der Justizkommission sei der Grundsatz der Proportionalvertretung,
wie er in Art. 26 Ziff. 19 der bernischen Kantonsverfassung und den in
Ausführung dieser Bestimmung erlassenen Vorschriften in Art. 11 Alinea
4 und Art. 33 des Reglements für den Grossen Rat des Kantons Bem vom
20. Mai 1901 seinen Ausdruck gefunden babe, verletzt. Die angeführten
Bestimmungen, die für die ständigen und für die besondern Kommissionen
gelten, seien zwingender Natur, wie sich aus dem Text ohne weiteres
ergebe. Der Grosse Rat könne demgemäss nicht darüber Beschluss fassen,
ob grundsätzlich eine Minderheit in einer Kommission vertreten sein
müsse oder nicht, sondern es stehe ihm nur der Entscheid darüber zu,
ob die Vertretung eine der Minderheit angemessene sei oder nicht. Da
im Zeitpunkt der Wahl des Grossrats Rufener in die Justizkommisston
in dieser nur ein Sitz frei und da die sozialdemokratische Partei
darin noch nicht vertreten gewesen sei, habe sie auf diesen Sitz, als
Minimum einer Vertretung, einen verfassungsmässigen Anspruch gehabt;
und die Wahl eines Nichtsozialdemokraten an diese Stelle sei eine
Verfassungsverletzung Art. 26 Ziffer 19 der bernischen Verfassung spreche
allerdings nur von Vertretung der Minderheit (Einzahl), während Art. 33
des Grossrats-Reglementes von Vertretung der Minderheiten (Mehrzahl)
spreche. Die Verfassung habe aber offenbar nicht nur einer Minderheit eine
verhältnismässige Vertretung zusichern wol-II. Anderweitige Bing-riffa
in garantierte Rechte. N° 10. 49

len, sondern allen politisch organisierten und als solche austretenden
Minderheitsparteien, wie dies dann im Grossvats-Reglemeut ausgesprochen
sei. Eine solche Minderheit bilde auch die sozialdemokratische
Grossrats-Fraktion als Repräsentantin einer lebenssähigen, politisch
organisierten Minderheitspartei. Durch die Wahl des Grossrats Scherz in
die Justizkommission habe die Mehrheit sdes Grossen Rates den Anspruch
dieser Fraktion auf Vertretung auch anerkannt. Wenn sie nach der Demission
desselben der Frattion keine Vertretung gewährt habe, so enthalte diese
Jnkonseqnenz eine Verfassungsverletzung

B. Der Grosse Rat des Kantons Bern hat seine WahlaktenPrüfungskommission
mit der Beantwortung des Rekurses beanstragt. In der Vernehmlassung
stellt diese die Anträge: Es habe das Bundesgericht auf den Rekurs
der Rekurrenten wegen Jnkompetenz nicht einzutreten. Eventuell: Es
seien die Rekurrenten mit ihrem Begehren um Kassation der am 30. Juli
1902 vorgenommenen Wahl des Grossrates Gottfried Rufener in die
.Justizkotnmission des bernischen Grossen Rates abzuweisen

Jn tatsächlicher Beziehung wird zunächst bemerkt: Der aus 235
Mitgliedern bestehende Grosse Rat habe bei der am 3. Juni 1902
vorgenommenen Bestellung des aus 8 Mitgliedern bestehenden Bureaus und
der ständigen Kommissionen, von denen die WahlaktewPrüfungskommission 5,
die Justizkommission ? und die Staatswirtschafts-Kommission 9 Mitglieder
zähle, auf die Wünsche der sozialdemokratischen Fraktion insofern
Rücksicht genommen, als er in das Bureau und in jede der genannten
Kommissionen ein Mitglied derselben gewählt habe. Allerdings habe sser
sich dabei hinsichtlich der Personen nicht überall an die Vorschläge
der sozialdemokratischen Fraktion gehalten. Er sei hteran auch nicht
gebunden gewesen, indem er sich nicht durch einen Vorschlag in seinem
Wahlrecht beschränken zu lassen brauche. Auch in den im Juni und Juli
1902 bestellten 12 besondern Kommissionen von 7 11 Mitgliedern, ausser
in dertdreikopftgen Militärkommission, sei die sozialdemokratische
Fraktion ' mit je einem oder zwei Mitgliedern vertreten. Im Bureau Und
In samtlichen im Juli 1902 bestellten Kommissionen nehme die ans 16
Mitgliedern bestehende sozialdemokratische Partei 17 Sitze em.

xxxx, !. 1903 4

50 A. Staatsrechtliche
Entscheidungen. III. Abschnitt. Kantousversassungen.

Sodann werden die Gründe auseinandergesetzt, weshalb bei der durch
die Demission des Grossrats Scherz in die Justizkommission notwendig
gewordenen Wiederbesetznng der siebenten Stelle derVorschlag der
sozialdemokratischen Fraktion, der auf ihr Mitglied Grossrat Z'graggen
ging, nicht berücksichtigt worden sei. Die in der

Bernehmlassung vorerst erhobene Jnkompetenzeinrede stützt sich der-

auf am. 189 Abs. 4 B.-G. über die Organisation der Bundes-

rechtspflege. In zweiter Linie wird den Rekurrenten die Einrede

mangelnder Aktivlegitimation entgegengehalten, die unter Verweisuug aus
Art. 178 Biff. 2 l. c. und den Reichelschen Kommentar dazu damit begründet
wird, dass die sozialdemokratische Fraktion als solche keine juristische
Person und dass eine Rechtsverletzung den einzelnen Mitgliedern der
Fraktion gegenüber nicht behauptet und nicht bewiesen sei. Materiell wird
auf Grund desWortlautes und der Entstehungsgeschichte der Bestimmung von
Art. 26 Biff. 19 der Kantonsverfassung darauf abgestellt, dass der Sinn
derselben nicht der sei, dass die Minderheit einen An-

spruch auf proportionale Vertretung habe, sondern nur der, dass: ·

ihr eine angemessene Rücksichtnahme zugesichert sei, die sich allerdings
auf ständige und besondere Kommissionen beziehe. Aus den: tatsächlichen
Anbringen gehe nun hervor, dass die sozialdemokratische Fraktion,
die nur einen Fünfzehntel des Grossen Rates ausmache, im Bureau und
in den Kommissionen viel stärker vertreten sei, als sie es selbst bei
Proportionaler Vertretung Verlangen dürfte, indem sie im Ganzen mehr als
den achten Teil der Sitzeeinnehme. Die Klage, sie sei nicht angemessen
berucksichtigt, weil sie in der siebengliedrigen Justizkommission nicht
vertreten sei, erweise sich somit als grundlos. Unbegründet sei der Rekurs
auch deshalb, weil die sozialdemokratische Fraktion tatsachlich in der
Justizkommission vertreten gewesen und es durch ihr eigenesVerschulden,
durch die Demission von Grossrat Scherz, die regte-: mentswidrig gewesen,
nicht mehr sei. Entschieden abzulehnen sei die Auffassung der Rekurrenten,
es stehe der sozialdemokratischen Fraktion das Recht zu, die Wahl einer
bestimmten Person zu; verlangen, da Wahl-behörde nicht die Fraktion,
sondern das Plenum des Grossen Rates sei.

C. Die Reknrrenten haben das nämliche Rekursbegehren mitgleicher
Begründung auch beim Bundesrate gestellt. Über dieH. Anderweîtige
singt-jäh in garantierte Rechte. N° 10. 51

Kompetenzfrage fand zwischen diesem und dem Bundesgericht nach
Anweisung von Art. 194 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Organisation
der Bundesrechtspslege ein Meinungsaustausch statt. Beide Behörden
fanden, Art. 189 Alinea 41. c., der für Beschwerden betreffend die
politische Stimmberechtigung der Bürger und betreffend kantonale
Wahlen und Abstimmungen die Kompetenz dem Bundesrate und eventuell
der Bundesversammlung vorbehalt, beziehe sich nur auf Volkswahlen
und -abstimmungen, treffe also auf den vorliegenden Fall nicht
zu. Dementsprechend hat dann der Bundesrat am 4. Dezember 1902
beschlossen, auf die Beschwerde werde wegen Jnkompetenz nicht eingetreten.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Die vom Grossen Rate erhobene Einrede der Jnkompetenz des
Bundesgerichts ist durch den Meinungsaustausch zwischen Bundesrat und
Bundesgericht, und durch den Beschluss des Bundesrates vom 4. Dezember
1902, der auch die Auffassung des Bundesgerichts wiedergiebt, und auf
den deshalb hier verwiesen wird, erledigt.

2. Die Bestimmung des Art. 38 des Reglementes für den Grossen Rat
des Kantons Bern: Bei Bestellung der Kommiss"ionen hat die Wahlbehörde
jeweilen auf Vertretung der Minderheiten angemessene Rücksicht zu nehmen,
enthält, soweit es die Kommissionen betrifft, lediglich die Ausführung
der Bestimmung in Art. 26 Biff. 19 der bernischen Kantonsverfafsung:
Durch das Geschäftsreglement ist dafür zu sorgen, dass bei Bestellung des
Bureaus und der Kommission-en auf Vertretung der Minderheit angemessene
Rücksicht genommen wird. Die Beschwerde wegen Verletzung von Art. 33 des
Grossrats-Reglements hat danach keine selbständige Bedeutung, sondern
deckt sich mit derjenigen wegen Verletzung von Art. 26 Ziff. 19 ber
Verfassung. Dass hier nur von der Minderheit, nicht von Minderheiten
die Rede ist, farm, wie der Grosse Rat zugiebt, nicht dahin gedeutet
werden, dass nur eine Minderheit zu berücksichtigen sei. Und dagegen,
dass der soziademokratischen Fraktion des Grossen Rates der Charakter
einer Minderheit im Sinne der genannten Verfassungsbestimmung zukomme,
ist, mit Recht, keine Einwendung erhoben worden.

3. Ob durch Art. 26 Ziff. 19 den Minderheiten eine Rechts-

52 A. Staatsrechtliche
Entscheidungen. II}. Abschnitt. Kantonsverfassungen.

stellung eingeräumt werden wollte, auf deren Wahrung den Be-

teiligten ein auf dem Wege des staatsrechtlichen Rekurses verfong

bares subjektives Recht zusteht, und wer unter dieser Annahme als
berechtigt anzusehen ist sich zu beschweren, beziehungsweise, ob im
vorliegenden Falle die Rekurrenten zur Beschwerde aktiv legitimeirt
seien, kann unerörtert bleiben. Denn der Rekurs muss unter allen
Umständen deshalb abgewiesen werden, weil, objektiv betrachtet, eine
Verfassungsverletzung nicht vorliegt.

é. Wenn freilich der Grosse Rat in der Antwort den Rekurs schon deshalb
als unbegründet bezeichnet, weil die sozialdemokratische Fraktion durch
ihr eigenes Verschulden in der Justizkommission nicht vertreten sei,
so kann dem schon deshalb nicht beigestimmt werden, weil nicht durch
die Demission des ursprünglich zum Mitgliede der Justizkotnmission
gewählten Grossvats Scherz, sondern durch den Ausgang der Ersatzwahl
der von den Refererenten als verfassungswidrig bezeichnete Zustand
herbeigeführt wurde. Uberdies hat der Grosse Rat selbst die Notwendigkeit,
eine Ersatzwahl vorzunehmen, herbeiführen helfen dadurch, dass er die
Demission von Grossrat Scherz annahm, was in seinem Belieben stand, wenn
es richtig ist, wie in der Vernehmlassung behauptet wird, dass Grossrat
Scherz nach Vorschrift des Reglements die Wahl in die Justizkommisston
gar nicht ablehnen durfte.

5. Anderseits ist von vornherein klar, dass die Prätention, dass bei
den Kommissionswahlen auch die von den Minderheiten vorgeschlagenen
Personen gewählt werden müssen, jedenfalls über dasjenige hinausgeht, was
denselben die Verfassung zusichert. Wahlbehörde ist der Grosse Rat. Dass
dieser bei der Berücksichtigung der Minderheiten an die Vorschläge
der letztern gebunden sei, müsste ausdrücklich festgestellt sein oder
aus der Organisation des Wahlverfahrens sich ergeben, was hier nicht
zutrifft. Übrigens wird ein solcher Anspruch im Rekurs, wenigstens direkt,
nicht erhoben. Nicht, dass der von der sozialdemokratischen Fraktion
vorgeschlagene Grossrat Z'graggen nicht gewählt, sondern dass die letzte,
freie Stelle der Justizkommission durch ein nicht der sozialdemokratischen
Fraktion angehörendes Mitglied des Grossen Rates besetzt worden sei,
bildet das tatsächliche Fundament der Beschwerde.Il. Anderweitîge
Eingriffe in garantierte Rechte. N° 10. 53

6. Ob nun hiedurch der Grosse Rat sich über die Verfassung hinweggesetzt
habe, hängt von der Auslegung der Vorschrift ad, dass bei der Bestellung
der Kommissionen aus Vertretung der Minderheiten angemessene Rücksicht
zu nehmen sei. Die Rekurrenten meinen, damit sei den Minderheiten
eine Vertretung in jeder Kommission verfassungsmässig gewährleistet,
so dass in das Ermessen der Wahlbehörde nur die Verfügung über die
Stärke der Vertretung und die Persönlichkeiten der Vertreter falle. Der
Grosse Rat dagegen glaubt, der Verfassung sei Genüge geleistet,
wenn in allen Kommissionen (und im Bureau) zusammengenommen, die
Minderheiten ihrer Stärke entsprechend vertreten seien, im übrigen
falle ihm, als Wahlbehörde, die Bestimmung darüber anheim, in welcher
Weise die Vertretung zu gewähren sei. Bei der Frage, ob eine kantonale
Verfassungsvorschrift verletzt sei, pflegt nun das Bundesgericht nicht
ohne triftige Gründe von der Auslegung abzugehen, die die oberste, mit der
Anwendung der Verfassung betraute kantonale Behörde derselben gegeben hat,
namentlich deshalb nicht, weil die kantonalen Behörden den Zusammenhang
des gesamten Verfassungsrechts und die geschichtliche Entwicklung
einzelner Vorschriften in der Regel besser wahrzunehmen in der Lage
sind, als sdas Bundesgericht. Dieses greift deshalb nur da ein, wo die
kantonalbehördliche Auslegung als eine-augenscheinlich unrichtige, mit dem
Wortlaut, oder mit dem Sinn und Geist einer Vorschrift nicht vereinbare
sich darstellt (vergl. Ath Samml. der bundesgerichtl. Entscheide, Bd. XXV,
CL. T., S. 471).

7. Ob nun freilich, wie der Grosse Rat nach der Vernehmlassung
meint, damit, dass in allen Kommissionen und im Bureau der Behörde
zusammengerechnet eine der Stärke einer Minderheit entsprechende Anzahl
von Vertretern sitzt, der in Frage stehenden Verfassungsvorschrift Genüge
geleistet sei, und ob deshalb vorliegend mit der blossen Feststellung,
dass die sozialdemokratische Frattion, trotzdem sie nur den fünfzehnten
Teil des Grossen Rates ausmacht, doch über einen Achtel der Sitze im
Bureau und in den Kommissionen inne hat, ihr Anspruch auf einen Sitz
in der Justizkommission beseitigt sei, erscheint als zweifelhaft. Die
Verfassung spricht von einer angemessenen Rücksichtnahme; sie stellt

54 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. III. Abschnitt,
Kantonsverfassungeu.

also nicht den nur das zahlenmässige Stärkenverhältnis berücksichtigenden
Grundsatz der proportionalen Vertretung auf, sondern geht insofern weiter,
als neben der Zahl auch andere Faktoren sür den Anspruch der Minderheiten
aus Vertretung in Betracht zu ziehen find. So könnte denn unter Umständen
auch die Art der Verteilung der Minderheitsvertreter aus das Bureau
und die verschiedenen Kommissionen,selbst wenn die Gesamtzahl der Stärke
entsprechen würde, als unangemessen erscheinen. Dagegen ist anderseits dem
Grossen Rate insoweit beizutreten, als er davon ausgeht, die Verfassung
verlange nicht, dass die Minderheiten in jeder Kommission vertreten
seien. Die Rekurrenten postulieren damit mehr, als ihnen selbst der
Grundsatz der proportionalen Minoritäten-Vertretung garantieren würde. Nun
verlangt aber die Verfassung bloss eine angemessene Berücksichtigung der
Minderheitenz und aus dieser Bestimmung kann der Anspruch der Rekurrenten
vollends nicht hergeleitet werden. Schon der Wortlaut zeigt, dass den
Minderheiten nicht von vornherein fest umschriebene Rechte eingeräumt
werden wollten, sondern nur ein nach der Gesamtheit der jeweiligen
Umstände sich bestimmender Anspruch auf Berücksichtigung Sie sollen von
den Stellen im Bureau und den damit verbundenen Vesugnissen und Ehren,
sowie von der besonderen vorbereitenden und kontrollierenden Tätigkeit der
Kommissionen nicht ausgeschlossen, sondern dazu beigezogen werden. Dabei
ist aber dem Ermessen der Wahlbehörde, deren Freiheit nur durch die
materielle Vorschrift und durch keine den Anspruch der Minderheiten
näher umschreibende oder sichernde formale Bestimmungen beschränkt
ist, ein bedeutender Spielraum gelassen, und es steht durchaus nichts
entgegen, dass sie bei der Frage, ob einer Minderheit in einer bestimmten
Kommission eine Vertretung gewährt werden solle, auch in Betracht zieht,
ob und wie dieselbe in den verschiedenen anderen Kommissioneu vertreten
ist. Abgesehen von allgemeinen Erwägungen, die sich aus der Entwicklung
des Gedankens der Minoritätenvertremng, auf den die Bestimmung in Art. 26
Ziff. 19 der bernischen Kantonsverfassung ja wohl zurückzuführen ist,
sowie aus dem Gang gewinnen liessen, den die Anerkennung desselben im
positiven Staatsrecht genommen hatf spricht für eine solche Auslegung
einIl. Anderweitige Eingriffe in garantierte Rechte. N° 10. 55

Besonderer-, entstehnngsgeschichtlicher Grund: Bei den Verhandäungen
des Grossen Rates über die Verfassungsrevision von 1893, erste Beratung,
wurde ein Antrag auf Emfuhrung der Proportionalvertretung für die Wahlen
in den Grossen Rat abzgelehnt Dagegen war schon im Entwurf vorgesehen,
dass bei den Wahlen in den Regierungsrat auf die Minderheit angemessene
Rücksicht zu nehmen sei. Dieser Bestimmung gegenüber wurde eingewendetz
sie öffne der Willkür Tür und Tor, man solle sur die Minderheit statt
angemessene Rücksicht verhältnismassige Ver-f tretung einführen. Dieser
Antrag drang jedoch nicht durch Bei der zweiten Beratung schlug-dann
die Versassungskommission eine Entsprechende Bestimmung als Zusatz
zu Art. 26 Ziff. lsvbetreF send die Bestellung des Bureaus und
der ständigen Kommissionen mr, und zwar in der nämlichen Fassung;
im Rate wurde dieser Vorschlag nicht angefochten, sondern es wurde
der Kommissionsantrag lediglich auf alle Kommissionen ausgedehnt
(vergl. TagMatt des Grossen Rates von 1893, S. 38 und 189). Auch hieraus
geht deutlich hervor, dass man nicht den Minderheiten seine Vertretung
im Bureau und in allen Kommissionen gewahrleisten, sondern lediglich das
freie Wahlrecht des Grossen Rates insofern beschränken wollte, als ihm
vorgeschrieben wurde, dabei auf die Minderheiten angemessene Rücksicht zu
nehmen. Demnach erschiene denn die Übergehung einer Minderheit m einer
einzelnen Kommission nur dann als verfassungswidrig, wenn sie unter
Berücksichtigung quer Verhältnisse wozu auchv der Stand ihrer Vertretung
in den übrigen Kommissionen gehort, als ein ungerechtfertigter, auf
die Unterdrückung des Ansprüche-s aus·Teilnahme an der Geschäftsleitung
und der Kommissionaltattgkeit gerichteter Akt sich darstellen sollte. _
si . · _

8. Dass der Grosse Rat seine verfassungsmässige Pflicht, die Minderheiten
angemessen zu berücksichtigen, wenn sie so aufgefasst wird, verletzt
habe, behaupten nun die Rekurrenten selbst nicht. Zn der Tat kann nach
dem vorhandenen Tatsachenmaterial nicht gesagt werden dass der Grosse Rat
die Schranke, die die Verfassung seinem Wahlrecht setzt, im vorliegenden
Falle durchbrechen habe, wenn er bei der Bestellung der Justizkommission
der sozialdemokratischen Fraktion eine Vertretung nicht einraumte. Mathe-

56 A. Staatsrechtliche
Entscheidungen. Ill. Abschnitt. Kantonsverfassungen.

matisch genommen, war die Fraktion im Bureau und den übrigen
Kommissionen bereits in einem über ihre Stärke hinausgehenden Verhältnis
verie-eten. Dass aber, und warum, auch für die Justizkommission eine
Vertretung so dringend geboten war, dass die Verweigerung derselben als
eine Überschreitung des dem Grossen Rate zustehenden freien Ermessens
sich darstellen würde, ist nicht behauptet und nicht einzusehen. Demnach
hat das Bundesgericht

erkannt: Der Rekurs wird als unbegründet abgewiesen.

11. Urteil vom 29. Januar 1903 in Sachen Elektrizitiitswerke Wynau gegen
Regierungsrat Bern,

Auslegnng einer Konzession für ein Eäektrézitäéswerk durch den
Regierungsrat. Versetzung mieArt. 23 an. a des bernischen Gesetzes
über das Verfahren in Streitigkeiten über öfi'entlicke Leistungen,
vom 20. Meir-z 1854; Verletzung des Verfassungsgrundsatzes, dass
m'emand seinem ordenffichen Richter entzogen werden dürfe (Art. 75
bem. Kant.Verf.). Uebergrifi ,in das Gebiet der richterlichen

si Gewalt. Art. 10 enti-

A. Durch Konzeffionsakt vom 30. Oktober 1891/11. November 1893 erteilte
der Regierungsrat des Kantons Bern dem Fabrikanten Müller-Landsmann
in Lotzwyl die Bewilligung zur Anlage eines (den vorgelegten Plänen
entsprechenden) Wasserwerkss an der Aare in den Schrämmen bei Wynau. Diese
Bewilligung wurde n. a. an folgende Bedingung geknüpft:

. . . . 18. Von den durch die Wasserwerkanlage gewonnenen -Kräften hat
der Konzessiouär an die beteiligten umliegenden bernischen Gemeinden
zu öffentlichen Zwecken mindestens 600 Pferdesiärken, an der Turbine
gemessen, zum Selbstkostenpreis abzugeben Sollten sich die Parteien über
die Höhe des Selbstkoftenpreises einer Pferdekraft nicht einigen können,
so entscheidet darüber· endgültig der Regierungsrat. Machen die Gemeinden,
oder an ihrer Stelle der Staat, von dieser Befug-H. Anderweitige Eingriffe
in garantierte Rechte. N° 11. 57

nis innert zehn Jahren nach Erstellung der Anlage keinen Gebrauck),
so fällt dieselbe dahin

Das Wasserwerk wurde von der heutigen Rekurrentin, Aktiengesellschaft
Elektrizitätswerke Wynau, als Rechtsnachfolger-in des Konzessionärs,
erstellt und in Betrieb gesetzt. Nun erhoben sich wegen der praktischen
Durchführung der vorerwähnten Konzessionsbestimmung Differenzen zwischen
der Rekurrentin und den interessierten Gemeinden. In deren Folge
setzte der Regierungsrat durch Beschluss vom 19. Januar 1901, gemäss
der ihm ausdrücklich vorbehaltenen Kompetenz, den Selbstkostenpreis
der Pferdekraft auf 100 Fr. fest; sodann stellten die Gemeinden Wyman,
Aarwangen, Schwarzhäusern und Bannwyl mit Eingabe vom 27. April 1901 an
den Regierungsrat das Gesuch, er möchte den Begriff öffentliche Zwecke
in der streitigen Konzessionsklausel näher interpretieren, eventuell
die Rekurrentin pflichtig erklären, die reservierten 600 Pferdekräfte
um den festgesetzten Preis zu den dem öffentlichen Wohl der Gemeinden
und ihrer Bewohner dienenden Zwecken abzugeben, wobei selbstredend die
Abgabe elektrischer Energie für Lichtund Krafterzeugung an und durch
die Gemeinden für die sogenannte Privatbeleuchtung, sowie für die in den
Gemeinden bereits bestehenden oder neu entstehenden Industrien inbegriffen
sein solle, da auch nur mit beten Mitwirkung die Strassenbeleuchtung
und die Beleuchtung öffentlicher Gebäude in den Gemeinden ermöglicht
werden kònnen.

Die Rekurrentin, welcher dieses Gesuch zur Vernehmlassung zugestellt
wurde, bestritt vorab die Kompetenz des Regierungsrates, die in Frage
stehende Bestimmung der Konzession rechtsverbindlich zu interpretieren,
da er dabei, zufolge des rechtlichen Charakters der Konzession als eines
zweiseitigen Vertrages, als Richter in eigener Sache funktionieren und
den Grundsatz der Gewaltentrennung verletzen würde; edentuell wies sie die
von den Gemeinden angestrebte Interpretation als unzutreffend zurück. In
einer weiteren Eingabe vom Juni 1902 präzisierten die genannten Gemeinden
ihren Rechtsstandpunkt nochmals dahin, dass sie berechtigt seien, über
die reservierten 600 Pferdekräfte zu disponieren, wie es ihnen am besten
diene, insbesondere die Energie nicht nur innerhalb des Gemeindebannes,
sondern auch ausserhalb
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 29 I 46
Datum : 28. Januar 1903
Publiziert : 31. Dezember 1903
Quelle : Bundesgericht
Status : 29 I 46
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : 46 A. Staatèrechtliche Entscheidungen. III. Abschnitt. Kantonsverfassungen. Artikel


Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
minderheit • fraktion • verfassung • bundesgericht • besteller • gemeinde • regierungsrat • kantonsverfassung • stelle • weiler • bundesrat • frage • ermessen • entscheid • wahl • meinungsaustausch • charakter • innerhalb • kantonale behörde • wahl
... Alle anzeigen