446 A. Staatsrechdiche Entscheidungen I. Abschnitt. Bundesverfassung.

Pflicht zur Rechtshilfe nicht verweigert werben. Und zwar muss dies
auch dann gelten, wenn nicht der Entscheid in der Hauptsache, sondern
nur der Kostenspruch vollzogen werden soll; denn dieser ist lediglich
ein Bestandteil des Erkenntnisses, der als Arressorium den Charakter und
die rechtlichen Schicksale der Hauptsache teilt (s. Amtl. Samml·, XIV,
S. 412, Erw. 2; XXL S. 371), und für den somit dieselbe Rechtshilfepflicht
wie für den Entscheid in der Hauptsache bestehen muss.

Aus dem Gesagten folgt, dass der angefochtene Entscheid, indem er für
das vom Audienzrichter in Zürich gemäss Art. 85 Schu. K.-Ges. erlassene
Erkenntnis die Rechtsöfsnung verweigert, auf einer zu engen Auslegung des
Art. 81 Abs. 2 beruht und daher als bundesrechtswidrig aufzuheben ist; -

erkannt:

Der Nekurs wird für begründet erklärt und der Entscheid des
Bezirksgerichtspräsidenten von Luzern vorn 29. August 1903 aufgehoben·

V. Staatsrechtliche Streitigkeiten zwischen Kantonen. Difl'èrent-s de
droit public entre cantons.

98. Urteil vom 18. Oktober 1903 in Sachen Kanton Zürich, Kl., gegen
Kanton Bern, Bekl.

Rückerstattung von Armenanterstùtzung._Staamecàtl. Streit-seiten
zwischen Kantonen. Art. 175 21/7. 2 ee. i 77 Org.-Ges. Regelung der
Unterstützungspflicht bei Doppelbürgern: Verteilung auf die verschiedenen
Heimatkantone, oder ausschléessliche Unterséützemgs-pflicht des
Wohnse'tslfflntons? Art. 48, 45 Abs. 3 5 JJ.-V.

Das Bundesgericht hat, da sich ergibt: A. Die in der Stadt Zürich
wohnhafte Familie HängärtuerGotschacl, die daselbst und in Gondiswil
(Kt. Bern) derbürgert ist, musste von der Armenpflege der Stadt Zürich vom
FebruarV. Staatsrechtliche Streitigkeiten zwischen Kantonen; N° 93. 447

1902 bis Mai 1903 unterstützt werden. Da die Armendirektion des Kantons
Bern an diese Kosten nur einen Beitrag von 200 Fr. leisten wollte,
wandte sich der Regierungsrat des Kantons Zürich auf Veranlassung
der Armenpflege der Stadt Zürich an den Regierungsrat des Kantons
Bern mit dem Gesuch um grundsätzliche Regelung der Frage, wie
bei unterstützungsbedürftigen Armen, die gleichzeitig Bürger der
Kantone Bern und Zürich sind, die Unterstützungspslicht zu verteilen
sei. Er wies darauf hin, dass bereits zwischen den Kautonen Appenzell,
St. Gallen, Aargau, Thurgau, Schafshausen, Baselstadt und Zürich eine
Praxis bestehe, wonach bei Doppelbürgern die Unterstützungspslicht auf
beide Staaten, bezw. die betreffenden Gemeinden gleichmässig verteilt
werde, immerhin in der Meinung, dass in jedem einzelnen Fall eine
Verständigung über das Mass der Leistungen und die Behandlung des
Unterstützungsfalles zu erfolgen habe. In Anwendung dieses Verfahrens
sei die Armendirektion Bern anzuweisen, sich an der Unterstützung der
Familie Hängärtner-Gotschall mit der Hälfte zu beteiligen. Dieses Gesuch
wurde von der A mendirektion des Kantons Bern unterm 5. September 1902
dahin beantwortet, dass sie sich zu einer Leistung überhaupt nicht mehr
entschliessen könne und im vorliegenden Fall die Armenpflege der Stadt
Zürich für allein unterstützungspflichttg halte, da die dem Kanton Bern
zugemutete Unterstützungspflicht nirgends gesetzlich normiert sei. Der
Regierungsrat des Kantons Zürich wurde hieraus nochmals beim Regierungsrat
des Kantons Bern vorstellig und erhielt am 31. Oktober 1902 den Bescheid,
dass der Regierungsrat von Berti das Vorgehen der Armendirektion gutheisse
und mit dieser der Ansicht sei, dass die Unterstützungspflicht vorliegend
ausschliesslich dein Kauton bezw. der Stadt Zürich obliege; doch würde
es der Regierungsrat begrüssen, wenn Zürich einen prinzipieclen Entscheid
der zuständigen Bundesbehörde über die Streitsrage erwirke.

B. Mit Rechtsschrist vom 16. Juli 1903 hat der Regierungsrat des Kantons
Zürich beim Bundesgericht das Rechtsbegehren gestellt, es sei die
Direktion des Armenwesens des Kuntz-ns Bern zu verurteilen, die Hälfte
der für die Unterstützung der Familie Hängärtner-Gotschail erlaufenen
Kosten zu übernehmen und der

448 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. ]. Abscnnitt. Bundesverfassung.

Armenpflege der Stadt Zürich 575 Fr. zurückzuerstatten Die Kompetenz
des Bundesgerichts wird aus Art. 175 Biff. 2 Org(Hei. hergeleitet, da
es sich um eine staats-rechtliche Streitigkeit zwischen den Kantonen
Zurich und Berti handle. Inder Begründung wird sodann zugegeben, dass
positive Vorschriften, wonach bei Doppelbürgern der eine Heimatkanton
vom andern Ersatz eines Teils der Unterstützungskosten verlangen kann,
nicht bestehen; allein die vorgeschlagene grundsätzliche Lösung der
Streitfrage entspreche der Billigkeit Und der von verschiedenen Kaumnen
bezw. Gemeinden verschiedener Kantone gegenseitig vorherrschend befolgten
Praxis.

C. Der Regierungsrat des Kantons Bern hat in seiner KlageBeantwortung die
Kompetenz des Bundesgerichts anerkannt und beantragt, das Begehren des
Regierungsrates des Kantons Zürich sei abzuweisen. In der Begründung wird
ausgeführt, dass sich der Kant-on Vern stets auf den Standpunkt gestellt
habe, dass im interkantonalen Verkehr der Wohnsitzkanton die Kosten der
Versorgung armer Schweizerbürger übernehmen müsse, soweit nicht die
Bundesverfassung ausdrücklich den Heimatkanton dazu verpflichte. Aus
diesem Grunde habe er in den allermeisten Fällen darauf verzichtet,
bei Doppelbürgern die Mithilfe des andern Heimatkantons in Anspruch zu
nehmen. Eine gesetzliche Vorschrift könne Zürich zugestandenermasseii für
die Von ihm vorgeschlagene Lösung nicht geltend machen; es könne aber
auch die Billigkeit hiefür nicht angerufen werden, so lange nicht von
allen Kantonen eine einheitliche Praxis befolgt merde. Es wird sodann
auseinandergesetzt, dass der Standpunkt von Bern der zweckmässigere sei
und auch der Entwicklung des interkantonalen Armenrechts im Sinne des
Wohnsitzprinzips entspreche; --

in Erwägung:

1. Obgleich die Kompetenz des Bundesgerichts von beiden Parteien
anerkannt ist, so ist doch von Amtes-wegen zu prüfen, ob die
Voraussetzungen der Zuständigkeit des Gerichtes nach am. 175 Ziff. 2 und
177 Org.-Ges. vorhanden sind. Nun kann vorerst kein Zweifel bestehen,
dass es sich vorliegend um eine Streitigkeit staats-rechtlicher Natur
handelt. Die beiden Kantone

stehen sich in der streitigen Frage nichts als privatrechtliche
Rechts-V. Staatsrechtliche Streitigkeiten zwischen Kantonen. N° 93. 449

subjekte, sondern als Vertreter öffentlicher Interessen gegenüber-:
der dem Anspruch des Klägers zu Grunde liegende Tatbestand ist das
dem öffentlichen Recht angehörende Doppelbürgerrecht der Familie
Hängärtner-Gotschall, und den Rechtsgrund des Anspruchs von Zürich
bildet die aus diesem Verhältnis her-geleitete publizistische Pflicht
des Kantons Bern, an die Kosten der Unterstützung der Familie einen
Beitrag zu leisten (ng. Amis. Samml., Bd. XXIII, S. 1467 Und die dort
eitierten Urteile). Es ist aber auch die zweite Voraussetzung gegeben:
auf beiden Seiten ist ein Kanton Partei. Der Regierungsrat von Zürich
klagt nicht etwa bloss als Vertreter der Stadt Zurich, sondern namens
des Kantons. Er betrachtet und behandelt den Anspruch ais Angelegenheit
des Kantons, offenbar von der richtigen Auffassung ausgehend, dass die
Armenpflege mit den allgemeinen Staatsinteressen aufs engste verknüpft
und daher ihrem Wesen nach eine staatliche Aufgabe ist und zwar auch da,
wo die Gemeinden in erster Linie Träger der Fürsorgepflicht sind, und
dass demnach Ansprüche an andere Staaten, die sich aus der Erfüllung
dieser ihrem Wesen nach staatlichen Pflicht ergeben, von Kantonswegen
geltend zu machen find.

2. Der Anspruch, den Zürich gegen Bern erhebt, hat dieExistenz einer
bundesrechtlichen Norm zur Voraussetzung, nach welcher bei Doppelbürgern,
die von einem Heimatkanton, der zugleich Wohnsitzkanton ist, unterstützt
werden, der andere Heimatkanton einen Teil der Kosten zu tragen hat. Ein
solcher Rechtssatz besteht nun aber nicht, wie das Bundesgericht bereits
im Falle Appenzell-Ausserrhoden gegen Genf (Atntl. Samml., Bd. XXIII,
S. 1467 ff.) ausgesprochen hat und wie übrigens der Regierungsrat
von Zürich auch selber zugibt. Abgesehen von Art. 48 B.-B. und dem
in Ausführung dieser Verfassungsvorschrift erlassenen Bundesgesetz
vom 22. Juni 1875 betreffend die Kosten der Verpflegung erkrankter und
der Beerdigung verstorbener armer Angehörigen anderer Kantone, das hier
offenbar nicht zutrifft, hat die Bundesgesetzgebung, und zwar in Art. 45,
Abs. 3 5 B.-V., in das Gebiet der kantonalen Armenpflege und der daraus
sich ergebenden interkantonalen Beziehungen nur insoweit eingegrisfen,
ais es sich um die Sicherstellung der Nieder-

450 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

lassungsfreiheit handelte. Eine Pflicht des Heimatkantons zum Ersatz der
seinen Angehörigen in einem andern Kanten gewährten Armenunterstützung
ist dagegen in der Bundesgesetzgebnng nirgends ausgesprochen; sie
ergibt sich insbesondere nicht aus Art. 45 Abs. 3 B.-V., der die Kantone
nur zum Entzug der Niederlassung berechtigt, falls Heimatgemeinde oder
Heimatkanton eine angemessene Unterstützung trotz amtlicher Aufforderung
nicht gewähren. Jener Rechtssatz ist auch nicht etwa durch die Praxis
der Bundesbehörden, als aus der Natur des Doppelbürgerrechts folgend
(s. den citierten Fall Appenzell A.-Rh. gegen Genf), geschaffen
worden. Ebensowenig kann ein Gewohnheitsrecht in

Frage kommen, wenn auch verschiedene Kantone untereinander ,

das Verfahren einer Teilung der Unterstützungskosten bei Doppelbürgern
von Fall zu Fall befolgen mögen.

Da eine bundesrechtliche Norm, aus die der Anspruch Zürichs gestützt
werden könnte, nach dem Gesagten nicht besteht, muss die Klage abgewiesen
werden, denn es ist flat, dass das Bandes-gereicht staats-rechtliche
Streitigkeiten zwischen Kantonen nur nach positinem Recht und nicht
nach Erwägungen der Billigkeit oder Zweckmässigkeit, wie sie Zürich
hauptsächlich geltend macht, entscheiden kann; --

erkannt:

Die Klage wird abgewiesen-.lll. Auslieferung von Verbrechem und
Augeschuldigîen. N° 94, 451

Zweiter Abschnitt. Seconde section.

Bundesgesetze. Lois fédérales. M I. Heimatlosigkeit. Heimat-losst-

Vergl. Nr. 85.

II. Mass und Gewicht. Mesures et poids.

Berg l. Nr. 100.

III. Auslieferung von Verbrechern und Angeschuldig'ten. Extradition de
criminels et d'accusés.

94. Urteil vom 17. Dezember 1903 in Sachen Droz gegen Bezirksgericht
Zofingen.

_ Zulässigkeit des staatsreclztléchen Rekurses wegen Verietzueeg des Bum-

desgesetzes betr. die Auslieferung mm Kanton zu Knian in jedem Stadium
des Verfahrens. Pflicht der Kantone, die Auslieferung zu

verlangen, wenn es sich, um ein Auslieferungsdelikt Art. 2 l. a. hand-els.
Ist ,der Vertrauensmissbrauch nach aargauischem Zuchtpolizeigeseîz ein
solo-fees ?

A. Im Okober 1902 reichte Jean Moser, Tuchfabrikant in Zosingen,
gegen die heutigen Rekurrenten, die in Bern domizilierten Eheleute
Droz-Bodermann,zunächst in Bern und sodann, nachdem stch der dortige
Untersuchungsrichter örtlich unzuständig er-

xx1x, l. _ 1903 31
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 29 I 446
Datum : 29. August 1903
Publiziert : 31. Dezember 1903
Quelle : Bundesgericht
Status : 29 I 446
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : 446 A. Staatsrechdiche Entscheidungen I. Abschnitt. Bundesverfassung. Pflicht zur


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